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Die Klänge des Walkürenritts erfüllten das Wohnzimmer.

Bereits beim Öffnen der Haustür war den Brüdern die Oper entgegengeschallt. Nichts Besonderes, dass Mutter die Musik aufdrehte. Puccini und Verdi, doch vor allem die dramatischen Werke von Wagner, waren Martha Rosenmüllers Herzschmerzmusik, der sie sich neben dem Alkohol gerne hingab.

Ja, sie gönnte sich häufig ein, zwei Flaschen Rotwein oder Hochprozentiges, das hatte sie schon getan, als ihre Söhne Kinder gewesen waren. Zu oft hatten die beiden damals beobachten müssen, wie sie auf hohen Absätzen, mit den Armen fuchtelnd, über die Perserteppiche torkelte. Lallend und trällernd, schniefend und keifend im Wechsel. Nicht ansprechbar. Früher, als kleine Jungen, hatten sie nicht gewusst, was mit Mutter los war. Es hatte sie verstört.

Als Jugendliche hatte sie die Trinkerei und das Gestammel angewidert.

Als Erwachsene zuckten sie nur noch mit den Schultern, wie sich Mutter bei schwülstiger Musik in Selbstmitleid erging und in ihren glasigen Erinnerungen schwelgte.

Sie wussten, dass sie als junge Frau selbst ein angehender Opernstar gewesen war, ehe Edwin Rosenmüller, der Intendant der Berliner Staatsoper, sie schwängerte ... Das hatte sie ihnen oft genug aufs Brot geschmiert.

„Der alte Zausel mit den Froschaugen!“, so hatte sie den Vater nicht nur einmal genannt.

Aber den wenigsten Menschen war bekannt, dass sie ihn damals verführt hatte, um ihre Stellung in der Berliner Oper zu festigen, die Karriere voranzutreiben. In ihrem Familien - und Bekanntenkreis hieß es anders: Der Intendant hatte seine Stellung ausgenutzt, um die unschuldige Martha ins Bett zu bekommen.

Weil Marthas Eltern erzkonservativ gewesen waren, hatte sie den zwanzig Jahre älteren - zumindest wohlhabenden - Edwin heiraten müssen und war in dessen Villa gezogen.

Von da an hieß es Windeln wechseln und Fläschchen geben, sich dem Haushalt und der Erziehung des ersten, kurz darauf auch des zweiten Sohnes zu widmen, statt in den Olymp der angesagten Sopranistinnen aufzusteigen. Das hatte sie weder Edwin noch den Söhnen je verziehen.

„Mein größter Fehler!“, lautete eine ihrer Lieblingsphrasen.

Aus ihrer Sicht hatte der verhasste Gatte zumindest den Anstand besessen, die Ehebühne nach nur fünf Jahren zu verlassen, ein Schlaganfall zwang ihn abzutreten.

Aufgrund ihrer Verehrung für Richard Wagner hatte sie die Söhne nach Figuren aus dessen Opern benannt. (Was sie ihr beide nachtrugen ... wer wollte als Kind und junger Mann schon Tristan oder Siegfried heißen? Nur die Namen Alberich, Wotan oder Parsifal wären noch schlimmer gewesen ...)

Tristan stellte endlich die Stereoanlage aus. Stille legte sich über den Raum. Die Brüder blickten die Mutter an. Aber nicht auf dem lebensgroßen Ölgemälde von ihr, das über dem Kamin hing.

Nein, sie schauten auf sie hinab, wie sie in einem königsblauen Seidenkleid ausgestreckt auf dem Teppich lag. Bleich wie ein toter Fisch.

Ja, sie war eindeutig tot. Und Fisch stellte in diesem Fall wirklich einen passenden Vergleich dar, denn Wasser war - außer bei Getränken - immer ihr Element gewesen. Kurz nach der Hochzeit hatte sie einen beheizten Pool auf dem Grundstück bauen lassen.

Und das, was sie Mutterliebe nannte, waren für ihre Söhne vielmehr die sie umschlingenden Tentakel einer ewig vorwurfsvollen, Anbetung fordernden Krake gewesen. Sie hatten sie als kühl und unnahbar wie die Tiefsee empfunden ...

Im Wohnzimmer blubberte ein großes Aquarium vor sich hin, dessen kaltblütige Bewohner vor sich hin wedelten, keinen Blick für die dahingeschiedene Hausherrin auf dem Boden übrig hatten.

„Mutter muss weg!“, stellte Tristan nach einigen Sekunden des Schweigens in nüchternem Tonfall fest.

Siegfried starrte ihn an.

„Na ja, zumindest vorübergehend“, fügte Tristan hinzu.

„Guck nicht so“, fuhr er fort, da sein Bruder ihn weiter entgeistert anschaute, sehr blass im Gesicht.

„Seit ich denken kann, hat sie es immer wieder geschafft, mir jeden besonderen Tag kaputtzumachen. Erinnerst du dich an meinen vierten Geburtstag?“

Siegfried zog die Stirn kraus, denn da er zwei Jahre jünger als Tristan war, konnte er sich nicht daran entsinnen.

„Sie hatte sich die Finger an der Klappe des Barschranks geklemmt. Statt mit Geschenken und Kuchen Geburtstag zu feiern, verbrachte ich den Tag mit der Jammernden in der Notaufnahme. Oder meine Einschulung ...“ Er verzog den Mund.

Siegfried schaute nun interessierter, an diesen Tag hatte er zumindest vage Erinnerungen.

„Da hatte sie eine Kontaktlinse vor der Schule verloren“, erklärte Tristan. „Während die ganze Familie draußen nach dem Scheißding suchte, schickte sie mich allein in die Aula. Ich wurde von meiner Klassenlehrerin aufgerufen und musste ohne stolz grinsendes Elternteil an der Hand nach vorne gehen. Nach der ersten Schulstunde erhielt ich als einziger keine Schultüte. Mutter hatte sie irgendwo liegengelassen, als sie nach der verdammten Linse Ausschau hielt. Vom Fiasko der Konfirmation möchte ich gar nicht anfangen.“

Brauchte er auch gar nicht, denn an diese erinnerte sich Siegfried bestens. Mutter hatte in der Kirche einen Schwächeanfall erlitten, kreislaufbedingt, wie sie später allen berichtete. Zumindest glaubten es die Leute, die nicht ihre Alkoholfahne gerochen hatten.

Sie wurde mit einem Rettungstransport ins Krankenhaus gebracht. Die ganze Festgesellschaft sorgte sich um Martha Rosenmüller, während Tristan in seinem Anzug, vor Scham rot angelaufen, am Altar stand, da ihn der Pastor gerade hatte segnen wollen, als Mutter dramatisch zusammengebrochen war.

„Heute ist mein dreißigster Geburtstag“, unterbrach Tristan die Gedanken seines Bruders. „Seit ich denken kann, verdirbt sie mir, nein, uns beiden - du könntest selbst genug berichten! -  jedes besondere Ereignis!“

„Oh ja“, stimmte Siegfried zu, denn ihm zog ein eigenes unangenehmes Erlebnis durch den Kopf, das er ihrer Mutter zu verdanken hatte ...

Wie glücklich und aufgeregt war er in dieser einen Samstagnacht mit siebzehn Jahren gewesen, als er es geschafft hatte, die wunderschöne Michelle Müller für sich zu interessieren. Sie hatte ihn nach der Party sogar nach Hause begleitet. Leise kichernd waren sie in seinem Zimmer verschwunden.

Auf dem Bett hatten sie im Dunkeln geknutscht, als Mutter hereinplatzte und das Deckenlicht anschaltete. Im federbesetzten Hausmantel mit einem Turban auf dem Kopf hatte sie wie ein grotesker Racheengel von kleinen Nutten schwadroniert, die ihren Söhnen den Samen stehlen und sich heiraten lassen wollten, um sich ins gemachte Nest zu setzen ...

Gott, das war zutiefst entwürdigend gewesen. Nicht nur, dass Michelle nach Mutters Auftritt sofort das Weite suchte und ihm von da an nur noch verachtende Blicke zuwarf, schlimmer noch, die Schulschönheit war sich nicht zu schade gewesen, diese hochnotpeinliche Eskapade überall herum zu erzählen ... Und bei seiner Zeugnisverleihung zum bestandenen Abitur hatte sich Mutter ebenfalls daneben benommen ...

„Und jetzt stirbt sie einfach!“, riss Tristan seinen Bruder aus der Vergangenheit. „Sie hätte an jedem anderen Tag abkratzen können, aber es muss ausgerechnet an meinem Geburtstag sein. Das hat sie extra gemacht!“ Sein Gesicht wurde rot vor Zorn.

„Sie ist wahrscheinlich an einem Herzanfall gestorben“, hielt Siegfried entgegen, „den kann sie nicht absichtlich herbeiführen. Du weißt, dass sie herzkrank war“.

„Eben! Bestimmt hat sie absichtlich ihre Tabletten nicht genommen, da sie mir nicht gönnt, im Mittelpunkt zu stehen. Nur ein einziges Mal einen großen Tag zu haben. Vielleicht war es auch die finale Alkoholvergiftung. Keine Ahnung!“

Er hielt kurz inne. „Eigentlich hatte sie versprochen, das Wochenende auf dieser Schönheitsfarm im Allgäu zu verbringen. Hätte mich gleich misstrauisch machen müssen, wie rasch sie einlenkte. Die hatte gar nicht vor, hier das Feld zu räumen, typisch!"

Tristans Kiefer verkrampfte sich und er ballte die Hände zu Fäusten, als ihm das gewahr wurde.

In seiner Zweizimmerwohnung war nicht genug Platz für eine große Party, daher hatte er schon vor Wochen Mutter gefragt, ob er ihr Haus nutzen könne.
Und sie hatte nach einigem Hin und Her eingewilligt, unter der Voraussetzung, dass ihr Schlafzimmer tabu sei, dass auch im Gästezimmer sowie im Rest des Hauses keine „unziemlichen“ Dinge geschahen, wie sie diese nannte.

Für sie war vieles „nicht ziemlich“ gewesen, dachte Tristan. Sogar, dass er im Sandkasten seine damals fünfjährige Freundin Marie auf die Wange geküsst hatte ... Was hatte Mutter da für ein Theater veranstaltet ...

„Sie hätte mir genüsslich meine Party vermiest ... von daher kann man es als ihr Geburtstagsgeschenk an mich bezeichnen, dass sie vorher gestorben ist. Und jetzt muss sie weg.“

Siegfried presste die Lippen zusammen. Er fand das nicht richtig, muckte aber nicht auf. Tristan bestimmte immer was zu tun war, schließlich war er der Ältere.

„Und wie willst du das anstellen?“, fragte er. „Ich meine, wir können doch nicht einfach eine Leiche verschwinden lassen.“

„Nicht verschwinden lassen. Sie wird nur vorübergehend untertauchen. Ich hab' da schon eine Idee.“

Tristan verließ das Wohnzimmer und Siegfried stand allein mit der Toten, was sein Unbehagen verstärkte. Dennoch musste er sie immer wieder anschauen, obgleich er nicht wollte. Er musterte den rotgeschminkten Mund, die erschlafften Züge, denen nun die Härte fehlte, das rauchblaue, perfekt ondulierte Haar. Sie hatte immer viel Wert auf ihr Äußeres gelegt.

Etwas wie Trauer regte sich in ihm. Obwohl sie alles andere als eine gute Mutter gewesen war. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Siegfried realisierte, woher die Traurigkeit rührte: Sie hatte ihn nicht geliebt.

Ja, sie hatte Mutterliebe großartig vorspielen können, wenn andere zugegen waren. Hatte nicht nur Fremde, sondern auch die Verwandten und Bekannten getäuscht und manipuliert, sich als die aufopfernde, tragische Heldin ihrer eigenen Seifenoper dargestellt. Doch in Wahrheit hatte sie Tristan und ihm nie Zuneigung oder Fürsorge entgegengebracht, nein, sie waren nur das Ende ihrer Karriere und Klötze an ihren Beinen gewesen ...

Er schreckte aus den düsteren Grübeleien auf, als sein Bruder mit einem Beil zurückkehrte.

„Mann, du willst doch wohl nicht ...?“ Siegfried hob die Hände, stellte sich vor die Leiche.

„Keine Sorge, ich werde sie nicht zerhacken und in die Kühltruhe legen.“

Siegfried wich einen Schritt zurück, war jedoch nicht vollends überzeugt.

„Mit dem Beil öffnen wir die Kellertür.“

Niemand hatte seit Jahren den Keller betreten. Die Tür war mit einem großen Vorhängeschloss gesichert, dessen Schlüssel schon vor langer Zeit verlorengegangen war. Mutter war es egal gewesen, dort unten wurde von jeher nur alter Kram gelagert, nichts, was sie interessierte.

„Wir bringen sie runter, dort ist es kühl. Da kann sie die Nacht verschlafen und morgen holen wir sie wieder hoch und tun so, als hätten wir sie gerade erst entdeckt.“

„Mutter schläft nicht, sie ist tot!“, erwiderte Siegfried mit Nachdruck, aber Tristan war bereits auf dem Weg zur Kellertür. Somit folgte er ihm.

Das Schloss war mit zwei Schlägen aufgebrochen. Nacheinander schritten sie die knarrenden Holzstufen in die dunkle Kühle hinab, bahnten sich einen Weg durch die Spinnweben. Es muffte leicht nach Moder und Staub.

„Hier legen wir sie hinein.“ Tristan wies mit dem Beil auf eine alte Kühltruhe, die in der Ecke stand.

„Also doch die Kühltruhe“, murmelte Siegfried.

Der schlimmste Teil des Transports war das Berühren des toten Körpers. Es kostete Siegfried wesentlich mehr Überwindung als seinen Bruder, der die Mutter unter den Achseln fasste. Siegfried sträubte sich, sodass Tristan ihn mehrmals auffordern musste, bis er sie endlich an den Unterschenkeln anhob.

Mit einiger Anstrengung gelang es den beiden jungen Männern, die Tote die enge Kellertreppe hinunterzuschleppen. Mutter hatte für ihr Leben gern fette Speisen, Sahnetorten und Pralinen verspeist. Ihr Übergewicht aber stets auf die kranke Schilddrüse geschoben. Wie hatte sie im Kreise der Verwandten immer moralinsauer gegen fettreiche Ernährung gepredigt und ein Eis oder Torte mit Schlagsahne so entsetzt abgelehnt, als hätte man ihr Drogen angeboten. Aber heimlich - oder wenn nur die Söhne anwesend waren - hatte sie sich damit vollgestopft.

Tristan stolperte, ihm glitt der Oberkörper aus den Händen, sodass Mutters Kopf auf die unterste Treppenstufe aufschlug.

„Pass doch auf“, empörte sich Siegfried, „du tust ihr doch weh!“

 „Wie du eben richtig festgestellt hast: Mutter - ist - tot!“

Nach einigem Ziehen und Zerren hievten die Brüder sie in die Truhe und schlossen den Deckel.

„So, geschafft“, sagte Tristan, „jetzt kann die Party steigen.“

Den Rest des Tages verbrachten die beiden mit den Vorbereitungen für die Feier, unter anderem dem Einkauf von Getränken, vor allem Spirituosen, mit denen sie Mutters Hausbar aufstockten.

Denn auf die Verdünnung in Form von Cola und anderen Softdrinks verzichteten die meisten Freunde und Bekannten erfahrungsgemäß oder kippten sie nur ins Glas, um das Getränk zu färben.

Die Räumlichkeiten oberhalb des Kellers wurden geschmückt, das Handy zum Musikabspielen an die Boxen im Wohnzimmer angeschlossen.

Am frühen Abend waren sie fertig.

Jetzt hatten die Brüder noch etwas Zeit, bevor die ersten Gäste gegen 20 Uhr eintrudelten.

Sie mixten sich jeder einen Drink und setzten sich auf die Couch, um sich von der Arbeit zu erholen, als das Klingeln des Telefons sie aufschrecken ließ.

Mutter hatte zu Weihnachten ein modernes Bildgerät bekommen, einfach zu bedienen.

Die Brüder hatten es ihr geschenkt, damit sie ihre Schwestern - Maria in Göttingen und Elisabeth in Cottbus - zumindest virtuell regelmäßig kontaktieren konnte.

Letztere war es, die gerade anrief. Sie warteten, bis das Läuten endete. Doch kurz darauf begann es erneut. Die Tante war hartnäckig, würde wahrscheinlich wieder und wieder versuchen, die Schwester zu erreichen. Tristan gab einen entnervten Laut von sich, dann nahm er das Gespräch an.

„Guten Abend, Tante Elisabeth“, begrüßte er sie und lächelte in die Kamera.

„Oh, hallo, mein Junge, mit dir habe ich ja gar nicht gerechnet!“

„Ich habe heute Geburtstag und ein wenig mit Mutter gefeiert“, log Tristan.

Elisabeth gratulierte ihm, gefolgt von den Worten: „Und jetzt möchte ich mit Martha sprechen.“

Siegfried, der außerhalb des Kamera-Radius stand, riss die Augen auf. Tristan stöhnte innerlich, doch er wusste, dass er die alte Frau nicht abwimmeln konnte, das war ihm nie gelungen. Sie war genauso stur wie ihre Schwester, wenn auch auf andere Art. Er konnte schlecht behaupten, Mutter sei auf der Schönheitsfarm in Bayern, denn da war sie nicht.

Aber wenn die Tante vom Tod der Schwester erfuhr, würde sie es sofort der ganzen Familie weitererzählen und die Sippe stünde noch am selben Abend in Trauerkleidung und Trübsal blasend auf der Matte. „Dann hätte Mutter es doch noch geschafft, mir meinen Geburtstag zu verderben“, dachte Tristan verbittert.

„Sie hat sich hingelegt und schläft. Sie war etwas erschöpft heute.“

Die Ausrede konterte die Tante mit einem „Dann weck sie!“, das keinen Widerspruch duldete.

Die Entschuldigung, Mutter fühlte sich zu unwohl, zog Tristan erst gar nicht in Erwägung. Auch in diesem Fall würde sich Tante Elisabeth entweder ins Auto setzen und in Kürze zum Genesungsbesuch antreten oder eine von Mutters Nachbarinnen aktivieren, sich um die Erkrankte zu kümmern.

„Ich wecke sie und sie ruft dich gleich zurück, ja?“, sagte er deshalb. Siegfrieds Augen wurden wieder rund, zum wiederholten Mal starrte er den Bruder fassungslos an.

Bist du verrückt?, formten seine Lippen.

„Also, bis gleich“, beendete Tristan das Gespräch und legte den Hörer auf.

„Komm mit.“ Er schleifte seinen Bruder hinter sich her in Richtung Kellertür.

„Was hast du vor?“, fragte der.

„Wir richten Mutter ein wenig her, das klappt schon. Dann hat sie ihren letzten Auftritt. Ausnahmsweise mal einen in unserem Interesse."

„Du willst doch nicht wirklich ... “, setzte Siegfried an. 

„Los jetzt!", unterbrach ihn Tristan. „Sei keine Memme, fass mit an.“ Und wie immer folgte der Bruder seiner Anweisung.

Gemeinsam wuchteten sie Mutter wieder aus der Truhe und die Kellertreppe hinauf. Im Wohnzimmer rückten sie ihren Lieblingssessel vor das Bildtelefon und setzten sie hinein. Tristan ordnete ihr durcheinandergebrachtes Haar, schaffte es sogar, durch etwas Ziehen und Drücken am Gesicht eine Art Lächeln hinzubekommen. Zwar schief, aber entfernt erinnerte es daran.

Tristan wählte Elisabeths Nummer, die das Gespräch sofort annahm. Gerade, als er das Bildtelefon umdrehen wollte, damit seine Tante die Schwester sehen konnte, kippte Mutter langsam und lautlos aus dem Sessel, schlug mit einem dumpfen Knall erst auf dem Tischchen, dann auf dem Boden auf. Siegfried unterdrückte einen Aufschrei.

Elisabeth war irritiert über das Hin- und Herdrehen des Bildschirms. „Was ist denn da los?“, wollte sie wissen, während Siegfried die Mutter wieder aufsetzte. Zum Glück waren durch den Aufprall keine sichtbaren Blessuren entstanden.

„Mutter macht sich rasch einen Kaffee, sie ist noch müde, will aber gleich mit dir sprechen“, beruhigte Tristan die Tante.

Siegfried holte rasch ein Tuch und eine Sonnenbrille, drapierte diese auf der Leiche. Tristan verstellte währenddessen die Einstellungen der Kamera, sodass es der Tante nicht möglich sein würde, die Schwester deutlich zu erkennen. Endlich schob er das Telefon herum und die mittlerweile ungeduldige Elisabeth musterte Mutter.

„Sie ist heute etwas lichtempfindlich, eine leichte Erkältung, nicht schlimm“, versuchte Tristan die Brille und den Schal zu erklären. „Und sie ist ein wenig heiser.“

Die Tante schaute zunächst misstrauisch, bis Siegfried sie geistesgegenwärtig mit verstellter Flüsterstimme begrüßte. „Hallo, meine Liebe, schön, dass du anrufst.“
Sein Bruder zeigte ihm anerkennend den Daumen, denn Elisabeth kaufte die Nummer ab.

„Martha, Martha, du hörst dich ja gar nicht gut an!“, sagte sie, ehe sie der Schwester von ihren Erlebnissen der letzten Woche berichtete (zwei Liebschaften und eine schmutzige Trennung).

Sie freute sich offensichtlich, dass sie endlich einmal in Ruhe und genüsslich erzählen durfte, ohne ständig von ihrer älteren, etwas dominanten Schwester unterbrochen oder verbessert zu werden. Siegfried warf mit hoher Stimme nur ein „Ist das wahr!“ und brummte mehrere bestätigende „mmh“.

Nach einer Viertelstunde musste das Telefonat beendet werden, denn jeden Augenblick konnten die ersten Gäste eintreffen. Siegfried krächzte: „Muss mich wieder hinlegen. Bis bald, meine Liebe“ aus dem Off, bevor Tristan die Verbindung trennte.

„Wow! Du hättest Schauspieler oder Synchronsprecher werden sollen! Gut gemacht!“, lobte er und klopfte dem Bruder auf die Schulter, was Siegfried sichtlich freute.

Sie hoben die Hände und klatschten sich ab, ehe sie zum zweiten Mal ihre Mutter die Kellertreppe hinuntertrugen.

Es klingelte genau in dem Moment an der Tür, als die Klappe der Kühltruhe zuschlug.


Tristan verbrachte einen lustigen Abend mit den Freunden und Bekannten. Zum ersten Mal in seinem Leben stand er im Mittelpunkt. Und fühlte sich irgendwie befreit.

Siegfried hatte erst Mühe, das zuvor Erlebte auszublenden, die Feier zu genießen. Doch nach dem vierten Mixgetränk konnte er sich endlich entspannen, die ausgelassene Stimmung der Partygesellschaft war ansteckend. Er tanzte und hatte wirklich Spaß.

Irgendwann stand Tristan am Kamin, einen Ellenbogen auf den Sims gestützt, und nippte an einem Drink. Die Bässe wummerten, die Feier war ein voller Erfolg und ein zufriedenes Lächeln umspielte seinen Mund, als er Siegfried und die anderen Tänzer betrachtete. Dann wandte er sich um und prostete Mutters Ölbildnis zu.

In Walhalla bist du garantiert nicht, viel eher treibst du jetzt in Helheim bei den Ehrlosen dein Unwesen ... Aber wo auch immer, hier nicht mehr. Uns wirst du nie wieder etwas verderben!

Er hob das Glas an die Lippen und leerte es mit einem Zug.

Es war schon weit nach Mitternacht, als einige der Freunde sich betrunken auf die Suche nach Alkoholnachschub machten.

Siegfried, der gerade zur Toilette torkelte, erstarrte, wurde schlagartig nüchterner, als er sie die Kellertür öffnen sah. Sein "Stopp!" hörten sie nicht, wankten die enge Kellertreppe hinunter.

„Oh Gott!", wimmerte Siegfried, ihm wurde schlecht. Er presste sich die Hand vor den Mund, sein Herz raste. Banges Warten. Er hielt den Atem an, als er sie wieder heraufpoltern hörte.

„Hier! Ham' wir gefunden!", lallte einer und hielt eine Karton mit Wodka in die Höhe.

Den Fusel muss Mutter übersehen haben ...

Erleichterung durchflutete Siegfried und er zeigte wieder Geistesgegenwart, holte von draußen sein Fahrradschloss, um eine weitere Inspektion des Kellers zu unterbinden.

Tristan war sehr stolz auf seinen kleinen Bruder ...

 

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Tag der Veröffentlichung: 31.05.2022

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