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Die Mittagshitze flirrte über der ägyptischen Wüste. Thomas Becker spürte sie genauso wenig wie Hunger oder Durst. Nie zuvor in seinem Leben war er so aufgeregt gewesen wie heute, das war der Höhepunkt seiner Karriere!

Seit dem Morgen tigerte der hagere Archäologe durch das Camp, beschirmte immer wieder die Augen gegen das grelle Sonnenlicht, um seinen Blick über den weiten Horizont hinter den Sanddünen wandern zu lassen. Sie erwarteten Besuch aus Kairo.

Endlich! In der Ferne machte er eine Staubwolke aus, die sich durch die Wüste auf die Ausgrabungsstelle zubewegte. Die Jeep-Karawane würde sie in Kürze erreichen.

Die Vorstellung, dass ihm mit seinen knapp vierzig Jahren die vielleicht sensationellste Entdeckung gelungen war, seit Howard Carter 1922 die letzte Ruhestätte von Tutanchamun freilegte, war überwältigend, ließ leichte Übelkeit in ihm aufsteigen.

Heute würde er, im Beisein der Presse und ägyptischer Regierungsbeamter, das unberührte Grab öffnen.

Es lag etwa eine Meile entfernt vom Tal der Könige, rein unterirdisch, keine Pyramide ragte darüber in die Höhe, dennoch war hier mindestens ein sehr hoher Würdenträger bestattet worden, das verrieten entsprechende Schriftzeichen am Portal.

Im Tal der Könige und seinem Umfeld hatte man bis heute 64 Grabstätten gefunden. Und er, Thomas Becker, war der Entdecker des verheißungsvollen 65. Grabes!

Er entschied, bis zum Eintreffen des Konvois einen Tee im Versorgungszelt zu trinken. Fast alle Mitarbeiter hatten sich dort eingefunden, Becker informierte sie über die baldige Ankunft der Delegation.

Nur einer fehlte, wie er feststellte. Chris Zellmer, der rothaarige Archäologiestudent mit den vielen Sommersprossen und einer besonderen Vorliebe für altertümliche Schriftzeichen.

Als sie am Portal zur Grabkammer die Inschrift entdeckt hatten, durfte Chris zu Studienzwecken eine Abschrift anfertigen. Seitdem saß der junge Mann in jeder freien Minute darüber und versuchte, die Hieroglyphen zu entschlüsseln.

Im Gegensatz zu Dr. Claus Bernhard, dem leitenden Archäologen und Finanzier dieser Ausgrabung, war der Student davon überzeugt, dass diese Inschrift nicht das Leben eines Pharaos beschrieb. Er hielt sie auch nicht nur für die üblichen Flüche und Warnungen zur Abschreckung von Grabräubern, sondern vermutete eine weitreichendere Botschaft.

Doch davon wollte Dr. Bernhard nichts hören. Thomas Becker gegenüber hatte er Chris Zellmer als „übereifrigen, aber inkompetenten Spinner“ bezeichnet. Der übergewichtige Chefarchäologe besaß ein aufbrausendes Temperament und ging mit Beschimpfungen nicht sparsam um. Vor zwei Wochen hatte er Becker mit hochrotem Kopf heruntergeputzt, da sich dessen Behauptung, am Rande des Tals der Könige befände sich noch ein unentdecktes Grab, vorerst als Hirngespinst entpuppte.

Beckers fester Glaube daran hatte sich auf eine alte Schrift gestützt, auf die er im National-Museum in Kairo gestoßen war. Er hatte zahlreiche Infrarot-Satellitenbilder ausgewertet, deren Hinweise sich aber zuerst als Fehlschläge entpuppten. Und dann, nach mehreren enttäuschenden Grabungen, hatte er doch noch die sensationelle Entdeckung gemacht.

Die Tatsache, dass die Hieroglyphen am Grabportal eine sehr alte Form darstellten, man einige bisher gar nicht kannte, ignorierte Dr. Bernhard. Er war vielmehr am Inhalt des Grabes, an konservierten Schätzen interessiert.

Chris Zellmer hingegen wollte unbedingt wissen, was die Inschrift bedeutete. Zuerst übersetzte er die vertrauteren Hieroglyphen, für die unbekannten ließ er Leerzeichen, um sie später einzufügen.

„ ... versiegelt für alle Zeit ...  gehorcht den Göttern und befolgt ihre Weisungen ... Volk und Völker, lasst sie ruhen ...  wagt nicht, diesen Ort zu betreten ... Tod“.

Das war alles, was er bisher enträtselt hatte. Es war nicht viel, aber dennoch hatte er eine ungute Vorahnung. Und auf sein Bauchgefühl hatte er sich in seinen sechsundzwanzig Lebensjahren immer verlassen können. Seiner Meinung nach sollte die Graböffnung verschoben werden, bis sie mehr über die Inschrift wussten. Aber auf ihn würde niemand hören.


Die Autokarawane hatte das Camp erreicht, die Journalisten schossen Fotos.

Um ein gutes Gruppenbild in Szene zu setzen, sollte sich Dr. Bernhard, der ein wenig an eine Kröte mit Hut erinnerte, vor die jungen Grabungshelfer stellen.

Neben dem Chefarchäologen ragte die sehnige Gestalt von Thomas Becker auf. Mit der tief gebräunten Haut und dem dunklen Haar hätte man ihn fast für einen Einheimischen halten können.

Die Gesandten der ägyptischen Altertumsverwaltung warteten mit unergründlichen Mienen im Schatten eines Sonnensegels, die drei Männer wirkten düsterer als die Gläser ihrer Sonnenbrillen.

Nach der Fotosession erledigte Dr. Bernhard mit ihnen noch einige Formalitäten, während die Journalisten Thomas Becker interviewten.

Endlich war der große Augenblick gekommen. Mit einer leichten Sprengladung, die gezielt platziert worden war, öffneten sie den Eingang zum Grab. Beckers Hände fühlten sich trotz der Hitze feucht an. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt.

Luft, die seit Jahrtausenden niemand mehr eingeatmet hatte, strömte aus dem schwarzen Schacht, vermischte sich mit dem fortziehenden Rauch der Sprengung.

Neben den beiden Archäologen nahmen die drei Ägypter sowie zwei ausgewählte Pressevertreter an der Erstbesichtigung teil. Becker gebührte die Ehre, voranzugehen. Er bewegte sich mit einer Lampe durch den finsteren Gang, der recht steil bergab führte, erstaunlich hoch und breit war, sodass ihn die sieben Männer bequem in aufrechter Haltung durchqueren konnten.

Nicht nur Becker ging durch den Kopf, dass sie die ersten Menschen an diesem Ort waren, seit den Priestern, die das Grab einst versiegelt hatten. Niemand sprach ein Wort, die Aufregung war greifbar. Sie hörten nur ihre Schritte und Dr. Bernhards Schnaufen. Die Luft wurde dünner, je weiter sie in dem finsteren Schacht vordrangen.

Nach etwa dreißig Metern stießen sie auf ein Hindernis, der Gang wurde von einem tonnenschweren Granitblock verschlossen.

Wie beim Eingang waren Schriftzeichen darüber eingemeißelt. Sie identifizierten allein das Udjat-Auge, das Zeichen für ewiges Leben und Schutz, sowie das Was-Zepter. Letzteres symbolisierte ebenfalls die Macht zu schützen oder negative, magische Kräfte zu bezwingen.

Enttäuschung durchflutete die Männer beim Anblick des vermutlich meterdicken Blocks. Hier unten durften sie keinesfalls eine Sprengung durchführen.

Doch als Becker im Schein seiner Lampe die Schachtwände vor dem Hindernis untersuchte, fielen ihm links und rechts je zwei leicht hervortretende Steine auf. Einer Eingebung folgend umfasste er einen, zog daran, und er ließ sich mit Anstrengung bewegen! Er forderte Dr. Bernhard und die beiden Journalisten auf, sich vor die anderen Steine zu stellen.

„Wir ziehen sie gleichzeitig heraus. Auf drei!“, wies er sie an. Und es funktionierte! Mit einem dunklen, scharrenden Geräusch schob sich der schwere Steinblock langsam zur Seite und gab den Weg frei, während den Männern Laute des Erstaunens entwichen. Dies war eine nie da gewesene Konstruktion, eine Meisterleistung der altägyptischen Baumeister!

Mit Ehrfurcht betraten sie nacheinander eine große Kammer. Die Lichtkegel ihrer Lampen durchschnitten die Finsternis.

Die Archäologen hatten angenommen, zuerst in eine für Königsgräber typische Vorkammer zu gelangen, aber allem Anschein nach befanden sie sich bereits im Hauptraum. Weder Wandmalereien noch Grabbeigaben waren vorhanden. Das Einzige, was an eine herkömmliche Grabkammer erinnerte, waren die Sarkophage, drei an der Zahl.

Dennoch stockte den Anwesenden der Atem, denn die Ausmaße der golden schimmernden Särge, die auf den ersten Blick identisch wirkten, überwältigten sie.

„Das erklärt die Größe des Ganges", folgerte Becker. Er schätzte, dass die Sarkophage etwa zwei Meter hoch und gute sechs Meter lang waren. Sie besaßen nicht eindeutig die Form von Quadern, wirkten wegen der abgerundeten Kanten fast ellipsenförmig.

Kurz geblendet vom Blitzlichtgewitter, das die Kameras der Reporter verursachten, schritt Becker auf den nächstgelegenen Sarkophag zu, umrundete und inspizierte diesen im Schein seiner Lampe, während sich Dr. Bernhard nach einem kurzen Blick darauf auf die Suche nach Nebenräumen oder Nischen, nach den ersehnten Schätzen, machte.

Becker leuchtete die glatte, matt glänzende Außenwand ab, fuhr mit der Hand über das kalte Metall. Um welches handelte es sich? War es pures Gold? Oder vergoldetes Eisen?

Er entdeckte weder Verzierungen noch eine Inschrift, keine Kartusche, wie sie bei Namen von Pharaonen verwendet wurde. Er fragte sich, ob in diesen gewaltigen Särgen überhaupt die Mumien eines Königs und seiner Angehörigen ruhten, oder wen man sonst hier bestattet hatte.

Nicht nur die überdimensionierte Größe der Sarkophage war ungewöhnlich, auch die Art und Weise, wie die alten Ägypter diese gebaut hatten. Es war kein Spalt, nicht die winzigste Fuge, zwischen einem aufliegenden Deckel und dem Unterbau erkennbar ...

Dr. Bernhard kehrte aus den dunklen Schatten zu der Gruppe zurück. Mit finsterem Gesicht, offensichtlich hatte er nichts weiter von Interesse oder Wert gefunden.

Nach der ersten Besichtigung des Raums musste die Öffnung der Totenschreine auf den nächsten Tag verschoben werden. Es fehlte geeignetes Werkzeug, das Mitarbeiter aus Kairo herbeiholen würden, und sie brauchten Licht hier unten.

„Ich werde die Techniker anweisen, für eine Stromleitung und Beleuchtung zu sorgen", bellte Dr. Bernhard und stapfte mit den Ägyptern hinaus. Die Presseleute folgten ihnen.

Becker blieb allein zurück. In der nun herrschenden Stille umrundete er noch einmal die Sarkophage, ließ den Strahl der Lampe darüber wandern, musterte sie. Zuletzt fotografierte er die Kammer aus verschiedenen Winkeln mit seiner Handykamera.

Auf dem Rückweg machte er Aufnahmen von der Inschrift über dem zweiten Portal. Chris Zellmer sollte sie sich anschauen. Wo steckte der überhaupt?

Der Archäologe verließ das Grab, um ihn zu suchen.


Er fand ihn in dessen Zelt über der Abschrift vom ersten Portal.

„Hey, Chris. Warum wollten Sie nicht dabei sein? Ich hätte mich dafür eingesetzt, dass Sie mitkommen dürfen.“

Der Student rieb sich über das sommersprossige Gesicht. „Die Inschrift lässt mir keine Ruhe. Das, was ich bisher entziffern konnte, ... ist irgendwie beunruhigend.“

„Inwiefern?“, fragte Becker und nahm auf dem zweiten Campingstuhl Platz.

Chris griff eines der Bücher, hielt Becker die aufgeschlagene Seite hin.

„Schauen Sie. Diese Schriftzeichen hier, die mit etwa 5000 Jahren zu den ältesten, bisher entdeckten zählen, haben teils Ähnlichkeit mit denen, die am Grabeingang eingemeißelt sind.“

„Was bedeuten sie?“, fragte der Archäologe aufgeregt.

„Ich konnte bisher nur einen kleinen Teil übersetzen, und selbst bei dem bin ich mir nicht sicher. Aber ich nehme an, es heißt: Dieser Ort ist versiegelt für alle Zeit ... gehorcht den Göttern, fürchtet ihre Macht, folgt ihren Weisungen ... Volk und Völker, lasst sie ruhen ...  den Himmel ... wagt nicht, bei euren Leben, diesen Ort zu betreten ... preiszugeben ... Tod und Verderben.“

Der Student sah Becker ernst an. „Es ist eine Warnung. Aber eine Unübliche. Was habt ihr in der Grabkammer entdeckt?“

Becker lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

„Wir mussten erst noch ein steinernes Hindernis im Schacht überwinden.“ Er erzählte dem Studenten von dem ungewöhnlichen Mechanismus, was dieser mit Erstaunen quittierte. Dann zeigte er ihm die Fotos der kargen Grabkammer mit den Riesensarkophagen und schloss mit: „Bernhard hat vielleicht eine Fresse gezogen ...“

Chris grinste zurück. Beide hielten sie den Chefarchäologen für ziemlich unsympathisch. „Kann ich mir vorstellen. Der ist ja nur auf Gold und Schätze aus.“

Becker erhob sich. „Helfen Sie mir bitte. Begleiten Sie mich in die Kammer, jetzt. Ich brauche Ihre Kenntnisse. Am zweiten Portal sind auch Schriftzeichen. Möglicherweise entdecken Sie etwas, das uns die Identität der Bestatteten verraten könnte.“

Der Student zögerte kurz, dachte an sein Unbehagen in Bezug auf die teils entschlüsselte Inschrift. Doch dann überwog seine Neugier. Außerdem fühlte er sich geschmeichelt vom Vertrauen, das der Ältere in ihn setzte. Er nickte, seine Augen leuchteten.

„In Ordnung. Gehen wir.“


Die Techniker waren in der Kürze der Zeit Bernhards Anweisung gefolgt und hatten eine provisorische Stromversorgung in die Grabkammer gelegt.

Die beiden Männer durchquerten den Gang, beim zweiten Portal angekommen fotografierte Chris die Schriftzeichen. Neben dem Udjat-Auge und dem Was-Zepter erkannte er noch das kreisförmige Shen-Symbol, das Ewigkeit und Schutz symbolisierte.

Sie begaben sich zur Kammer, die von einigen Neonstrahlern ausgeleuchtet wurde und untersuchten die Sarkophage.

„Krass, sind die groß! Ungewöhnliche Bauweise“, sagte der Student mit Begeisterung. „Wie wollen Sie die öffnen, ohne dass sie allzu sehr beschädigt werden?“

„Da bin ich noch nicht sicher",erwiderte Becker. „Die Männer, die das Werkzeug aus Kairo holen, sind beauftragt, einen Experten für die Öffnung von sensiblen Metallkörpern aufzutreiben.“ Einer Eingebung folgend setzte er hinzu: „Steigen Sie hinauf. Schauen Sie nach, ob es oben etwas zu entdecken gibt.“

Mit Beckers Hilfe erklomm Chris den ersten Sarkophag. Kurz darauf hörte der Archäologe ihn überrascht den Atem einsaugen, dann überschlug sich dessen Stimme vor Erregung.

„Hier ist eine Kartusche! Sie weist auf die Göttin Sachmet hin! Hundertpro!“

Becker war überrascht. Dieses Grab wurde immer mysteriöser. Sachmet, mit dem grimmigen Löwengesicht, war eine bedrohliche Macht des altägyptischen Mythos. Sie brachte den Menschen Unheil und Verderben.

„Machen Sie ein Foto! Dann schauen Sie nach, ob sich auch auf den anderen Sarkophagen Kartuschen befinden!“

Chris folgte seiner Anweisung und hievte sich, erneut mit Beckers Unterstützung, auf den nächsten Sarg.

„Ja, hier ist ebenfalls eine!“, rief er. „Mmh, irgendetwas regt sich in meinem Kopf, aber ich kann die Zeichen noch nicht einordnen. Muss ich recherchieren.“

Er schoss mehrere Bilder von den Hieroglyphen, ehe er sich vom Sarkophag gleiten ließ, um auf den letzten zu gelangen.

„Und?“, hakte Becker nach, als Chris zuerst nichts verlauten ließ.

„Das ist ja ...“, begann der junge Mann verwirrt, verstummte dann wieder.

„Was? Nun reden Sie doch!“

„Seltsam. Erst die Göttin Sachmet, und hier handelt es sich eindeutig um Anubis.“

Er hatte gesprochen, als ob er schauderte. Auch in Becker stieg ein unangenehmes Gefühl auf. Anubis, der Totengott in Gestalt eines Schakals, der auch das Böse verkörperte. Dies war auf keinen Fall die Ruhestätte einer Pharaonenfamilie. Niemals hätten die Urägypter bei einer königlichen Bestattung auf den Sarkophagen Götter des Unheils abgebildet.

Oder handelte es sich um in Ungnade gefallene Mitglieder einer Herrscherfamilie? Verstoßene Hohepriester?

Chris kam mit einem Plumpsen neben ihm auf dem Boden auf.

„Lassen Sie uns gehen. Ich will herausfinden, auf wen die dritte Kartusche hinweist." Seine Beunruhigung war ihm deutlich anzumerken.

Die beiden Männer verließen das Grab und suchten das Zelt des Studenten auf.

Während sich Chris konzentriert an die Recherche machte, versank Becker in Grübeleien über die bisher äußerst seltsamen Funde. Die gedämpften Stimmen der Menschen im Camp, die Geräusche des Alltags um das Zelt herum, verblassten. Als Chris ihn endlich ansprach, zuckte Becker zusammen.

Die Miene des Studenten wirkte ernst. „Ich denke, die dritte Kartusche bezieht sich auf Apophis, der in Gestalt der Schlange die Auflösung, Finsternis und das Chaos verkörpert. Alle drei Götter stehen für dunkle Macht, Tod und Verderben. Warum gibt es auf den Sarkophagen keine Hinweise auf die hohen Würdenträger, die darin bestattet sind?“

 Darauf wusste Becker keine Antwort.

„Wir müssen die Öffnung abwarten", erwiderte er. „Hoffentlich kehren unsere Leute bald mit passendem Werkzeug und einem versierten Experten zurück."

 
Seine Hoffnung erfüllte sich am Morgen des folgenden Tages. Die Mitarbeiter hatten sogar den gewünschten Fachmann aufgetrieben!

Alles Erforderliche war in die Grabkammer geschafft und diverse Vorbereitungen getroffen worden. Jetzt beobachtete Becker den ägyptischen Ingenieur, wie er dem Team noch einige Anweisungen gab, bevor man damit begann, den schweren Metalldeckel zu heben. Dieser war zuvor mit einem hochmodernen Plasmaschneider aus dem ersten Sarkophag herausgearbeitet worden.

Die Journalisten hatten sich mit ihren Kameras aufgebaut, jeder versuchte, den besten Blick auf die Szene zu bekommen. Auch die Beamten der ägyptischen Altertumsverwaltung waren wieder anwesend, um sicherzustellen, dass keine Fundstücke beiseite und außer Landes geschafft wurden.

Sie standen neben Becker und Dr. Bernhard auf einem Gerüst, das neben dem ersten Sarkophag aufgebaut war. Die Seilwinden des Flaschenzugs wurden betätigt. Die Seile spannten sich. Der Deckel hob sich Zentimeter um Zentimeter.

Becker war nervös. Obwohl es in der Kammer kühl war, schwitzte er.

Endlich war der Deckel weit genug angehoben, wurde verankert. Becker und Bernhard beugten sich vor und leuchteten mit ihren Stablampen in den Sarkophag.

Der Anblick, der sich ihnen bot, war mehr als enttäuschend. Weder eine wertvolle Totenmaske, noch Schmuck oder königliche Insignien waren zu sehen. Auch keine Mumie.

„Scheiße, was ist das denn?", entfuhr es einem Journalisten.

Eine schwarze, geruchlose Masse füllte den Sarkophag bis knapp an den Rand. Auf den ersten Blick konnte niemand sagen, worum es sich dabei handelte. Während Becker versteinerte, ließ sich Dr. Bernhard eine Schaufel hochreichen, stocherte mit dieser in der pulverigen Substanz herum, wendete sie. Nichts anderes kam zu Tage.

 Becker löste sich aus seiner Starre, entnahm mit einem Spatel eine Probe, die er in einem kleinen Plastikbehälter verschloss. Würden die anderen Metallbehälter den gleichen Inhalt offenbaren? Sarkophage wollte er die Riesengefäße gar nicht mehr nennen. Die herbe Ernüchterung war allen Anwesenden anzumerken.

Vor allem Dr. Bernhard. Der Alte fluchte wie ein Bierkutscher, kletterte mit rot verzerrten Zügen vom Gerüst herab und schleuderte die Schaufel von sich, ehe er aus der Kammer stapfte.

Auch die Pressevertreter zeigten sich frustriert. Offensichtlich hatten sie ihre Zeit vergebens investiert, jedenfalls nicht für eine großartige Sensation wie einen Goldschatz oder eine gruselige Königsmumie.

Die allgemeine Befürchtung bewahrheitete sich: Alle drei „altertümlichen Müllcontainer“ - dieser Begriff stammte von Dr. Bernhard - waren mit der schwarzen Substanz gefüllt. Dennoch entnahmen sie gewissenhaft zwei weitere Proben.

Die Mienen der ägyptischen Verwaltungsbeamten verrieten nichts über deren Gedanken, als Becker ihnen diese überreichte, sowie eine weitere kleine Plastikbox, in der sich etwas von dem Metallstaub befand, der beim Schneiden des Deckels angefallen war.

Einer der Ägypter versprach auf Englisch, die Proben am selben Tag in Kairo in einem Labor abzugeben und dafür zu sorgen, dass deren Untersuchung oberste Priorität besaß.

Kurz darauf war die Jeepkarawane mit den Beamten und Reportern wieder auf dem Weg in die Hauptstadt.

Drei Tage vergingen, ohne das sie etwas aus Kairo hörten. Obwohl Becker und Bernhard die Kammer Zentimeter für Zentimeter absuchten, stießen sie weder auf verborgene Räume, Geheimverstecke noch auf etwas anderes von Interesse. Die Archäologen mussten sich die größte Enttäuschung ihres Lebens eingestehen. Becker hatte den Glauben an eine bedeutende Entdeckung verloren. Sein Name würde nie in einem Atemzug mit großen Männern wie Howard Carter genannt werden. All seine Hoffnungen waren in diesen Schutthaufen begraben, die sie anstelle von Mumien und Schätzen gefunden hatten.

Am Morgen des vierten Tages wankte der Doktor kreidebleich ins Versorgungszelt, um sich eine Flasche Wasser zu holen. Danach blieb er in seinem Zelt, man hörte ihn stöhnen, sich mehrfach übergeben, aber Hilfsangebote der Mitarbeiter wies er in barschem Ton zurück.


Als Chris Zellmer am folgenden Tag in Beckers Zelt platzte, fand er den Archäologen auf dem Feldbett liegend vor.

„Die Ergebnisse aus dem Labor sind da!", rief der Student und wedelte mit dem Schreiben, blieb jedoch abrupt stehen, als er Beckers graues, von Schweiß überströmtes Gesicht registrierte.

„Geben Sie her", murmelte der, setzte sich aber nicht auf. Mit zittrigen Fingern riss Becker der Umschlag auf und entnahm die Bögen, aber die Zeilen verschwammen vor seinen Augen. In den letzten Tagen war es ihm immer schwerer gefallen, sich zu konzentrieren, Übelkeit und Schmerzen waren seine ständigen Begleiter geworden, er litt unter Kraftlosigkeit. Chris beobachtete ihn besorgt. 

„Soll ich einen Arzt kommen lassen?" Becker schüttelte den Kopf, hielt dem Studenten die Papiere hin. „Später. Lesen Sie vor."

Das Schreiben war in Englisch verfasst, Chris bemühte sich, das Fachchinesisch zu übersetzen.

 

Sehr geehrter Dr. Bernhard, sehr geehrter Herr Becker,

Die vier Proben, die Sie einreichten, wurden in unserem Institut eingehend untersucht.

Probe 2364, die Sie mit "Metallstaub" beschrifteten, stellt uns vor ein Rätsel. Sind Sie sicher, dass diese nicht verunreinigt ist? Wir konnten kein bekanntes Metall oder eine Legierung identitfizieren, allein geringe Anteile von Platin, Wolfram und Iridium.

 

Chris übersprang die Tabellen mit den Zahlen und las weiter.

 

Die Proben mit den Nummern 2365 (Sarkophag 1), 2366 (Sarkophag 2) sowie 2367 (Sarkophag 3) weisen in gleichem Maße eine derart hohe Konzentration von Radioaktivität auf, dass unsere Mitarbeiter erst von einer Fehlermeldung ausgingen.

Doch auch bei mehrfacher Überprüfung unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen ergaben sich dieselben, äußerst beunruhigenden Ergebnisse.

Die exakte Zusammensetzung des von Ihnen eingereichten Materials konnte trotz ausführlicher Tests nicht entschlüsselt werden.

Jedoch vermuten wir, das es sich bei den aus den Sarkophagen entnommenen Proben um Abfallprodukte einer intensiven atomaren Nutzung handelt.

Nähere Angaben können wir zu diesem Zeitpunkt nicht machen. Die ägyptischen Behörden sowie der Katastrophenschutz sind informiert.

Das Gebiet, in dem sie die Grabung durchgeführt haben, ist ab sofort als kontaminiert und extrem gefährlich eingestuft. Entsprechende Schritte und Sicherheitsmaßnahmen wurden eingeleitet.

 

Hochachtungsvoll,

Dr. Bekir Ramsy

 
„Oh, mein Gott", wisperte Chris, der dasselbe dachte wie Becker.

Instinktiv trat er mehrere Schritte von dem Archäologen zurück, in Richtung des Zelteingangs.

Becker konnte nicht glauben, was er da eben durch den Nebel seiner Schwäche gehört hatte. Hohe Radioaktivität! Das bedeutete, seine Krankheit war die Folge einer Verstrahlung. Aber derart heftige Symptome in so kurzer Zeit? Es musste eine extrem hohe Strahlung in der Kammer herrschen, die von der unbekannten schwarzen Substanz ausging ... Doch um zu überlegen, was jetzt zu tun war, fehlte ihm einfach die Kraft, er glitt erneut in die Bewusstlosigkeit.

Chris wirbelte herum und rannte hinaus, durchquerte das Camp. Verdammt! War auch er betroffen? Er hatte sich in der Kammer aufgehalten. Zu dem Zeitpunkt waren die Metallbehälter - hoffentlich noch hermetisch - verschlossen gewesen. War die Strahlung dennoch hindurchgedrungen? Ich muss hier weg!

Er stürmte in sein Zelt, raffte mit fahrigen Bewegungen seine Sachen zusammen, während ihm das Herz bis in den Hals klopfte und er glaubte, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Bildete er sich den aufkommenden Kopfschmerz nur ein?

Draußen vernahm er mit einem Mal Rufe, aufgeregtes Stimmengewirr. Hastige Schritte. Motorengeräusche. Anscheinend hatten auch andere Campbewohner mitbekommen, dass dieser Ort eine Gefahr darstellte, es schien Panik auszubrechen.

Als Chris mit seiner Tasche aus dem Zelt eilte, um jemanden mit einem Wagen zu finden, der sie nach Kairo brachte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass das ägyptische Militär angerückt war. Mehrere Lastwagen parkten, ganze Mannschaften sprangen heraus. Jedoch nicht in den üblichen Uniformen, sie trugen weiße Strahlenschutzanzüge mit Helmen und Masken. 

Weitere olivgrüne Wagen fuhren auf das Gelände, auf einigen prangte der rote Halbmond, der anzeigte, dass es sich um medizinisches Personal handelte. 

Einer der vermummten ägyptischen Soldaten trat auf Chris zu, während die anderen ausschwärmten.

„Wo finden wir Dr. Bernhard?“, fragte der Mann auf Englisch mit starkem Akzent. Seine Stimme klang gedämpft durch die Maske.

Chris wies auf dessen Zelt. „Dort. Es geht ihm nicht gut. Auch Thomas Becker ist krank, der andere Archäologe im Zelt daneben. Schicken Sie bitte Ärzte zu ihnen."

Der Soldat ging nicht darauf ein, musterte Chris, dessen gepackte Tasche und den Rucksack. Der schaute nach oben, als er den Lärm knatternder Rotoren vernahm, zwei Militärhubschrauber tauchten am Himmel auf. Die ganze Szenerie wirkte plötzlich wie aus einem düsteren Weltuntergangsfilm.

„Wir sperren die Ausgrabungsstelle ab", quäkte der Mann. „Sie und das gesamte Team dürfen das Camp vorläufig nicht verlassen. Eine Quarantänestation wird gerade in der Nähe zu errichtet. Dort werden Sie alle in Kürze einquartiert und versorgt.“

Noch während der Ägypter sprach, riegelten Soldaten das Gebiet mit Plastikband und Durchfahrsperren provisorisch ab.

Chris schluckte, fuhr sich mit der Hand durchs rote Haar. Zwischen seinen Fingern blieb ein ganzes Büschel hängen. Oh nein ... Er erblasste, als er zeitgleich beobachtete, wie zwei Männer in Schutzanzügen Dr. Bernhard auf einer Bahre aus dessen Zelt trugen. Tot. Der Anblick seiner Leiche, der geröteten, von unzähligen Blasen überzogenen Haut, schockierte ihn. Oh Gott, lag Becker auch im Sterben?

Chris Zellmer wusste nicht viel über radioaktive Strahlung, aber er ahnte, dass es übel für ihn aussah. Er war den kontaminierten Archäologen viel zu nah gekommen. Aber nicht nur die beiden Männer hatten sich in der verseuchten Kammer aufgehalten ... auch die Reporter, die Regierungsbeamten, der Ingenieur ... betraf es auch die Laborangestellten? Jeder einzelne von ihnen strahlte auf alles in seiner Nähe ab. Verbreitete die tödliche Seuche. Und was, wenn die Strahlung der Masse so abnorm hoch war, dass sie jetzt, nach dem Öffnen der Behälter, sogar aus der Tiefe der Kammer eine Gefahr darstellte?

Hätte ich nur auf mein Bauchgefühl gehört und wäre abgehauen ... Plötzlich flimmerten graue Pünktchen vor seinen Augen, eine Welle der Übelkeit stieg in ihm hoch. Er übergab sich auf den Wüstenboden. Dann wurde alles schwarz um ihn ...

 

3000 vor Christus


Die Hitze flirrte über der Wüste. Die Menschen spürten sie nicht, genauso wenig wie Hunger oder Durst. Obgleich der heiße Chamsin-Wind eingesetzt hatte und die täglich zunehmende Hitze den lebensspenden Strom iteru aa in Kürze sinken lassen würde, so tief, dass sich im Flussbett Inseln bildeten, die wie Krokodilsrücken aussahen.

Seit Anbruch des Tages waren Männer, Frauen und Kinder zu Tausenden herbeigeströmt, auf die Ebene von Sechet-aat, unweit des jadegrünen Flusses, und warteten auf den großen Moment. Sie befanden sich in einem Zustand der Verzückung, hatten sich durch ihre Gebete und Gesänge in einen wahren Rausch versetzt.

Die Götter, ihre Himmelskönige, waren erwacht!

Und sie, die Stämme der westlichen und östlichen Ufer, hatten sich versammelt, um ihnen zu huldigen.

Über eine lange Zeit, in der iteru aa viele Male über die Ufer getreten war und mit seinem Schlamm die Felder fruchtbar machte, hatten die edlen Schöpfer, verborgen in einer Ruhekammer unter der Erde, in tiefem Schlaf gelegen. 

Letzte Nacht hatten die Stämme ihren Ruf vernommen. Jeder einzelne der nun Wartenden, alle zur gleichen Zeit, in ihren Gedanken und Träumen, und so hatten sie sich vor dem Morgengrauen auf den Weg gemacht, zur Heiligen Stätte Sechet-aat.

Endlich war es so weit. 

Noch bevor die Menschen ihre Götter erblickten, spürten sie deren Anwesenheit, erhoben lauter die Stimmen im Gesang.

Da waren sie! Strahlender und machtvoller, als die Ältesten unter ihnen sie in Erinnerung hatten. Allein die ganz Alten hatten sie, als Kinder, leibhaftig gesehen, und erlebt, wie die Götter sich damals zurückzogen, um sich zur Ruhe legen. Aber jeder, ob jung oder alt, kannte die Legende über die Ankunft der Lichtgestalten in ihrem glänzenden Sonnenwagen.

Die Ältesten fragten sich, warum nur drei der sechs Erhabenen erschienen waren. Schliefen die anderen noch?

Die Jüngeren und die Kinder bekamen die Götter zum ersten Mal zu Gesicht und staunten über deren gewaltige Staturen.

Alle sanken auf die Knie, sobald die Herrlichen an ihnen vorüberwandelten. Trotz ihrer Größe setzten die Edlen ihre Füße lautlos auf den heißen Boden, schienen dahinzugleiten.

Auch ihre flimmernde Haut und die strahlenden Augen wiesen sie als göttlich aus, sowie ihre Stimmen, die das Volk, auch über weite Entfernungen, in Gedanken vernehmen konnte. Die Götter allein vermochten es, Worte, Vorstellungen und Befehle in ihre Köpfe zu zaubern.

 

 


Als das xu hier gelandet war, erwachten sie, ihre copis öffneten sich und sie entstiegen den schützenden Kapseln, die sie vor jeglichen äußeren Einflüssen abschirmten und ihre Körperfunktionen während des Fluges überwachten.

Sie verblieben im xu, bis dessen äußere Sensoren die Atmosphäre und Temperatur des Zielortes überprüft hatten und sich die Bedingungen der Umgebung als unschädlich erwiesen. Erst dann verließen sie das xu und begannen mit der Erkundung. Sie waren auf der Suche nach medas elon, das sie für die Energiegewinnung benötigten sowie anderen, für ihre Art lebenswichtigen Elementen, die an ihrem Herkunftsort knapp wurden. Ihren Berechnungen nach könnten diese Ressourcen hier zu finden sein.

Sie trafen auf verschiedene Lebensformen, alle stellten keine Bedrohung dar, mussten nicht eliminiert werden.

Selbst die Vertreter der intelligentesten Lebensform, die sich Menschen nannten, besaßen eine niedere Entwicklungsstufe, waren schwach und kleiner als sie, ihr Körperbau wies aber eine gewisse Ähnlichkeit mit dem ihren auf, was sie schützenswert machte.

Positive Wellen gingen von diesen Wesen aus, die sie mit der Zeit als Verehrung und Anbetung kennenlernten. Daneben lasen sie in den Köpfen der Menschen Verwirrung, darüber, dass sie, die himmlischen Gottkönige, absolut identisch aussahen. Sie wollten sie unterscheiden können.

Das gewährten sie ihnen, nahmen die prächtigen, von den Menschen gefertigten Masken an, die sie trugen, wenn sie ihnen gegenübertraten.

Die Wesen wiesen ihnen weibliche und männliche Merkmale zu, da beide für die menschliche Fortpflanzung vonnöten waren.

Sie selbst reproduzierten sich auf andere Weise, bei ihnen existierten keine körperlichen Unterschiede.

Die Menschen hatten eine magische Beziehung zu den Tieren in ihrer Umgebung, darum verliehen sie ihnen, ihren Göttern, entsprechende Namen:

Horus, der Falke. Sachmet, die Löwin. Anubis, der Schakal. Isis, die Geflügelte. Apophis, die Schlange.

Allein einer von ihnen, den die Menschen Osiris nannten, erhielt keine Maske. Ihn bestimmten sie zum Hauptgott, überreichten ihm die Atef-Krone.

Sie ließen sie gewähren.

Doch kein Mensch durfte sie berühren oder ihnen direkt in die strahlenden Augen blicken, um nicht zu erblinden oder zu sterben.

Sie sendeten ihnen diese Befehle. Sie kommunizierten nicht wie diese unterlegene Spezies, die dafür Laute produzieren musste, Bilder und Zeichen zur Verständigung verwendete. Gesang, Tanz und Musik war ihnen unbekannt gewesen, sie lernten es hier kennen. Während sie jetzt voranschritten, in Richtung ihres xu, blickten sie geradeaus, nicht auf die Wesen herab.

 

*


Die Menschen streckten den Göttern die Hände entgegen, mit entrückten Gesichtern, und beobachteten die Lichtgestalten, deren anmutige, fließende Bewegungen, sie warfen sich in den Staub, um ihnen zu huldigen.

Neben der Aufregung lag eine greifbare Wehmut über der Menge. Heute würden die edlen Schöpfer ihren feuerspeienden Sonnenwagen besteigen und zurück in den Himmel aufsteigen, das hatten sie ihnen verkündet. Das Volk trauerte, trotz seiner Extase.

Die Frauen wehklagten, warfen sich Sand über die Häupter, viele brachen in Hysterie aus.

Wie sollten sie ohne die Führung der Göttlichen weiterleben? Sie hatten ihnen so viele Errungenschaften und Kenntnisse geschenkt, nicht nur über den Himmel, seine Gestirne, Bautechniken und Werkzeuge, sie hatten sie auch Weisheit gelehrt.

 

 
Schwach sind sie, zerbrechlich jeder einzelne von ihnen, aber dennoch stark, in ihrer Gemeinschaft, sendete Horus an die anderen seiner Art.

Das komplexe Empfinden der Menschen war ihnen fremd. Sie hatten sie studiert, konnten an ihren Mienen, Gesten und Handlungen ablesen, was Gefühle darstellten, verspürten selbst aber nicht, was Liebe, Wut und Hass war, fühlten weder Freude, Leidenschaft noch Angst, Gier oder Trauer.

Sie taten immer nur das Notwendige, um ein Ziel zu erreichen und ihre Art zu erhalten.

Aber eins hatten die Menschen neben körperlichen Ähnlichkeiten mit ihnen gemein: Das Wohl aller ging über das des Einzelnen hinaus. Die übergeordnete Bestimmung.

Damit sie zu den Ihren zurückkehren konnten, brauchten sie viel Energie für das xu, das die Menschen als Sonnenwagen bezeichneten. Aus ihnen noch unbekannten Gründen hatte ihr xu an diesem Ort Energie verloren und sie hatten nicht genügend der benötigten Rohstoffe für die Energiegewinnung vorgefunden. Auch die verschiedenen Konstruktionen, die sie von den Menschen nach ihrer Anweisung erbauen ließen, waren ungenügend gewesen.

Die einzig ausreichende Energiequelle bildeten die Körper ihrer Art, dafür mussten sie sich selbst entzünden und verglühen. Sachmet, Anubis und Apophis folgten der übergeordneten Bestimmung,  setzten sich in Brand und verglühten. Die bei diesem Vorgang freigesetzte Kraft wurde in das xu geladen. Danach hatten sie, die verbliebenen Drei, das, was von den Ihren übrig war, in deren copis in der unterirdischen Stätte gelagert, in die sie sich zuvor für die notwendige Regenerationsphase zurückgezogen hatten.

Die copis konnten sie - laut ihrer Berechnungen - nicht mitnehmen. Deren Gewicht würde zusätzlichen Ballast im xu bedeuten und ein weiterer von ihnen hätte wegen des gesteigerten Energiebedarfs verglühen müssen. Das Widersprach der Ordnung, der Erhaltung ihrer Art. Somit mussten die copis vor Ort verbleiben, aber vor den Menschen verborgen werden. Zu deren Schutz, denn menschliche Körper waren leicht zu vernichten.

 

Was, wenn die Menschen die Überreste der Unseren nicht ruhen lassen? Sie werden das verspüren, was sie Sehnsucht und Verehrung nennen. Wenn sie die copis öffnen, werden sie ihre Art auslöschen, sendete Isis.

Wir werden ihnen ein anderes Ziel, ein neues Objekt für ihre Sehnsucht und Verehrung geben. Sollen sie einen der ihren als einen der Unseren ansehen, gab Osiris zurück.

Wir wählen den neuen Himmelskönig aus, erheben ihn in unsere Göttlichkeit. Dann folgen sie ihm. Und lassen die Unseren im Verborgenen ruhen, ergänzte Horus.

Wer ist der Erwählte?, wollte Isis wissen.

Der, den sie Menes nennen, der erste Mensch, auf den wir hier trafen. Wir verleihen ihm das, was für sie Würde und Abstammung ist, sendete Osiris.

Zeitgleich setzen wir in ihre Köpfe das, was sie als Mythos bezeichnen, neben dem hellen für die Himmelskönige geben wir ihnen einen dunklen, er lauert unter der Erde, birgt Gefahren in Form finsterer Götter, sendete er weiter.

Ändern wir ihre Erinnerungen an Sachmet, Anubis und Apophis. Sie werden sie dann als todbringend und bedrohlich fürchten. Das wird sie davon abhalten, die Überreste der Unseren aufzusuchen.

So sei es, stimmten Horus und Isis zu.

Löschen wir auch ihre Erinnerung an den Ort, an dem die Unseren ruhen, ergänzte Isis.

So geschehe es, stimmten Osiris und Horus zu.

 
Nachdem sie den Menschen Menes in die Göttlichkeit erhoben hatten, indem Osiris diesem die Atef-Krone überreichte, war ihre Mission hier beendet.

Eine Rückkehr zu diesem Ort zwecks Invasion und Übernahme war nicht vorgesehen. Sie hatten die dringend benötigten Ressourcen nur in ungenügendem Maße vorgefunden. Aber viele Informationen gesammelt, die sie den Ihren übermitteln mussten.

Begleitet vom Gesang der Menschen bestiegen sie das xu und leiteten den Abflug ein.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay / canva
Cover: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2022

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