Cover

.

 
»Eine üble Gegend, kein Ort für ein junges Mädchen«, hatte Vater mit ernstem Gesicht gesagt.

»Ein absolut verdorbenes, gefährliches Viertel – nicht nur für junge Mädchen!«, hatte Mutter hinzugefügt.

Prüfend hatte sie mich gemustert und etwas an mir wahrgenommen. »Untersteh dich, Sofia, dich dorthin zu begeben! Überhaupt, ohne Schutz das Haus zu verlassen. Non

Ich bin fünfzehn, kein kleines Kind mehr! Ich will etwas erleben! Mal ohne unsere Bodyguards raus, dachte ich, schwieg aber, scheinbar fügsam.

Als sich meine Eltern an den Pool im Garten zurückzogen und unsere Haushälterin Dolores in der Küche mit den Töpfen klapperte, schlüpfte ich aus dem Haus, schlich an den im Schatten rauchenden Security-Männern vorbei und kletterte über die Mauer. Draußen rannte ich los. Durch die breiten, von Bäumen gesäumten Straßen La Condesas, an den imposanten Herrenhäusern vorbei zur U-Bahn, die mich nach Barrio Bravo brachte, dem berüchtigten Viertel, das solch einen Nervenkitzel in mir auslöste. Hier gab es alles, neben dem Üblichen, von gefälschten Unidiplomen über schwere Waffen bis hin zu Drogen, hatte die alte Dolores erzählt, und dass Menschen auf offener Straße erschossen wurden, nur um an ein Paar Schuhe zu kommen, die Taschendiebe bereits an der U-Bahn-Haltestelle auf einen warteten.

Eine Gänsehaut überkam mich, als ich die Treppen des U-Bahnschachts emporstieg, den Weg zum Markt einschlug. Die Leute hier wirkten ungepflegter, härter, sie sprachen auch anders. Nervös umklammerte ich meine Handtasche, schob mich durch die Menge, wurde öfter angerempelt. Blicke aus kalten, dunklen Augen musterten mich, wie Haifische eine Beute. Ich fühlte mich unwohl, wollte umkehren, fort von hier ...

Plötzlich ertönte das durchdringende Geräusch quietschender Autoreifen, mehrere Schüsse fielen, Schreie und Panik brachen aus, ich stürzte im Gedränge. Kalte Angst erfasste mich. Ich rappelte mich auf, hastete in die Richtung, aus der ich gekommen war. Sprintete im strahlenden Sonnenschein, aber ich fror. Ein Schluchzen stieg aus meiner Brust auf, das gar nicht mehr aufhörte. Wie dumm, hierher zu kommen! Ich wollte nur nach Hause!

Endlich fand ich mich in unserem friedlichen, vertrauten Viertel wieder. Erleichterung durchströmte mich, als ich unsere Auffahrt hinaufeilte, am dösenden Wachmann vorbei.

In der Eingangshalle hörte ich die Stimmen meiner Eltern, aus Vaters Arbeitszimmer, die Tür stand halb offen. Waren sie wegen mir so aufgebracht? Hatten sie mein Verschwinden bemerkt? Ich trat ein. Mutter weinte, Vater hatte das Handy am Ohr, war kreidebleich. Die alte Dolores rang die Hände. Oh, ich würde Ärger bekommen, weil ich abgehauen war ...

»He, ich bin wieder da!« Keine Reaktion.

»Mama! Papa!«, rief ich etwas lauter. Aus Vaters Kehle entwich ein verstörender, fast tierischer Laut, zeitgleich ließ er das Telefon fallen, zog Mama an sich und sagte: »Oh Gott, nein ... Sofia!« 

Ich verstummte, als mein Name fiel.

»Was ist denn los?«, brüllte ich.

Wieso reagierte keiner, warum sprachen sie nicht mit mir?

Irritiert blickte ich an mir hinunter. Was? Mein weißes T-Shirt war rot verfärbt. Von Blut. Im Spiegel war nur der Schrank hinter mir zu sehen. Angsterfüllt rannte ich auf meine Eltern zu - und sie erschauerten, als ich sie wie eine kühle Brise durchfuhr ...
 

Impressum

Bildmaterialien: canva
Tag der Veröffentlichung: 10.08.2021

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /