Das Licht schwindet, die Dämmerung setzt ein. Die Kerze auf dem Pult ist heruntergebrannt, wird in Kürze verlöschen, ich kann die Lettern auf dem Pergament kaum noch erkennen.
Als der dumpfe Schlag der Bronzeglocke mit dem kühlen Herbstwind zu mir hinaufweht und zum Vesper-Gebet in der Kapelle ruft, lege ich den Federkiel beiseite, verschließe das Tintenfass.
Das Läuten, das unseren Tagesablauf bestimmt, ist ein Geräusch, das ich im Lauf der Jahrzehnte nicht lieben lernte ...
Ich zucke zusammen bei dem sündigen Gedanken, obwohl ich ihn nicht ausgesprochen habe, und selbst wenn er meinem Mund entwichen wäre - niemand außer mir ist hier im Skriptorium.
Bin ich in meinem Glauben verwirrt? Ein weiterer, lästerlicher Gedanke ist die Antwort: Ich trauere einem verlorenen Leben nach.
Müde erhebe ich mich vom Holzschemel, der meinen Rücken in den letzten Jahren krümmte und mein verschwommener Blick fällt auf die Übersetzung der Heiligen Schrift, an der ich schon lange arbeite. Auch während des Tagwerks sind wir angehalten, auf Gottes Eingebungen zu hören, die Verbindung mit dem Herrn nicht abbrechen zu lassen.
Liegt es an den schmerzenden Gliedern, dass mir stattdessen Worte meines lang verstorbenen Mentors, Bruder Byrtferth, durch den Kopf ziehen?
„Die anderen spotten über uns, erheben sich selbst als die einzig Schuftenden über die Schreiber. Der, der nicht weiß zu schreiben, glaubt nicht, dass dies eine Arbeit sei. O wie schwer ist diese Tätigkeit: Sie trübt die Augen, quetscht die Nieren und bringt zugleich allen Gliedern Qual. Drei Finger schreiben, der ganze Körper leidet.“
Ich höre meine Schritte über den groben Steinboden schlurfen, sehe meinen verkrümmten Schatten, hager, gebeugt, auf einen Holzstab gestützt.
Welch eitler Gedankengang in dieser alten, leeren Hülle. Erfüllt mich der Anblick meines Schattens wirklich mit solcher Abscheu? Vermisse ich wahrhaftig die Kraft und die stolze Erscheinung, die ich einst in jungen Jahren gewesen? Ja, ich gestehe es mir ein, und gebiete den lästerlichen Überlegungen keinen Einhalt.
Ich hätte ein anderes, ein wundervolles Leben führen können ... stattdessen war es von Askese, Arbeit und Gebet geprägt. Von Gefangenschaft.
Doch blieb mir als Zweitgeborener Lord Aldwyns damals keine Wahl. Mein Bruder Cedric, der Erstgeborene, erbte den Titel und die Ländereien in Norfolk. Ich, Alfred, war der Kirche versprochen und Edgar als Drittgeborener gehörte dem König und dem Heer.
Ein einfacher Benediktiner-Bruder bin ich trotz meines Alters, habe es - entgegen meiner Herkunft - weder zum Abt noch zum Prior von Muchelney Abbey in Somerset gebracht. Das war auch nie mein Streben ... den frommen Brüdern vorzustehen und ihnen den Weg zu weisen. Dazu bedarf es neben väterlicher Strenge auch des wahren Glaubens und Gottesfurcht. Ihr Abt zu sein, wäre mir wie eine noch verwerflichere Täuschung vorgekommen.
Ich habe mich all die Jahre angestrengt, ein redlicher Bruder zu sein. Habe alle Weisungen befolgt. Der Jungspund, der ich einst war, glaubte, als Mönch die wahre Hingabe an Gott zu erlangen, hinter den Klostermauern dem Weltlichen zu entsagen, Demut zu finden und die eine vergessen zu können, zu der ich in Zuneigung und Begehr entbrannt war. Deren liebliches Antlitz, Gestalt und Stimme mich zum Erschauern und Sehnen brachten, damals, als ich sechzehn Lenze zählte ...
Die Erinnerungen an sie sind nur noch blasse, durchscheinende Gemälde an den Wänden meines Gedächtnisses.
Aber ganz deutlich habe ich noch vor Augen, wie die junge dame Elinor das erste Mal unser Haus betrat, als Cedrics Braut, dem sie von Kindheit an versprochen war. Ihr Anblick raubte mir den Atem, das lange Haar in der Farbe reifen Weizens, kunstvoll geflochten, das feine Gesicht, der zarte Körper in dem grünen Kleid, gerade zur Frau erblüht.
Beim Hochzeitsmahl saß sie mit Cedric am Kopf der Tafel, einen Kranz aus Rosmarin im Haar. Das Kraut der Schönheit und der Liebe, jedes Mal, wenn ich später seinen Duft im Klostergarten roch, die grünen Zweige erntete, erinnerte es mich an Elinor ...
Unser Vater forderte sie auf, für die Familie und die Gäste zu singen, sie zu unterhalten. Ich vermochte die Augen nicht von ihr abzuwenden, beobachtete, wie ihre Finger mit Anmut über die Saiten der Laute glitten, und erbebte, als sie die klare Stimme erhob und Bryd one brere sang, einem Engel gleich. Während ich gebannt lauschte und mein Herz ihr zuflog wie der besungene Vogel, hatte Cedric kaum einen Blick für seine junge Braut übrig, er scherzte mit dem Tischnachbarn, lachte über zotige Witze, sein Gesicht verschwand immer wieder im Bierkrug ...
Nein, mein Bruder liebte und ehrte Elinor nicht, wie ich es getan hätte, wie sich im Folgenden herausstellte. Es erboste mich, wie grob er zu ihr war, doch durfte ich nicht einschreiten, hatte es schweigend hinzunehmen, wie sie.
Er blieb der Wüstling, der er vor der Vermählung gewesen, suchte nachts weiter auch die Kammern der Mägde auf, während es mich täglich schmerzte, der Dame meines Herzens bei den Mahlzeiten gegenübersitzen. Ohne sie berühren oder grundlos das Wort an sie richten zu dürfen, meine wahren Gefühle verheimlichen zu müssen.
Wie sehnlich wünschte ich mir zu der Zeit, man hätte mich bereits als Knabe dem Kloster übergeben ... dann wäre ich diesem betörenden Geschöpf, das mir solche Sehnsucht und schlaflose Nächte bereitete, nie begegnet.
Ein Jahr erduldete ich diese Pein. Nicht lange nach der Vermählung erwartete Elinor ein Kind, gebar dann einen gesunden Sohn. Die Erbfolge war geregelt und mein Schicksal besiegelt. Allein, wenn Cedrics Verbindung keinen Erben hervorgebracht hätte, wäre ich in unserem Haus verblieben ...
Habe ich gerade geseufzt? Oder war es der Wind, der um die Mauern zieht?
Ich trete ans Fenster. Kneife die Augen zusammen und betrachte den Klostergarten. Die erleuchtete Kapelle. Eine hohe Steinmauer trennt unseren Orden von der Umgebung, damit die Mönche nicht gezwungen seien, draußen herumzugehen, weil das ihren Seelen durchaus nicht zuträglich ist ...
Wohin haben meine Schritte mich gelenkt?
Was mache ich am Fenster? Ich muss doch hinab, um an der ersten Abendandacht teilzunehmen.
Meine Hände stützen sich auf das steinerne Gesims. Ich lehne mich ein wenig hinaus und sauge die kühle Luft ein. Sie riecht nach Nebel und Regen.
Ich erschauere. Es ist ein kalter Abend – die Art von Kälte, die sich rein anfühlt, wenn man sie einatmet.
Die Dämmerung färbt den Himmel bleigrau. Irgendwo in der Ferne heult ein Hund. Auf einem der Höfe in den Hügeln.
Die Felder bringen den Bauern kaum Korn, fast nichts als Mühsal und Steine ein, aber sie sind auf ihre Weise frei.
Alles dort draußen vor den Klostermauern ist frei. Aber trage ich nicht selbst die Schuld an meiner als solchen empfundenen Gefangenschaft? Warum floh ich nicht, bevor man mich hier einkerkerte? Ketzerische Gedanken.
Wieder ertönt der Schlag der Andachtsglocke, weicht dem eintönigen Murmeln der Brüder, das den düsteren, kalten Raum der Kapelle erfüllt.
Pater Noster,
qui es in caelis,
sanctificetur nomen tuum.
Adveniat regnum tuum ...
Ich senke den Kopf und bewege meine Lippen im Gebet, doch ohne die gebotene Inbrunst oder Versunkenheit.
Dann singen die Brüder zu Ehren des Herrn. Ihre vielfachen Stimmen harmonieren. Und doch lauschte ich jetzt lieber einer anderen, einer einzelnen, lang vermissten Stimme.
Elinor ... warum nur muss ich heute ständig an dich denken?
Es sticht in meiner Brust. Ein Mal, zwei Mal ... der Schmerz raubt mir kurz den Atem, lässt mich versteifen. Ein Ächzen entfährt meinem Mund, ich verziehe das Gesicht, kralle die Finger um den Sims.
Was ist das?
Leise, ungreifbar, nehme ich neben dem Choral aus der Kapelle ein Rauschen wahr ... ein Tosen wie von gewaltigen Flügeln. Es nähert sich.
Ich schließe die Augen, lausche dem Brausen der Schwingen, versunken in dieses mächtige Geräusch.
Alles andere verblasst daneben ... Ein Brise fährt über mich hinweg. Mein Herz flattert, dann schlägt es wieder ruhiger, gleichmäßig. Erwartungsvoll. Im Rücken spüre ich Augen, die mich betrachten. Meine Rechte ergreift den Stock, schwerfällig wende ich mich herum. Als ich die Lider hebe, haben die Nachtschatten den Schreibsaal erobert, ich starre ins Dunkel.
Eine Dame tritt aus ihm hervor, bleibt nah vor mir stehen. Sie ist von solch sanfter, kühler Schönheit, dass sich mein Inneres zusammenzieht. Nie zuvor ist mir ein derartiges Geschöpf begegnet.
Sie muss von edlem Blut sein. Die weiße, makellose Haut erinnert an Elfenbein, das lange, tiefschwarze Haar umwallt ihren Leib, Perlen und Kristallsplitter sind hineingeflochten. Das Kleid der Frau schimmert wie aus Nacht und Silberfäden gewoben. Ihre Augen sind Teiche, seelenvoll, schimmernd, groß, darin verborgen der Sternenhimmel.
Eigenartig, sie haben die Geburt der Welt gesehen und werden ihren Untergang beobachten, durchfährt es mich und ihre samtigen Lippen, welche die Farbe dunkler Rosenblätter tragen, kräuseln sich wissend, als läse sie meine ehrfürchtigen Gedanken.
Dann beginnt sie zu singen, die wehmütigen Klänge erfüllen die Kammer, hallen von den Wänden wider ... mir steigen Tränen in die Augen. Törichtes, glückseliges Nass. Denn ich erkenne die Melodie, den engelsgleichen Gesang, in den ich mich einst ebenso verliebte wie in die Schönheit des Mädchens, dessen Kehle er entwich.
Vogel auf dem Dornbusch, Vogel, Vogel auf dem Dornbusch
Die Menschheit ist aus der Liebe entstanden,
die Liebe sehnt sich also.
Seliger Vogel, erbarme dich meiner ...
Ich bin gefangen in Andacht. Das Lied ist ein Geschenk, eine Einladung der dunklen Frau.
Sie streckt mir in eleganter Geste eine blasse Hand entgegen. Ohne mein Zutun lasse ich den Stock fallen und ergreife sie.
Was ist mit meinen Händen geschehen? Sie sind wieder glatt, jung, kräftig... und ich kann die ihre durch meine sehen.
Zeitgleich verspüre ich Leichtigkeit, die Mühsal und die Bürde des Alters sind fort.
Doch kein Erschrecken packt mich, als ich des Offensichtlichen gewahr werde. Ich muss nicht zu Boden blicken, um zu wissen, dass dort der verkrümmte, reglose Leib eines uralten Mannes auf dem Stein liegt.
Oder grabe, Liebes, grabe mir mein Grab,
Ich bin so fröhlich, so hell, Vogel auf Dornbusch,
singt die Dame mit der Stimme der einst so Geliebten.
Ein Gefühl der Erlösung, der Gnade, ja, unermesslichen Glücks erfüllt mich, lässt mich vor Freude lachen wie ein Kind. Ich danke Gott und bitte ihn um Vergebung.
Die Dame betrachtet mich, die Augen voll Güte, ein weiches Lächeln umspielt ihre Rosenlippen.
Irgendwo höre ich aufgeregte Worte, immer wieder meinen Namen ... es ist mir gleich. Sie sprechen zu meiner einstigen Hülle, betasten sie, der freundliche Bruder Nathan wehklagt. Die Laute verebben, verschwinden.
Es gibt nur noch sie. Diese Augen und den weiten Himmel, den ich darin sehe.
Ich sinke in ihre Arme und sie umschlingt mich zärtlich und doch mit Kraft, legt ihre kühle Wange an meine.
Bitte, Mylady, singt weiter ... und sie erhört mich, ich vernehme Elinors Stimme in meinem Ohr.
Sie ist schön und die Blume von allen
Darf ich sie nach meinem Willen haben, Fest der Liebe,
lieblich, wahr
Von meinem Kummer möge sie mich retten
Freude und Glückseligkeit würden mich erneuern.
Sie erhebt sich mit mir, hält mich in ihren Armen geborgen, entschwindet aus dem Fenster. Breitet die rabenschwarzen Schwingen aus, ich spüre deren mächtige Schläge, wir gleiten über den Hof, über den Glockenturm, dann steil hinauf in die Lüfte, immer höher und höher schraubt sie sich mit mir empor.
Endlich bin ich frei ... wie ein Vogel, wie der Wind ...
Bryd one brere, brid, brid one brere
Kynd is come of love, love to crave
Blythful biryd, on me thu rewe
Or greyth, lef, greith thu me my grave
Hic am so blithe, so bryhit
brid on brere, Quan I se that hende in halle
Yhe is whit of lime, loveli, trewe
Yhe is fayr and flur of alle
Mikte ic hire at wille haven, Stedefast of love
loveli, trewe
Of mi sorwe yhe may me saven
Ioye and blisse were were me newe.
Vogel auf dem Dornbusch, Vogel, Vogel auf dem Dornbusch
Die Menschheit ist aus der Liebe entstanden,
die Liebe sehnt sich also.
Seliger Vogel, erbarme dich meiner
Oder grabe, Liebes, grabe mir mein Grab
Ich bin so fröhlich, so hell, Vogel auf Dornbusch
Wenn ich die Magd im Flur sehe
Sie ist weiß von Gliedmaßen, lieblich, wahr
Sie ist schön und die Blume von allen
Darf ich sie nach meinem Willen haben, Fest der Liebe,
lieblich, wahr
Von meinem Kummer möge sie mich retten
Freude und Glückseligkeit würden mich erneuern.
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 30.04.2022
Alle Rechte vorbehalten