Der silbergraue Aston Martin schoss durch die verregneten Straßen Londons. Der Wagen kam in einer Kurve leicht ins Schlingern, ehe der Fahrer ihn wieder unter Kontrolle hatte. James Ward fuhr häufiger so waghalsig. Man konnte ihn als ziemlich heruntergekommenen Säufer bezeichnen. Früher war er ein angesehener Mann gewesen, ein hochdekorierter Offizier der Royal Navy und gerngesehener Gast auf Empfängen.
Bis sich dieser schreckliche Unfall ereignete, der sein Leben aus den Fugen riss. Seine Schwester Helen kam auf grauenvolle Art zu Tode und Ward gab sich selbst die Schuld daran, denn er hatte sie zu dem Skiurlaub überredet und dann gedrängt, mit ihm die gefährliche Piste hinabzurasen.
Seinen Kummer betäubte er seitdem mit Hochprozentigem und Tabletten, was letztendlich dazu geführt hatte, dass er bei der Navy wegen seiner Alkoholeskapaden unehrenhaft entlassen worden war.
Alles, was er noch besaß, waren der teure Sportwagen, das kleine Detektivbüro im Stadtteil Brixton, in dem er auch schlief, sowie dreitausend Pfund, der Rest der Anzahlung, die er von seinem aktuellen Klienten erhalten hatte. Ein paar Tausender waren für James Ward inzwischen eine Menge Geld, aber die Aussicht auf weitere 90.000 ließen ihn Hoffnung schöpfen, dass es das Schicksal endlich wieder besser mit ihm meinte.
Seit er sich mehr schlecht als recht als Privatdetektiv durchs Leben schlug, hatte er noch keinen derart lukrativen Auftrag erhalten wie diesen. Und so einfach zu erledigen obendrein. Er hatte etwas finden und beschaffen sollen. Nicht etwa den Schatz der Azteken oder den Heiligen Gral, nein, nur ein plumpes, altes Buch. Und das lag nun, stilvoll in ein cremefarbenes Leinentuch eingewickelt, auf dem Beifahrersitz.
Sein Auftraggeber war äußerst reich, er bewohnte eine prachtvolle Villa mit Parkanlage und Dienstboten in einer der vornehmsten Gegenden Londons.
Dorthin war Ward jetzt unterwegs, ausnahmsweise völlig nüchtern.
In Gedanken war er bald auf Barbados, wo er in seinen guten Zeiten einmal herrliche Wochen verbracht hatte. Er sah sich am Karibikstrand sitzen, in jedem Arm eine rassige Schönheit, eine Zigarre im Mund und ein Glas mit exquisitem Rum in der Hand. An solch einem Ort ließ es sich aushalten, und mit dem Batzen Geld, der ihm gleich ausgehändigt werden sollte, war das sogar für längere Zeit möglich. Vielleicht würde er auf der Insel bleiben, eine kleine Detektei eröffnen oder irgendetwas anderes auf die Beine stellen. Voller Vorfreude auf die verheißungsvolle Zukunft erreichte er das Anwesen seines Auftraggebers Edmond A. Leeberg.
Nachdem er geparkt und das Buch in seinem Aktenkoffer verstaut hatte, lief er mit federnden Schritten auf das Portal des Herrenhauses zu und läutete. Reynolds, der Butler, öffnete die Tür, stand kerzengrade in seiner Livree, er strahlte würdevolle Unnahbarkeit aus, verneigte sich leicht. Eins muss man dem blasierten Kerl lassen, dachte Ward, Stil hat er.
„Master Edmond erwartet Sie, Sir."
Auch Ward deutete eine Verbeugung an, allerdings konnte er den Spott nicht überspielen, als er am Diener vorbei in die Empfangshalle schritt.
„Hier entlang, bitte. Der Master empfängt Sie in der Bibliothek. Und er ist voll der Hoffnung, dass Sie gefunden haben, wofür er sie beauftragt hat.“
„Natürlich habe ich das. Was wäre ich für ein Mann, wenn ich das nur behaupten würde?“
„Der Mann, für den ich Sie halte", murmelte der Butler kaum hörbar. Ward ignorierte die unverschämte Bemerkung. Immerhin würde er in wenigen Minuten um fast hunderttausend Pfund reicher sein. Was juckte ihn da das dumme Gerede eines Dienstboten.
Er setzte ein gewinnendes Lächeln auf, als er die Bibliothek betrat, doch er wähnte sich allein und sein Lächeln erlosch. Hoffentlich lässt mich der Upper-Class-Schnösel nicht lange warten, dachte er und blickte sich in dem Raum mit der hohen Stuckdecke um. Alles darin zeigte den Wohlstand und erlesenen Geschmack von Generationen. Es roch nach altem Papier, in der Luft hing auch ein Hauch von Zigarrenrauch und Whisky, letzterer ließ das Verlangen nach Alkohol in Ward aufsteigen, das er zurückdrängte. Später!
Die Wände waren bedeckt mit Regalen. Gott, so viele Bücher! Wahrscheinlich bildete diese Sammlung ein unschätzbares Vermögen, vor allem, wenn man bedachte, welche Summe der Besitzer bereit war, allein für ein einziges Buch hinzublättern.
Neugierig bewegte er sich am Kamin und den Ledersesseln vorbei, den Kopf leicht zur Seite geneigt, um die Titel der besonders alt aussehenden Werke besser lesen zu können. Viele waren in einer fremden Sprache oder mit unbekannten Schriftzeichen beschrieben, sodass er nicht erkennen konnte, um welche Art Literatur es sich handelte.
Vor einem Regal blieb er abrupt stehen, denn er meinte, ein kaum vernehmbares Wispern zu hören. Sein Blick sog sich an einer Reihe ledergebundener Bücher fest, obwohl sie weder auffällig aussahen noch einen Titel trugen, aber es war ihm einfach nicht möglich, die Augen von ihnen abzuwenden, besonders von dem einen. Mit einem Mal erfasste ihn Schwindel, seine Sicht wurde unscharf, die Umgebung verblasste, das seltsame Flüstern und Raunen steigerte sich und plötzlich fühlte sich Ward, als wäre die Zeit angehalten worden und er ganz allein auf der Erde. Alles hatte auf einmal seine Bedeutung verloren, die Welt, das Leben, sogar das viele Geld, das er in wenigen Augenblicken besitzen würde.
„Faszinierend, nicht wahr, Mr. Ward?“
Der erwachte schlagartig aus seiner Versunkenheit, blinzelte kurz. Neben ihm stand sein Auftraggeber, die schlanke Gestalt in elegantes Schwarz gekleidet, das längere dunkle Haar zu einem Zopf zusammengebunden. Ward hatte ihn nicht kommen gehört, der Mann musste schleichen wie eine Katze.
„Guten Abend, Mr. Leeberg.“
Der Hausherr nickte und lächelte.
„Sie haben das Buch, das ich begehre, gefunden?“
„Korrekt. War nicht leicht, es aufzuspüren.“
Eine glatte Lüge. Es war sogar äußerst einfach gewesen. Bei einer Internet-Auktion hatte er es entdeckt und ersteigert. Sein Gebot, das ihm den Zuschlag gegeben hatte, war ihm gering erschienen in Anbetracht des Wertes, den das Buch für sein Gegenüber hatte.
„Verblüffend, wie rasch Sie das geschafft haben.“
Das Internet ist eine wundervolle Erfindung, man muss nur damit umgehen können, dachte Ward.
„Wäre es Ihnen lieber, wenn es länger gedauert hätte?“
„Nein, nein, keinesfalls. Was ich zum Ausdruck bringen wollte: Ich suche schon sehr lange danach, viele Jahre, und Sie finden es binnen weniger Wochen.“
Innerhalb weniger Tage, ging es Ward durch den Kopf, ich bin nur nicht sofort angetanzt, damit es dir die vereinbarte Summe auch wert ist ...
Außerdem war er neugierig gewesen auf ein Buch, das derart kostbar sein sollte. Er hatte es mehrmals durchgeblättert und versucht, ein paar Seiten in der altertümlichen Schrift zu entziffern, aber das, was er überhaupt verstanden hatte, war letztendlich nichts weiter als ausgemachter Blödsinn gewesen.
„Nun gut. Wo ist es?“ In den dunklen Augen seines Gegenübers funkelte jetzt eine Gier, wie sie Ward bei keinem anderen Menschen zuvor gesehen hatte.
Er hob den Koffer ein wenig an und klopfte darauf.
„Was, Sie tragen es bei sich?“ Leeberg hob die Augenbrauen. Dann lachte er leise.
„Haben Sie auch die vereinbarte Summe hier?“
„Am Geld soll es nicht liegen, mein Bester. Allerdings möchte ich mich zuerst davon überzeugen, dass es das Richtige ist.“
„Kein Problem.“ Ward stellte den Koffer auf einen kleinen Beistelltisch und klappte ihn auf. Leeberg setzte sich in den Ohrensessel daneben und starrte wie gebannt auf das Bündel, das sein Besucher hervorholte. Der Hausherr kniff ein wenig die Augen zusammen. Runzelte die Stirn.
„Was, bitte, soll das sein?“
„Genau das, was Sie mir beschrieben haben!“
„Nein! Es ist viel zu klein.“
„Sie haben es ja noch gar nicht angeschaut." Ward wickelte das Buch aus und reichte es dem Mann. Der kämpfte scheinbar darum, die Beherrschung zu wahren. Endlich streckte er die Hände aus, nahm das in Leder gebundene Werk entgegen. Der Titel, Grand Grimoire, war in verschnörkelter Schrift in den Buchdeckel geprägt. Leeberg blätterte lustlos darin, warf es dann auf den Tisch.
„Es ist das Falsche. Was für eine Enttäuschung!"
„Wenn Sie eine andere Ausgabe wollten, hätten Sie das sagen müssen.“
„Ausgabe?“, fuhr Leeberg auf. Jetzt verlor er doch die Fassung. „Ich orderte keine bestimmte Ausgabe, sondern das Original. Verstehen Sie?!“
„Und genau das habe ich Ihnen besorgt“, versicherte Ward mit Nachdruck, griff nach dem Buch und schlug es auf.
„Der Autor hat es sogar signiert, hier, sehen Sie?“
Leeberg hatte sich eine Hand über die Augen gelegt.
„Signiert?“, flüsterte er, teils belustig, teils verärgert.
„Ja. Alibek, der Ägypter, höchstpersönlich."
Ward sah seine Felle davonschwimmen, daher bediente er sich erneut einer Lüge. „Ich habe mich mit verschiedenen Experten getroffen, das Buch auf sein Alter und die Signatur prüfen lassen."
Der andere blickte auf. Verachtung stand in seinen Zügen. „Experten?" Er spuckte das Wort aus wie einen schlechten Geschmack. „Alibek hat keine Signaturen hinterlassen. Das ist ein okkulter Abklatsch.“
„Nein, ich versichere Ihnen: Dieses Buch ist das Original“, beharrte Ward mit einem Lachen. Es klang etwas gezwungen. „Sir, ich belehre Sie ungern, aber dies ist exakt das, was sie bestellt haben."
Und ansonsten nichts als eine nette, gruselige Bettlektüre, dachte er insgeheim weiter, und jeder, der ihm mehr zuspricht, hat offenbar den Sinn für die Realität verloren.
Leebergs Augen verdunkelten sich bei seinen Worten, aber sonst zeigte er keine weitere Regung. Er starrte Ward mehrere Augenblicke schweigend an. Dann sagte er ruhig: „Drei Hunderter, mehr ist es nicht wert. Ein Sammler würde vielleicht etwas mehr dafür bezahlen, weil es aus dem vorletzten Jahrhundert stammt. Für mich ist es jedoch absolut wertlos.“
Es klang endgültig. Das hatte Ward nach Leebergs erster Reaktion befürchtet. Selbstverständlich hatte er sich darüber schlaugemacht, was genau er suchen sollte. Das Grand Grimoire bestand aus zwei Teilen. Der erste enthielt neben der im Mittelalter weit verbreiteten Alltagshexerei auch Formeln zur Anrufung von Geistern, Flüche, Zauber - und Bannsprüche. Im zweiten Band, den Leeberg wünschte, folgten noch mächtigere Dämonen-Beschwörungen, die Anleitung zur Erweckung von Toten und der Pakt mit Luzifer. Das Gesamtwerk war auch unter dem Namen „Der rote Drache“ und das „Evangelium des Satans“ bekannt und angeblich 1750 unter dem Grabstein Salomons entdeckt worden. Laut einer Legende basierte es auf den Schriften des Honorius von Theben, von dem es hieß, er wäre zu jener Zeit von Satan persönlich besessen gewesen. Durchaus interessant, aber wer glaubte schon solch haarsträubenden Unsinn!
„Eine Fälschung, deshalb gelangten Sie derart rasch daran", sagte Leeberg. „Selbst, wenn diese etwas besser gemacht ist als manch andere, die mir bisher unter die Augen kam: Haben Sie allen Ernstes angenommen, dass ich darauf hereinfallen würde, Sie mich übervorteilen könnten? Dann müsste ich an Ihrem Verstand zweifeln.“
„Sie unterstellen mir Betrug? Das ist die Höhe! Ich habe Ihren Auftrag gewissenhaft erfüllt“, muckte Ward auf, verschränkte die Arme vor Brust und schaute zur Decke. Bis er sich selbst dabei ertappte, dass er wie ein übergroßes Kind wirkte, dem man sein Spielzeug nicht geben wollte. Rasch löste er seine Arme wieder.
Stille lag wie ein schweres Tuch über der Bibliothek. Dann erhob sich der Hausherr mit kühler Miene. „Genug jetzt, Sie haben versagt."
Ward versteifte sich, presste die Kiefer zusammen, schaffte es nicht, seine Enttäuschung, auch die aufsteigende Wut, zu verbergen. Die Zeit für Höflichkeiten war vorbei.
„Verdammt“, zischte er. „Ich brachte Ihnen genau das, was Sie verlangt haben, und nun weigern Sie sich, zu zahlen, Sie ..."
Er schluckte das Schimpfwort hinunter, das ihm auf der Zunge lag, und zeigte auf das verschmähte Buch auf dem Tisch.
„Meine ehrliche Meinung? Das ist Schrott, Humbug. Allein der Name: Alibek, der Ägypter, die Bücher über die Mächte der Finsternis, dass ich nicht lache! Das ist doch alles nur erfunden. Aber genau wie Sie fielen schon damals viele Menschen auf solchen Quatsch herein, und deshalb brachte man so etwas auf den Markt.“
Leebergs Mund verzog sich zu einem nachsichtigen Lächeln, aber seine Augen blieben kalt.
„Armer, alter Narr“, sagte er leise.
„Was sagten Sie gerade?“
„Ich nannte Sie einen armen, alten Narren. Sie und den Rest der ach-so-vernünftigen Menschheit. Ansatzweise haben Sie sogar recht. Ja, es wurde ein großer Wirbel um dieses Grimorium gemacht, Sehnsüchte genährt, Verlangen und Machtgelüste geschürt - aber mit unbrauchbaren Fälschungen. Doch ist Ihnen bekannt, was dem Ägypter als Vorlage für das echte Werk gedient hat?“
„Sein krankes Hirn.“
Leeberg lachte auf.
„Oh, meinen Sie? Ich weiß es besser. Das ist nichts weiter als ein Zeichen bei den Schwachen.“
„Von was, zur Hölle, reden Sie eigentlich?“
Das amüsierte Lächeln des Mannes verwandelte sich in etwas Härteres, Lauerndes, das Ward ein Schaudern über den Rücken jagte.
„Der Begriff Hölle trifft es einigermaßen, nur, dass diese, wie der gewöhnliche Christ sie sich vorstellt, im Vergleich zu dem, wovon ich spreche, recht harmlos erscheint. Ich rede von viel Schlimmerem als der Hölle. Von etwas, dass Sie nicht begreifen könnten, ohne den Verstand zu verlieren, das wusste Alibek. Er war in den Besitz von Fragmenten der Urschrift des Honorius von Theben gelangt, wenn auch recht unvollständigen. Aber dass er Einblick in die wahren, inzwischen verschollenen Urmanuskripte hatte, das weiß ich von ihm selbst.“
„Bitte? Sie sind doch höchstens vierzig Jahre alt. Wie hätten Sie mit diesem Ägypter vor über hundert Jahren Kontakt aufnehmen können?“
„Das spielt keine Rolle. Fakt ist: Sie brachten mir nicht das, was ich von Ihnen erwartete.“
Der ist komplett verrückt! Zeit für meinen Abgang, entschied Ward. Bevor ihm noch einfällt, die Anzahlung zurückzuverlangen. Eine kleine, letzte Spitze konnte er sich nicht verkneifen: „In Ordnung. Dann werden Sie trotzdem glücklich mit diesem Schmöker. Aber probieren Sie besser keinen der Zaubersprüche darin aus, nicht, dass Sie versehentlich das Tor zur Unterwelt öffnen. Leben Sie wohl."
Er griff nach seinem Koffer und eilte zum Ausgang der Bibliothek. Als er die Tür erreichte, schlug diese wie von Geisterhand geführt zu und ließ sich nicht öffnen. Vergeblich rüttelte Ward an der Klinke, er wirbelte herum.
„Was, zum Teufel, soll das? Hat Reynolds abgesperrt?“
Der Hausherr grinste ihn nur boshaft an.
„Merkwürdig, dass Sie eben das Tor zur Unterwelt erwähnten. Sagen Sie, haben Sie zufälligerweise eine der Beschwörungen in dem Buch angewendet?“
Ward erstarrte. Ja, er hatte tatsächlich eine bestimmte Beschwörung entziffern können und durchgeführt, weil er von einem winzigen Funken Hoffnung beseelt gewesen war. Aber dieser Zauber hatte keinen Erfolg erzielt ... weil es alles nur Hirngespinste waren.
„Ich sehe Ihnen an, dass ich mit dieser Vermutung richtig liege.“
Ward schüttelte den Kopf.
„Oh, doch, Sie haben es versucht, aber es hatte nicht den gewünschten Effekt. Und warum passierte rein gar nichts? Weil es nicht das wahre Grimorium ist.“
„Mir reicht's jetzt. Ich will gehen. Sagen Sie Ihrem Butler, dass er aufschließen soll.“
Leeberg lachte wieder. Kein angenehmes Lachen. Seine Augen glänzten wie schwarze Tintentropfen.
„Ich habe Sie ausgewählt, mir dieses Buch zu beschaffen, weil ich der Meinung war, Sie würden genug leiden, hoffen und sehnen, um an seine Existenz und die Kräfte zu glauben - bedauerlicherweise ein Irrtum. Sie sind nichts weiter als ein abgehalfterter Glücksritter. Schade ... Dabei hatte ich gedacht, der tragische Tod Ihrer Schwester hätte etwas in Ihnen geweckt, das mir hilfreich sein könnte.“
Ward zuckte zusammen, ihm stockte der Atem.
„Meine Schwester? Was ...“
„Es ist zehn Jahre her, aber Sie haben es immer noch nicht verkraftet, oder wie kommt es, dass Sie sich regelmäßig mit irgendwelchen Scharlatanen treffen, die Séancen abhalten, um Kontakt zu Helen aufzunehmen?“ Ward schwankte leicht, sein Herz raste wie seine Gedanken.
„Wer hat Ihnen das erzählt?“
„Oh, ich weiß einiges über Sie, aber in manchen Dingen habe ich mich getäuscht.“
Leeberg wandte ihm den Rücken zu, schritt in Richtung eines Schranks, zog dessen Tür auf.
„He! Ich will sofort wissen, woher Sie diese ganzen Informationen über mich haben!“
Leeberg reagierte nicht, klappte ein Kästchen auf, entnahm ihm etwas. Das Aufflammen eines Streichholzes war zu hören, dann ein Paffen, bevor sich der Hausherr mit einer qualmenden Zigarre in der Hand zu ihm umdrehte.
„Sie wollen immer nur. Sie wollen 90.000 Pfund für ein Buch, das Sie für nicht einmal dreihundert im Internet ersteigerten. Sie wollen Ihre Schwester zurückhaben, ins Leben zurückholen. Und dafür wollten Sie mit der Beschwörung das Tor ins Jenseits öffnen, was fehlschlug."
Ward stand stumm, die Augen leicht geweitet. Er schwitzte.
„Nun, ich hätte Ihnen all das geben können. Aber dafür sollten Sie liefern." Leeberg zog an der Zigarre, stieß Qualm aus, dann schlenderte er auf das Tischchen zu, schnippte etwas Asche auf den Buchdeckel.
„Machwerke wie dieses hier sind nur Opium fürs Volk.“
Ward räusperte sich, denn seine Kehle war staubtrocken.
„Es gibt keine echte Magie.“
„Doch, Jamie, die gibt es.“
Die Frauenstimme erklang aus einer dunklen Ecke des Raumes, jener, in der die ältesten der Bücher standen. Den vertrauten Kosenamen zu hören stellte ihm die Härchen im Nacken und auf den Armen auf, fast blieb ihm das Herz stehen. Es war die weiche Stimme seiner toten Schwester.
„Helen?“, wisperte er.
„Ach, Jamie. Warum hast du ihm nicht das wahre Grimoire gebracht. Dann hätten wir für immer zusammen sein können.“
Ward schluckte, seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen, aber so angestrengt er auch in die Schatten starrte, aus denen die vertraute Stimme zu kommen schien, er konnte nichts erkennen. Leebergs Miene war unergründlich, allein seine Mundwinkel zuckten leicht.
„Was soll dieses Theater? Wie machen Sie das?“, keuchte Ward mit rasendem Puls.
„Wie bitte?“
„Ich vermisse dich ...", wisperte Helen.
„Hören Sie sofort auf damit!“ Ward presste sich die Hände auf die Ohren. Sein Blick fiel auf den geöffneten Schrank, in dem sich auch Spirituosen aneinanderreihten. Er brauchte einen Drink.
Leeberg schnalzte bedauernd. „Ich weiß nicht, wovon Sie reden, aber Ihr Verstand scheint zu leiden, unter dem, was ich Ihnen eben gesagt habe, nicht wahr?“
„Was?“, fragte Ward, ließ die bebenden Hände sinken.
„Sie hielten alles, was Sie über das Grand Grimoire hörten, für Schwachsinn. Und dann erfahren Sie, dass es existiert und wahrhaftige Macht besitzt. Diese Tatsache scheint Ihren Geist zu verwirren.“
„Blödsinn, das ist alles Blödsinn!“
„Warum sagst du das?“ Es war eindeutig die Stimme seiner verstorbenen Schwester.
„Hören Sie damit auf, Leeberg, oder ich ...“, knurrte Ward.
„Oder was? Drohen Sie mir etwa?“
Wards Wut, Fassungslosigkeit und Trauer vermischten sich zu einem kaum erträglichen Gefühlscocktail. Grob schob er sich an Leeberg vorbei, hastete auf den Schrank zu, griff mit zitternden Fingern nach irgendeinem Single Malt und einem Glas, schenkte ein und stürzte den Whisky hinunter. Der Alkohol brannte beruhigend in seinem Magen. Er füllte das Glas ein zweites Mal.
„Dein Bruder ist ein armer, verlorener Zweifler. Nicht wahr?“, säuselte Leeberg.
„Ja, leider“, stimmte ihm Helens Stimme zu. Ward fiel das Glas aus der Hand, der verschüttete Whisky hinterließ einen Fleck auf dem Persianer.
„Was haben Sie mit meiner Schwester gemacht?“
Leeberg schwieg, zog nur seine Augenbrauen hoch.
„Wo ist sie?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung.“
„Sie lügen!“
„Schluss mit dem Geplänkel." Leeberg griff in sein Jackett, zog einen alten Revolver hervor und richtete ihn auf sein Gegenüber. Ward sog scharf den Atem ein, taumelte einen Schritt zurück, hob die Hände. „He ... nehmen Sie die Waffe runter!", keuchte er.
Leeberg entsicherte den Revolver. In Todesangst kniff Ward die Augen zu. Daher entging ihm, wie Leebergs Arm herumschwenkte und auf ein Bücherregal zielte, ehe er darauf abfeuerte. Immer wieder drückte er den Abzug, bis der Schlagbolzen auf eine leere Hülse traf. Ward hatte den Atem angehalten, rang jetzt nach Luft, schlug die Lider wieder auf.
„Reynolds verständigt die Polizei. Das war nicht nett von Ihnen. Wirklich nicht!“, sagte Leeberg und schlenderte auf den fassungslosen Ward zu, drückte ihm die Waffe in die Hand. Der ließ sie fallen, als hätte er sich daran verbrannt, starrte darauf.
„Sehen Sie mich an", befahl Leeberg. Obwohl Ward es nicht wollte, sich dagegen sträubte, folgte er der Aufforderung, als höbe der andere sein Kinn, und ihn durchfuhr es eisig, als er die Unerbittlichkeit in den Augen entdeckte, die sich in seine bohrten, ihn banden. Nur am Rande nahm er wahr, dass sich Leebergs Lippen lautlos bewegten, dann fiel der Zwang plötzlich von ihm ab.
„Sie haben mit diesem lächerlichen Spielzeug einige meiner wertvollen Bücher beschädigt", sagte der Hausherr im Plauderton. „Das könnte ich Ihnen vielleicht noch verzeihen. Aber dass Sie mich umbringen wollten, das werte ich als einen inakzeptablen Akt der Aggression. Ich habe Ihnen nicht das Geringste getan, und Sie schießen, als Gast in meinem Hause, mit einem Revolver auf mich. Ich werde dafür sorgen, dass man Sie wegsperrt.“
„Warum tun Sie das?“, fragte Ward, spürte seinen galoppierenden Herzschlag bis in den Hals.
Leeberg grinste. „Oh, ich hätte Sie auch einfach erschießen und verschwinden lassen können, aber wo bleibt denn da - mit Verlaub, bei meinen Fähigkeiten - das Amüsement?"
Zorn loderte in Ward auf. „Sie sind ja komplett durchgeknallt, Sie elender Drecksack!“
„Mäßigen Sie sich! Wenn ich tot wäre, dann würde man Sie hängen. Seien Sie dankbar, dass ich lebe. Jetzt wird man Sie nur einsperren, obgleich ich annehme, dass der Tod Ihnen lieber wäre, angesichts der Aussicht, Ihr Dasein in einer trostlosen Irrenanstalt zu fristen.“
Ward verzog das Gesicht. Das war doch alles Wahnsinn!
„Hängen? Wir leben im 21. Jahrhundert. Hier wird niemand mehr gehängt. Es heißt auch nicht Irrenanstalt, sondern Psychiatrie. Und dort gehören Sie hin, nicht ich!“
„Was faseln Sie da? Das Abfeuern einer Waffe auf einen Menschen, ein kaltblütiger Mordversuch, wird hier in England mit dem Tode bestraft.“
„In welcher Zeit leben Sie eigentlich?", fauchte Ward. Leeberg gab einen belustigten Laut von sich.
„Sie verstehen noch immer nicht, oder? Vorhin wurden Sie von einigen meiner Bücher angezogen. Eines hat Sie besonders fasziniert, hat Sie gerufen. Na los, sehen Sie sich das Werk etwas genauer an.“
Wieder verlor Ward die Kontrolle über seinen Körper, seinen Geist. Willenlos wankte er zum Regal, auf das eine Buch zu, als wäre es ein Magnet, zog es hervor und schlug es auf. Trotz der unbekannten, fremdartigen Schrift nahm er auf, was dort stand, und stöhnte. Die merkwürdigen Zeichen und Symbole schienen sich wie Würmer auf den Seiten zu winden, direkt hinein in sein Bewusstsein. Ward keuchte, wollte wegschauen, war aber nicht in der Lage, die Augen von den sich bewegenden, flüsternden Lettern und Symbolen zu lösen. Nach wenigen Sekunden rief Leeberg einen Befehl, den Ward nur als lautes Geräusch wahrnahm, daraufhin schloss sich das Buch, flog quer durch die Luft auf seinen Besitzer zu und landete in dessen ausgestreckten Händen.
„Nun wissen Sie, dass das Grand Grimoire existiert. Dies ist der erste Teil der Abschrift, die ich einst tätigte. Meine zweite wurde mir vor Längerem gestohlen, ein herber Verlust, aber allein die Fragmente des ersten Bands bergen ungeheure Macht. Und das verlorene Werk werde ich irgendwann zurückerlangen."
Alibek ... Edmond A. Leeberg ... leuchtete die Erkenntnis in Wards schwindendem Verstand auf, dann wurden seine Züge leer wie sein Blick, nur tief in ihm, da wehrte sich verzweifelt ein Rest seines Willens und Geistes gegen das Abgleiten in den Nebel.
Leeberg schritt an dem wie angewurzelt Stehenden vorbei und stellte das Buch zurück an seinen Platz.
Es kostete Ward Mühe, Worte zu bilden, sie zu krächzen. „Das ... zweite Buch ... Ich werde es ... für Sie finden.“
„Bedaure, dazu sind Sie leider nicht mehr in der Lage. Ihr Schicksal ist besiegelt.“
Für James Ward schien es, als würde eine Welt zusammenbrechen, dann wurde alles schwarz um ihn.
Geräusche weckten ihn. Von draußen vernahm er Hufgeklapper und das Rollen von Wagenrädern auf Kopfsteinpflaster. Ein Pferd wieherte. Er blinzelte, lag auf dem Boden, aber seine Arme waren auf den Rücken gefesselt, was Angst in ihm aufsteigen ließ. Die Bibliothek war nun in das weiche Licht von Gaslampen getaucht. Eine Gestalt ragte plötzlich neben ihm auf. Ein Mann mit Backenbart, in antiquierter Polizei-Uniform mit Schlagstock, beugte sich über ihn. „Er ist aufgewacht", meldete er.
In der Nähe stand Leeberg, mit einem weiteren Polizisten in ein Gespräch vertieft, sie ignorierten die Information. Die ganze Szenerie wirkte wie aus einem Sherlock-Holmes-Film. Träume ich? Ward versuchte angestrengt, trotz seiner Verwirrtheit und der Schwäche, die ihn umklammert hielt, zu verstehen, was die Männer besprachen.
„Ich fasse zusammen, Sir: Er stand unangemeldet vor Ihrer Tür, bat um Einlass und feuerte dann aus heiterem Himmel auf Sie? Warum wurde ein Fremder überhaupt eingelassen, mitten in der Nacht?“
„Constable Mills, es regnete in Strömen, und da tauchte er auf, ein armer Teufel, der Hunger leidet. Ich wollte ihm eine Mahlzeit und ein Quartier für die Nacht geben. Doch er schien von der verrückten Vorstellung besessen, dass ich seine Schwester entführt hätte.“
Mills gab ein Schnauben von sich. „Das ist ja absurd."
„Wahrhaft absurd. Dazu redete er wirres Zeug."
Die Tür zur Bibliothek öffnete sich und zwei grobschlächtige Männer traten ein, mit Oberarmen, die dicker waren als Wards Schenkel. Sie nickten den anderen Herren zur Begrüßung nur zu.
„Ah, da sind Sie ja. Wir sind hier gleich fertig, dann können Sie ihn mitnehmen“, sagte der Constable.
Mit großer Willensanstrengung überwand Ward die Trägheit seines Hirns, die bleierne Schwere der Zunge und brachte hervor: „Er lügt! Bitte ... glauben Sie mir, Leeberg ist ein Verbrecher!" Er drehte den Kopf in Richtung eines Regals. „Er hat ... schwarzmagische Bücher. Schauen Sie ... die Bücher dort an!“
„Da sehen Sie es, werte Constables. Der Mann ist wahnsinnig“, sagte Leeberg.
Der Polizist mit dem Backenbart neigte sich wieder über den am Boden Gefesselten und fragte: „Wie heißen Sie?"
„James Ward, Sir ... Royal Navy Offizier außer Dienst. Ich ..."
„Wann wurden sie geboren?“, fiel ihm Backenbart ins Wort.
„1970.“
„Und welches Jahr schreiben wir?“
„2021 ... in meiner Zeit“, sagte Ward, dumpf ahnte er, dass er einen Fehler gemacht hatte, kämpfte weiter gegen den wabernden Nebel in seinem Kopf.
Der zweite Constable schüttelte den Kopf. Dann nickte er den beiden wartenden Hünen zu. Die packten den Gefesselten unter den Achseln und hoben ihn auf die Beine.
„Nein ... Leeberg manipuliert die Zeit!“, nuschelte Ward. „Bitte ... das Buch ist böse. Er auch. Er ist ... ein Hexer!“
Constable Mills zog missbilligend die Augenbrauen zusammen.
„Wer ist Leeberg? Oder meinen Sie Master Ailbeck? Er ist ein angesehener Gentleman, dessen Bibliothek zu den Besten des ganzen Empires gehört", sagte er streng. „Selbst Dr. Jenner, der Leibarzt der Königin, kommt ein ums andere Mal hierher, um sich Werke anzusehen. Von böse und dunkler Magie kann da wohl kaum die Rede sein. Sie sollten sich demütig zeigen, das Master Ailbeck keine Anzeige gegen Sie erstattet hat." Wieder schnaubte er verächtlich auf.
„Ihn als Hexer zu bezeichnen... eine Unverschämtheit ist das, jawohl. Wenn überhaupt, dann sind Sie ein Hexer. Denn immerhin werden Sie, laut Ihrer Aussage, erst in hundert Jahren geboren." Er wedelte mit der Hand. „Es reicht, ich will nichts mehr von ihm hören, knebelt ihn.“
Einer der Männer stopfte Ward ein Tuch in den Mund, der Constable wandte sich wieder an den Hausherrn.
„Sie haben vollkommen recht, Sir. Eine glückliche Fügung, dass dieser Irre Sie nicht schwer verletzt oder umgebracht hat. Wollen Sie nicht doch Anzeige erstatten, nach dem, was er über Sie sagte?“
„Nein. Sie haben mir wirklich schon genug geholfen. Diese bedauernswerte Kreatur ist krank, verirrt, nichts weiter.“
„Ach, wenn es nur mehr gutherzige Menschen wie Sie geben würde, dann wäre die Welt ein besserer Ort. Aber Sie täten gut daran, zukünftig nicht mehr so leichtsinnig Wildfremde in Ihr Haus einzulassen.“
„Sicherlich haben Sie recht ... Darf ich fragen, wohin der arme Teufel verbracht wird?“
„Dorthin, wo die geisteskranken Verbrecher Londons landen. In die städtische Anstalt von Dr. Lewellin.“
„Dr. Lewellin ist ein Mann mit Kompetenz und von tadellosem Ruf.“ Der Hausherr drehte sich zu Ward um und blinzelte diesem, unbemerkt von den anderen, zu. „Hören Sie, ich werde Sie in der Anstalt besuchen kommen, das verspreche ich Ihnen. Denn es ist ein sehr trauriger, einsamer Ort. Vielleicht kann ich Ihnen etwas aus einem Buch vorlesen ..."
Der Constable sah gerührt aus. „Sir, nimmt Ihre Güte denn überhaupt kein Ende?“
Wards Nasenflügel blähten sich panisch über dem Knebel, sein Willen verließ ihn, er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das Einzige, was er noch wahrnahm, als die Hünen ihn fester packten und aus dem Raum schleiften, war das raubtierhafte Lächeln und das Glimmen in den dunklen Augen des schwarzhaarigen Mannes, dessen Namen er vergessen hatte.
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay, bearbeitet mit canva
Tag der Veröffentlichung: 30.09.2021
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