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Ein fürchterlicher Schrei ließ Toni nachts im Bett hochfahren. Aus tiefstem Schlaf gerissen, musste er sich erst orientieren, wo er war.

Draußen herrschte ein Unwetter. Der Regen trommelte gegen das Schlafzimmerfenster der Jagdhütte, die er von seinem Onkel geerbt hatte. Das in die Jahre gekommene Häuschen stand auf einer Lichtung inmitten eines großen Waldgrundstücks. Einsam.

Die nächste Siedlung lag kilometerweit entfernt. Keine Nachbarn. Weder Spaziergänger noch Pilzsammler verirrten sich hierher, ganz so, wie sein verstorbener Onkel es als passionierter Jäger hatte haben wollen. Toni und seine Frau kamen nicht zum Jagen hierher, sondern um vom stressigen Alltag abzuschalten ... Doch jetzt fühlte sich Toni gestresst.

Hatte da eben wirklich jemand geschrien?

Er warf die wärmende Bettdecke zur Seite, setzte sich auf und lauschte. Die Bettseite neben ihm war leer.

„Claudia ...?“, rief er in die Dunkelheit des Hauses.

Dann fiel ihm ein, dass seine Frau tags zuvor zu ihrer Schwester nach Lübeck gefahren war. Sie würde erst am Sonntag zurückkehren. Toni runzelte die Stirn, horchte. Vernahm den Regen, den Wind, der um die Hütte zog und durch die Baumkronen rauschte.

Toni zuckte zusammen. War das eben nicht wieder ein Schrei gewesen?  Ein menschlicher? Oder doch von einem Tier? Sollte sich ein Wolf hier herumtreiben? Aber welches Beutetier schrie so jämmerlich wie ein in Panik geratener Mensch?

Seine Kehle wurde eng. Er schlüpfte aus dem Bett, schlich zum Fenster, schob die Gardine ein Stückchen zur Seite und spähte hinaus, um auf der nachtfinsteren Lichtung etwas zu erkennen. In diesem Moment schoss ein greller Blitz vom Himmel herunter, dem sofort ein lauter Donnerschlag folgte. Toni riss die Augen auf, denn er hatte jemanden oder etwas gesehen, dort draußen, im aufflammenden Licht des Blitzes. Oder ...?

  Ein weiterer Blitz folgte. Ließ erneut für einen Augenblick die Nacht zum Tage werden. Ja! Da war eindeutig jemand, der sich hinter einem Baum zu verbergen versuchte und offenbar sein Haus beobachtete.

Erschrocken und irritiert über diesen nächtlichen Besucher schob sich Toni hinter den Vorhang zurück, sein Herz raste, und er hoffte immer noch, dass er sich getäuscht hatte.

Daher lugte er ein weiteres Mal hinaus. Und eisige Furcht zog seine Eingeweide zusammen.

Die Gestalt war gerade dort entlanggehuscht. Von Baum zu Baum. In Richtung Haus. Schnell. Sehr schnell …  

Toni begann zu schwitzen, spürte seinen Pulsschlag im Hals pochen. Das mulmige Gefühl verstärkte sich. Er wünschte sich in diesem Moment, Claudia wäre bei ihm.

Seine Hand tastete nach der Halogentaschenlampe, die griffbereit auf der Fensterbank lag, weil in der Hütte manchmal der Strom ausfiel.

Trotz steigender Nervosität riss er sich zusammen. Ihm war klar, dass nur ein Verrückter oder ein Einbrecher auf die absurde Idee kommen könnte, sich so spät in der Nacht, dazu bei diesem Unwetter, draußen auf dem einsamen Waldstück herumzutreiben. Sein Haus zu beobachten.

Bei diesem Gedanken stellten sich Toni die Nackenhaare auf, er musste sich eingestehen, dass die Situation ihm Angst machte. Aber wehrlos war er nicht. Zur Erbschaft von Onkel Heinrich gehörten auch diverse Jagdgewehre und eine Pistole. Alle Waffen waren bestens gepflegt und funktionstüchtig, befanden sich zusammen mit vollen Munitionsschachteln im Schlafzimmerschrank. Zwar war er weder ausgebildeter Jäger wie sein Onkel noch ein so guter Schütze. Doch wenigstens könnte er sich verteidigen, wenn es brenzlig werden sollte.

Ich werde nicht abwarten, bis dieser Psycho da draußen hier einbricht!, dachte Toni.

Er holte den geladenen Revolver aus dem Schrank. Das schwere, kalte Metall in seinen Fingern gab ihm etwas Sicherheit zurück, er straffte die Schultern. Mit der anderen Hand umklammerte er die Taschenlampe, schaltete sie an und betrat den Flur, schlüpfte in seine Gummistiefel. Durchatmend zog er die Haustür auf und der eisige, nasse Wind peitschte ihm ins Gesicht, fuhr wie Krallen durch seinen Schlafanzug, ließ ihn frösteln. 

Der Strahl der Taschenlampe schnitt durch den Regenschleier und vorsichtig bewegte er sich auf die Stelle zu, wo er den unheimlichen Fremden zuletzt gesehen hatte.

Scharf sog er den Atem ein und blieb stehen, als die Gestalt jetzt hinter einer Buche in den Lichtkegel hervortrat, abwehrend eine Hand hob. Toni ließ die Waffe sinken, denn das hatte er nicht erwartet: Eine junge Frau, völlig durchnässt, ihr starkes Augen Make up war verlaufen, ihr langes Haar klebte ihr am Kopf und das tief ausgeschnittene, gelbe Kleid gab mehr von ihren beachtlichen Kurven preis, als es verbarg. War das etwa Blut, die dunklen Flecken auf dem hellen Stoff?

Sieht wie eine Nutte aus, schoss es Toni durch den Kopf. Die Frau zitterte, aber nicht nur wegen der Kälte. Nein, er bemerkte, dass sie auch vor Angst bebte, ihre großen Augen waren vor Schreck geweitet. „Sind Sie verletzt?", fragte er.

„Helfen Sie mir bitte!“, flehte sie leise und drückte sich wieder an den Baumstamm, wie, um sich zu verstecken, sie winkte Toni zu sich heran. „Kommen Sie, er darf uns nicht finden!"

Was? War ein abartiger Freier hinter ihr her? Oder ein wütender Zuhälter? Warum hier in dieser Einöde? Auf eine solche Auseinandersetzung konnte er verzichten! Toni blickte sich um, huschte dann zu der jungen Frau hinter den Baum.

„Was ist los? Wer verfolgt Sie?", raunte er ihr zu. Durch seinen regenfeuchten Pyjama spürte er die Kälte, die von ihrem Körper ausging, als sie sich wie schutzsuchend nun an ihn drängte.

„Lassen Sie uns reingehen. Der Typ sucht nach mir. Er hat auch eine Knarre, er ist gefährlich!" Ihre Stimme zitterte. „Und machen Sie die verdammte Lampe aus!", zischte sie dann.

Zu spät. Er - wer immer das auch war - hatte sie bereits entdeckt. Bevor Toni die Lampe ausknipste, war ein Mann im Lichtkegel aufgetaucht. Jetzt ragte seine Silhouette gegen das wenige Licht des Nachthimmels auf, bedrohlich. Toni schluckte, denn er hatte in der Kürze der Zeit gesehen, dass der Kerl groß war und eine Waffe auf sie richtete.

„Hände hoch, und ganz langsam vortreten!" Die tiefe Stimme klang befehlsgewohnt, hart.

„Was soll das? Warum verfolgen Sie diese Frau?", rief Toni ihm zu, und hoffte, dass er nicht so ängstlich klang, wie er sich fühlte.

„Ich bin Polizeibeamter. Treten Sie jetzt beide mit erhobenen Händen vor! Ich will Ihre Hände sehen!" Die Stimme hatte sich genähert.

„Nein! Er wird uns abknallen!", wisperte die junge Frau Toni ins Ohr.

„Warum tragen Sie keine Uniform? Können Sie sich ausweisen?", wollte Toni wissen. Er war komplett mit der Situation überfordert.

„Er ist ein Bulle, ein korruptes Arschloch!", flüsterte sie.

Gleichzeitig antwortete der Mann: „Nach Dienstschluss trage ich keine Uniform. Mein Ausweis liegt im Auto. Ich habe diese Frau auf der Landstraße aufgelesen. Während der Fahrt griff sie mich plötzlich mit einem Messer an, flüchtete. Wenn Sie nicht zu ihr gehören, treten Sie sofort von ihr weg. Und zum letzten Mal: Kommen Sie jetzt beide langsam hervor, leuchten Sie sich mit der Taschenlampe an, damit ich Sie sehen kann!"

„Nein! Fallen Sie nicht auf ihn herein. Er wollte mich umbringen!" Die Frau schluchzte unterdrückt, presste seinen Arm, drängend.

Toni schwirrte der Kopf. Das war ein Albtraum! Wer sprach die Wahrheit? Von wem ging die Gefahr aus?

„Glauben Sie ihm kein Wort!", beschwor sie ihn leise. „Er machte erst einen auf netter Cop, bis ich in seine Karre stieg. Dann bog er von der Straße ab, um mir was anzutun, hier, in diesem Wald!" Sie stieß schaudernd die Luft aus.

Das Knacken eines Astes unweit von ihnen ließ Toni die Waffe hochreißen. Die junge Frau hatte es ebenfalls gehört, denn sie schob sich hinter ihn. Er spürte an seinem Rücken, dass sich ihr Zittern verstärkte.

Toni schaltete die Taschenlampe wieder an, ließ den Strahl hektisch umhergleiten. Bis er den Mann - den Polizisten? - halb hinter einem Baum verborgen, entdeckte. Zwischen ihnen lagen nur noch Meter. Toni unterdrückte seinen heftigen Atem, doch die Hand mit der Waffe, die er auf den Fremden richtete, bebte. Er verlieh seiner Stimme Festigkeit.

„Ich werde mit ihr jetzt in die Hütte gehen und Ihre Kollegen anrufen. Die sollen das klären."

„Verdammt - haben Sie nicht zugehört? Sie ist kein unschuldiges Opfer! Kollegen von mir sind bereits unterwegs!" Er stieß einen genervten Laut aus. „Nehmen Sie jetzt die Waffe runter, bevor Schlimmeres passiert. Besitzen Sie überhaupt einen Waffenschein?"

Nein, den besaß Toni nicht. Er schluckte. Polizisten waren auf dem Weg hierher ... Wenn der Kerl dort drüben die Wahrheit sprach ...

Plötzlich wurde ihm die Pistole aus der Hand gerissen, mehrere Schüsse knallten durch die Nacht, so ohrenbetäubend laut, dass Tonis Ohren klingelten und rauschten. Oh Gott!

Er riss die Augen auf, sah, wie der Mann im Lichtstrahl zusammensackte, realisierte kaum, was soeben passiert war, die Lampe entglitt seinen Fingern. Er verkrampfte sich, stolperte ein paar Schritte zurück, stürzte über eine Baumwurzel, lag dann auf dem kalten, glitschigen Waldboden.

Schnell wie eine Wildkatze griff sich die Frau die Lampe vom Boden, richtete den blendenden Strahl direkt in sein Gesicht. Toni kniff die Augen zu, hob einen Arm in einer Abwehrgeste.

„Idiot!" Die Stimme seiner nächtlichen Besucherin hatte sich verändert. Darin war nichts Ängstliches oder Schutzsuchendes mehr.

„Ihr dämlichen Kerle fallt immer auf ein hübsches Gesicht und hasige Worte rein." Er konnte sie nicht sehen, aber ihr die ganze Verachtung anhören, auch, dass sie beim Sprechen grinste.

„Hoffe, du hast deine Wertsachen und den Autoschlüssel nicht zu gut versteckt."

Und das waren die letzten Worte, die Toni in seinem Leben vernahm, bevor zwei weitere Schüsse durch die Luft peitschten und in seiner Brust einschlugen. Greller Schmerz flammte in ihm auf.

Während er die Finger ins nasse Moos krallte, nach Atem rang, seine Körperfunktionen sich nach und nach einstellten, konnte er aus dem Augenwinkel wahrnehmen, wie sich der Lichtkegel von ihm fortbewegte.

Dann spürte er nur noch den eisigen Regen auf seinem Gesicht. Kälte. Fürchterliche Kälte. Oh, Claudia ...  Der letzte Gedanke gehörte seiner Frau, sie lächelte ihn liebevoll an, bevor sein Blick brach.

 

 

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Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 17.11.2021

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