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Seine Stimme auf der Silvesterparty zu hören war ein Schock. Ich fuhr auf der Couch herum, verschüttete Sekt auf mein schwarzes Cocktailkleid. Wirklich, da stand Gregor, begrüßte alte Bekannte. An seinem Arm hing  die aufgetakelte Blondine und strahlte wie ein Honigkuchenpferd, während er sie vorstellte.

Verdammt, warum hat Maria mir nicht gesagt, dass die beiden auch kommen? Hätte ich das gewusst, wäre ich zu Hause geblieben.

Acht Jahre waren Gregor und ich ein Paar gewesen. Bis ich dahinter kam, dass er mich über Monate mit dieser Veronika betrogen hatte.

Das war das erste Mal, dass ich meine Nachfolgerin in Natura erblickte. Allerdings wusste ich genau, wie ihr kurvenreicher Körper unter dem funkelnden Paillettenfummel aussah, denn ich hatte damals laszive Nacktbilder von ihr auf Gregors Laptop entdeckt. Das war der Anfang vom Ende gewesen ...

Der Anblick des Paares ließ mich jetzt zusammenschrumpfen wie ein Soufflé in der Kälte. Dabei hatte ich - bis sie auftauchten - gerade angefangen, mich nach zwei Gläsern Sekt und einem netten Gespräch zu amüsieren.

Ich sprang vom Sofa auf und flüchtete aus dem Raum in die überfüllte Küche. Schob mich durch die plaudernden, essenden und lachenden Leute. Neben der Tür zur Terrasse bezog ich Stellung, um sofort nach draußen verschwinden zu können, sollten mein Ex und Blondie auftauchen. Keinesfalls wollte ich mit Gregor zusammentreffen oder sprechen, dazu war ich nicht bereit. Denn statt der alten Vertrautheit und Nähe würde er mir nur wieder Oberflächlichkeit und diese leicht arrogante Abgeklärtheit entgegenbringen. Darauf konnte ich verzichten. Übelkeit stieg in mir auf, die nichts mit meinem leeren Magen zu tun hatte.

Jeder Mensch hat in seinem Herzen eine Leere, eine Wunde, ein Gefühl von Verlassensein und Einsamkeit. Und die Wunde in meinem Herzen, die dieser Mann mir beigebracht hatte, war tief. Eine Wunde, die noch immer in meiner Seele klaffte und sich nicht schließen wollte.

Die Trennung hatte mich letzten Dezember komplett überrumpelt. Ich hatte zuvor keinerlei Signale wahrgenommen, nicht den geringsten Verdacht gehabt, dass etwas nicht in Ordnung war. Denn Gregor hatte mir, während er sich mit seiner Affäre nach und nach emotional aus unserer Beziehung abseilte, die ganze Zeit noch heile Welt vorgespielt. Die Entdeckung der Nacktfotos war für mich ein überraschender Hieb gewesen. Ein Knock-Out. Ich hatte nur nach der Telefonnummer des Hausmeisters gesucht, da die Heizung ausgefallen war.

Neben den Bildern existierten auf seinem PC auch eine Menge verliebter und anzüglicher Nachrichten, über Monate ausgetauscht wie die Körpersäfte ...  Ich stellte ihn zur Rede und er ließ die verbindliche Maske fallen. Seine kühle, ohne Reue vorgebrachte Erklärung, er habe sich halt verliebt, es sei einfach so passiert, ließ mich nach Atem ringen. Als ich ihn bat, uns noch eine Chance zu geben und in Tränen ausbrach, fügte er hinzu: „Es ist für alle Beteiligten das Beste, wenn du möglichst bald ausziehst". Das hatte mir den Boden unter den Füßen weggesprengt.

Da es seine Wohnung war, hatte ich mir auf die Schnelle eine neue Bleibe suchen müssen. War nur wenige Wochen später umgezogen, aber nicht zur Ruhe gekommen. Hatte Gewicht verloren, schlecht geschlafen, war zur Arbeit gegangen, aber kaum noch unter Leute. Meine Freundinnen hatten versucht, mich aufzubauen und zu trösten, allen voran Maria. Wie hatte gerade sie über Gregor gewettert, ihn mit übelsten Schimpfwörtern bedacht! Und nun lud sie ihn samt dieser Veronika zu ihrer Silvesterparty ein ...  Dabei war ich endlich aus meinem Schneckenhaus gekrochen, in Erwartung, hier auf Menschen zu treffen, die ich schätzte oder mit denen mich zumindest keine negativen Erinnerungen verbanden ...

In diesem Moment schwebte meine Freundin auf hohen Absätzen in die Küche, sehr schick in ihrem engen kirschroten Samtkleid. Sie öffnete den Kühlschrank, entnahm ihm zwei Sektflaschen. Ich trat auf sie zu.

„Warum sind Gregor und seine Neue hier? Das hättest du mir sagen müssen!", wollte ich wissen.

Sie verzog die rotgeschminkten Lippen zu einem Lächeln. „Ach, hab dich nicht so. Dann wärst du ja nicht gekommen. Die Sache ist lang genug her. Entspann dich, genieß die Party, flirte ein bisschen." Ich spürte Wut in mir aufsteigen, wie konnte sie - meine beste Freundin - so etwas sagen?

„Ich soll mich entspannen? Flirten? Hast du ihn nicht als größtes Arschloch auf Erden bezeichnet? Und sie als billiges Flittchen? Und jetzt lädst du sie ein?" Meine Stimme war zu laut geworden, einige wandten uns die Köpfe zu. Marias Mund wurde ein Strich, ihre Miene verfinsterte sich.

„Komm runter, Theresa!", zischte sie mich an. Sie beugte sich mir entgegen, sodass mich ihr blumiges Parfüm einhüllte und fuhr etwas milder fort: „Ja, als das rauskam mit den beiden, da war ich auch sauer. Du bist meine Freundin, natürlich hat mich das aufgeregt. Aber wie gesagt, das ist eine Weile her. Du musst endlich damit abschließen. Tom und ich sind mit euch beiden befreundet. Greg ist es Ernst mit Vroni, im Januar heiraten sie, er hat uns zur Hochzeit eingeladen." Sie tätschelte mir kurz die Schulter, zauberte wieder ein strahlendes Gastgeberinnenlächeln in ihr Gesicht. „Es sind einige attraktive Singles hier. Amüsier dich!" Damit stöckelte sie mit den Sektflaschen aus der Küche. Ließ mich einfach stehen. Mir klappte der Mund auf vor Fassungslosigkeit. Und Empörung.

Sie hatte mich Theresa statt Resi genannt. Und Gregor und Veronika waren Greg und Vroni. Deutlicher hätte sie die Umgewichtung ihrer Wertschätzung nicht ausdrücken können. War unsere lange Freundschaft auch am Ende? Hatte sie mich nur noch aus Pflichtgefühl eingeladen? Das tat alles so weh.

Im Januar feiern sie Hochzeit ... Zu mir hat er all die Jahre gesagt, Heiraten und Kinderkriegen wäre nur was für Spießer ...

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, hielt es in der warmen, verbrauchten Luft der Küche nicht mehr aus, ertrug keinen Moment länger das Stimmengewirr und die fröhliche Aufgekratztheit um mich herum.

Darum zog ich eine geöffnete Sektflasche aus dem Kühler und verschwand durch die Terrassentür nach draußen. Die frostige Winterluft fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht, biss mich in die unbekleideten Arme und Beine. Tief atmete ich sie ein, es brannte in der Lunge.

Auf der mit Lichterketten erhellten Terrasse hatten Maria und Tom Stehtische aufgestellt, darauf flackerten Kerzen in Windlichtern. Ich fröstelte, setzte die Flasche an. Der Sekt prickelte so heftig in meiner Kehle, dass ich mich fast verschluckte.

Hatte Maria Recht? Sollte ich mich zusammenreißen, so tun, als hätte ich mit der unschönen Vergangenheit abgeschlossen und einfach mit Gregor und Sexy-Vroni Smalltalk machen, wenn wir aufeinandertrafen? Niemals. Außerdem war ich eine miserable Schauspielerin, zu ehrlich in allem, was ich sagte und tat.

Aber war ich so weit, endlich jemand Neues in mein Leben zu lassen? Wollte ich einen der angeblich attraktiven Singlemänner kennenlernen? Diesmal überlegte ich einen Augenblick länger. Nein, entschied ich. Nicht auf Krampf. Nicht hier, wo mein Ex mit Anhang jederzeit neben mir auftauchen konnte. Ich bibberte vor Kälte. Meine Haut zog sich schmerzhaft zusammen.

Sollte ich überhaupt bleiben? Die Silvesternacht war noch jung genug, um ein Taxi zu bekommen. Ich könnte eins rufen und verschwinden.

In dem Moment fiel mein Blick auf zwei Gasflaschen und einen Karton neben einem der Stehtische. Goldene Luftballons waren darin, wie ich beim Inspizieren der Kiste feststellte. Die mussten noch mit Gas gefüllt und an den Bändern befestigt werden. 

Auf dem Tisch lagen Stifte und dünne Karten mit Loch. Sowie eine Anweisung. In Marias Handschrift las ich: „Make a wish! Schreib deinen sehnlichsten Wunsch für das kommende Jahr auf und lass ihn in den Himmel steigen! Maybe it will come true."

Mein Gott, war das kitschig. Genau das Richtige für die lustige, oberflächliche Partygesellschaft, die sich drinnen gerade volllaufen ließ. Ob die das Prozedere mit den Ballons später, mit besoffenem Kopf, überhaupt noch hinkriegten? Oder würden sie das Helium nur einatmen, um sich über ihre albernen Stimmen totzulachen?

Das war alles so frustrierend. Wieder setzte ich die Flasche an und trank. Verschluckte mich diesmal wirklich und hustete kurz. Wenn Barbie-Vroni die Luftballon-Aktion entdeckte, würde sie sicherlich notieren: „Bitte, bitte, lass mich bald schwanger werden, damit ich nicht mehr als Zahnarzthelferin arbeiten muss!"

Ich gluckste, ehe daraus ein leises Schluchzen wurde, das mich schüttelte, gar nicht mehr aufhören wollte. Nein, Gehässigkeit half mir nicht. War kein Balsam. All diese boshaften Gedanken waren sinnlos. So war ich doch eigentlich gar nicht ... Warum sollte die andere auch nicht ans Kinderkriegen denken, mit dem Mann, den sie liebte und heiratete? Ich schluckte.

Verdammt, ich hatte mir auch sehnlichst einen Antrag von Gregor gewünscht und mit ihm ein Baby bekommen wollen. Meine Augen füllten sich mit Tränen.

Aber mit mir hatte er solche Zukunftspläne nicht geschmiedet.

Einem Impuls folgend trat ich an den Stehtisch, nahm ein Kärtchen und schrieb: Hallo. Ich bin hier gerade auf einer Silvesterparty, überraschend tauchte auch mein Ex auf. Mit der zehn Jahre Jüngeren, gegen die er mich vor einem Jahr ausgetauscht hat. Mit der er glücklich ist und die er im Januar heiraten wird. Fühlt sich nicht gut an. Nein, fühlt sich mehr als mies an. Ich stehe hier allein draußen in der Kälte, zittere, aber innerlich ist mir noch kälter. Ich drehte die Karte um, da die erste Seite winzig klein vollgekritzelt war, schrieb auf der Rückseite weiter.

Ich weiß, ich klinge wie eine verbitterte Mittdreißigerin, die sich selbst bemitleidet. (Und die bin ich auch gerade.) Bestimmt denkst du: Mensch, was geht mich das an? Krieg dein Leben in den Griff. Und du hast Recht. Aber ich hoffe, dass mit diesem Ballon etwas von der Traurigkeit in den Himmel steigt, mich verlässt und wegbleibt. Falls du trotz meiner desolaten Vorstellung (ich kann auch witzig sein! Echt!!) mal Lust hast, mit mir einen Kaffee zu trinken, meld dich: Theresa Meister, Finkenweg 5, 50765 Köln."

Ich blies die Wangen auf, zog meine Augenbrauen in die Höhe. War ich betrunken? Keine Ahnung, aber ich füllte einen Ballon mit Gas, knotete ihn zu, befestigte dann die Karte.

Make a wish ... 

Zitternd ließ ich die Goldkugel steigen, und während ich ihren Weg in den Sternenhimmel mit den Augen verfolgte, beobachtete, wie sie immer kleiner wurde, wünschte ich mir, dass das neue Jahr etwas mehr Fröhlichkeit und Glück für mich bereithielt. Wirklich ein Teil des Leids aus mir hinaus mit dem Ballon in die Nacht entschwand. Ich prostete dem Pünktchen zwischen den Sternen zu, trank den eiskalten Sekt. Dann war es verschwunden.

Kopfschüttelnd über mich selbst stellte ich die fast leere Flasche ab und eilte hinein in die Wärme. Vorbei an den erhitzten Gesichtern, den Plappernden und Tanzenden. Aus dem Augenwinkel nahm ich Gregor und Veronika wahr, ihr Kleid glitzerte im Halbdunkel, aber sie drehten mir die Rücken zu. Ich erreichte die Garderobe, griff meinen Mantel, schlüpfte hinein. Zog die Haustür auf und floh in die Nacht. Auf der Straße hielt ich mir ein Taxi an und fuhr heim.

 
Vier Tage darauf kam ich abends von der Arbeit nach Hause. Wie immer öffnete ich unten im Treppenhaus meinen Briefkasten, zog die Post heraus. Rechnungen. Ein Flyer. Und ein Brief ... Kein Absender stand darauf. Aufregung erfasste mich. Hatte wirklich jemand den Ballon gefunden und mir geantwortet?

Ich eilte die Stufen hinauf in meine Wohnung, setzte mich an den Tisch und riss den Umschlag auf.

 

„Hallo Theresa, wirklich ein mieses Silvester, dass du da beschreibst. Mein letzter Abend des Jahres war gemütlich, aber eher langweilig. Deinen Ballon fand ich am Neujahrsnachmittag im Garten nebenan, in einem Apfelbaum. Besser gesagt entdeckte ihn mein 88-jähriger Nachbar. Gut, dass er schon zu klapprig ist, um selbst in die Äste hochzusteigen, und mich dafür rausklingelte, sonst hätte der Miesepeter mir das Date weggeschnappt. : ) Denn ich möchte sehr gerne mit dir Kaffee trinken und mich davon überzeugen, dass du witzig sein kannst. Rufst du an?" Ich grinste. Es folgte eine Handynummer. Unterschrift und PS ließen mich versteinern, den Atem anhalten. Matthias Lampe.

PS: Bist du die Terry aus Rösrath?? Das wäre ein unglaublicher Zufall ... Dann bist du auf jeden Fall lustig und cool ...

 
Meine Augen weiteten sich. Das konnte doch nicht wahr sein ... Matthias ... War das echt mein Kumpel aus Jugendtagen? War es Schicksal, dass der Ballon genau diesen Weg nahm, zum zwanzig Kilometer entfernten Rösrath? Wohnte er immer noch dort, wo wir aufgewachsen waren, dieselbe Klasse besucht hatten? Er war mein bester Freund gewesen. Bis ich nach dem Abi für das Studium unsere Kleinstadt verließ, der Kontakt irgendwann einschlief.

Eine ganze Armada von Erinnerungen segelte durch meinen Kopf. An den schlaksigen Jungen mit Brille, der unter Akne litt. Zu allem und jedem einen Gag reißen konnte. Seine blauen Augen, die humorvoll und intelligent hinter den Brillengläsern blitzten. Wir hatten viel Zeit zusammen verbracht. Und was hatten wir für Mist gebaut! Vor allem in der Schule. Und nach dem Unterricht darüber gelacht, wenn unser Lehrer uns streng mit "Meister, Lampe, herkommen" zu sich zitiert und einen Einlauf verpasst hatte. Unsere ersten Erfahrungen mit Alkohol hatten wir gemeinsam gemacht - ich hatte schlimm spucken müssen und er mich nach Hause gebracht. Als ich mich in einen Jungen verliebte und von ihm abserviert wurde, hatte Matse mich getröstet wie eine beste Freundin ...

Mir war heiß. Ich schälte mich aus meiner Winterjacke. Zog mit bebenden Fingern das Handy hervor. Zögerte. Dann bist du auf jeden Fall lustig und cool ..., hatte er geschrieben. War ich das überhaupt noch? Was war übrig von der selbstbewussten Terry von damals? Wir hatten uns das letzte Mal vor fünfzehn Jahren gesehen. Lang her ... Würde er enttäuscht sein von mir, wenn wir aufeinandertrafen?

Ich wischte den Gedanken beiseite. Wenn er noch der gleiche Matse wie in unserer Kinder- und Jugendzeit war, dann musste ich keine Bedenken haben, ihn anzurufen. Mit diesem Gefühl, aber starkem Herzklopfen, tippte ich die Nummer ein und hob das Telefon ans Ohr. Er meldete sich nach dem vierten Läuten. Begrüßte mich freudig. Seine vertraute - jetzt männlichere - Stimme zu hören, trieb mir die Tränen in die Augen, zauberte aber auch ein Lächeln auf mein Gesicht. Wir telefonierten über eine Stunde, es war ganz leicht. Kein Stocken, keine unangenehmen Pausen. Und auch kein Zwang, unterhaltsam zu sein. Zwischendurch wurde er ernst, als ich fragte, ob er die ganze Zeit in Rösrath geblieben war.

Ich erfuhr, dass er letztes Jahr zurück in sein Elternhaus gezogen war. Nach dem plötzlichen Tod seiner Mutter.

„Oh, das tut mir furchtbar leid!", sagte ich mit einem Kloß im Hals. Seine Mutter war eine tatkräftige, warmherzige Frau gewesen.

„Hat alle in der Familie schwer getroffen, aber besonders Paps. Er hatte einen Schlaganfall, braucht Hilfe, auch wenn er das nicht zugibt, kennst ihn ja. Einen Pflegedienst würde er nicht ins Haus lassen, er ist noch sturer als früher. Meine Freundin hatte kein Verständnis dafür, dass ich zu ihm zog. Sie hat Schluss gemacht. Keine Lust auf Wochenendbeziehung." Das klang bitter. Ich murmelte etwas Mitfühlendes und meinte es auch so.

Doch er fasste sich rasch, wechselte das Thema. „Aber gut ist, dass ich hier gleich eine Stelle bekam."

„Wo denn?", fragte ich.

„In unserer alten Grundschule. Ich bin Lehrer."

Ich musste lachen. „Du und Lehrer? Der Bock als Gärtner! Du hast sie früher alle in den Wahnsinn getrieben!" Er lachte auch.

„Ja, mit dir zusammen, das Team Meister Lampe. Aber vielleicht  hab' ich deshalb viel Verständnis für Klassenkasper und Kinder, die nicht so sind wie die anderen."

Das konnte ich mir vorstellen. Er war bestimmt ein wunderbarer Lehrer.

Wir beendeten das Telefonat, nachdem wir uns für den nächsten Nachmittag in einem Café hier in Köln verabredet hatten.

 
Obwohl ich mich wirklich auf das Treffen freute, verspürte ich auch eine gewisse Unsicherheit. Darum verwendete ich mehr Zeit als sonst auf mein Äußeres.

Der Verkehr war die Pest, deshalb erschien ich mit zehn Minuten Verspätung im Café, schaute mich suchend um. Entdeckte ihn nicht.

Vielleicht steckte er auch noch im Stau ... Da erhob sich ein Mann von einem der hinteren Tische und winkte mir zu. Ich kniff leicht die Augen zusammen, sah mich kurz um, ob er jemand anderen meinen könnte. Aber da war niemand. Das musste er sein, auch wenn er auf den ersten Blick wenig Ähnlichkeit mit dem Jungen von damals hatte. Ich war komplett verblüfft. Er war nicht mehr schlaksig, wie erwartet, sondern unter dem engen Pullover zwar schlank, aber gutgebaut. Und er trug keine Brille. Ich schritt auf ihn zu. Beim Näherkommen erst entdeckte ich das Vertraute in seinen Zügen, das humorvolle Funkeln in den blauen Augen. Vor ihm blieb ich stehen. Wow, wie hatte er sich rausgemacht! Er schien meine Gedanken zu lesen.

„Hast mich nicht erkannt, was? Ich trag' jetzt Kontaktlinsen, weil ich viel Sport treibe."

Er lächelte, strahlte etwas Rührendes, Anziehendes aus, einen schlichten Charme, als sei er sich seines guten Aussehens gar nicht bewusst. Er hatte so etwas Ehrliches, Wohltuendes. Die Umgebung und die Geräusche waren ausgeblendet. Für einige Sekunden waren wir in totaler Eintracht verbunden. Ein Staunen, ein Lebensinstinkt. Seelenverwandte, die einander wiedererkannten.

„Mensch, Terry! Du siehst genauso toll aus wie früher", brach er das Schweigen und zog mich fest in seine Arme. „Schön, dass du da bist", murmelte er in mein Haar.
  Und in diesem Moment veränderte sich etwas. Ein Schauer durchrieselte meinen Körper, ließ meinen Magen sich zusammenziehen, mein Herz schneller schlagen. Aber neben der Aufregung fühlte es sich an wie Nachhausekommen. Egal, was das mit uns wurde, Freundschaft oder mehr: Es würde etwas Gutes sein. Ich spürte es ganz genau. Etwas Neues, etwas Wunderbares begann.

Wünsche und Hoffnungen können wahr werden. Man muss nur fest daran glauben.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: canva/ bearbeitet von U. Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 31.12.2021

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