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An einem kaltgrauen Novembertag stand Tristan vor dem Schaufenster der Puppenmacherin.

Almina Hartwig, las er neben dem Eingang auf einem verwitterten Messingschild, das ihm zuvor nie aufgefallen war. Aber bis vor Kurzem - bis gestern, um genau zu sein - hatte er diesem Geschäft auch keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt.

Eine kühle Herbstbrise huschte durch die Bäume, ließ ihn frösteln, er zog seine Jacke fester um sich.

Seit vielen Jahren schlenderte er jeden Tag in seiner Mittagspause über das Kopfsteinpflaster der Altstadtgassen, an den historischen Fachwerkfassaden der Häuser vorbei und kehrte immer im selben Lokal zum Essen ein. Und so oft er am Schaufenster der Puppenmacherin vorübergegangen war, hatte er meist nur einen flüchtigen Blick dafür übrig gehabt. Gestern hatte er erstmals hier verharrt, die Puppen betrachtet. Warum er das gemacht hatte, und schon wieder tat, wusste er nicht.

Jetzt zog er an der Tür, die kreischend wie ein Klageweib mit entzündetem Kehlkopf aufging. Ein Glöckchen bimmelte. Drinnen begrüßte ihn Halbdunkel. Er atmete abgestandene Luft ein, die nach Staub und den vielen Stoffrollen roch, die sich an einer Wand türmten. Er sah Nähmaschinen, einen Zuschneidetisch, Garnrollen, Sammelboxen mit Knöpfen, Augen, Borten, Spitze. Und Puppen. Es mussten über hundert sein. Von jeder Art und Größe, mit verschiedensten Kleidern, saßen sie auf Tischen und kleinen Sesseln, Stühlen und Bänken. Marionetten hingen von der niedrigen Decke herunter.

Aus dem Schatten trat eine zierliche Frau, die so zerbrechlich wirkte wie eine ihrer Porzellanpuppen. Ihr Alter war schwer zu bestimmen. Bekleidet war sie mit einem orientalisch anmutenden Kaftan, auf dem goldene Stickereien glitzerten. Ihr Gesicht, aus dem ihm zwei amethystdunkle Augen entgegenblickten, besaß einen auffallend hellen, elfenbeinfarbenen Teint. Ihr schwarzes, kinnlanges Haar glänzte wie Rabenfedern. Das musste Almina Hartwig sein.

„Treten Sie doch näher, keine Scheu. Möchten Sie einen Tee?“

Tristan nickte, vom exotischen Charisma der Dame verwirrt.

„Nehmen Sie Platz." Er setzte sich zu ihr an den von halbfertigen Puppenkleidern übersäten Tisch. Sie schob ihre Arbeit beiseite, stellte eine zweite Tasse hinzu und schenkte vom duftenden Tee ein.

„Mögen Sie Puppen?“

Tristan zog die Schultern hoch. „Ich weiß nicht recht.“

Almina Hartwig lachte leise. „Aber ich weiß es. Sie standen gestern schon vor meinem Fenster. Sie wurden gesehen.“ Er blickte erstaunt auf, bemerkte ihr feines Lächeln.

„Sie haben mich beobachtet?“

„Nein, nein, nicht ich. Die Lieblinge in der Auslage, denen Sie Ihre Aufmerksamkeit schenkten, die haben Sie beobachtet.“

„Die Puppen?“

„Ja, gewiss. Sie haben die Puppen angeschaut, und die sie, und dann haben sie mir berichtet, dass ein trauriger Mann vor dem Schaufenster gestanden hat.“ Sie lächelte immer noch.

„Ich bin aber nicht traurig.“

„Doch, das sind Sie“, beharrte sie sanft. Tristan starrte in seine Tasse.

„Woher wollen Sie das wissen?“, sprach er zu der goldfarbenen Flüssigkeit.

„Weil die Puppen es mir gesagt haben.“

Seltsames Gespräch, dachte Tristan. Was für eine Schnapsidee, hier hereinzukommen. Er unterdrückte den Impuls, aufzustehen und den Laden zu verlassen. Das wäre unhöflich gewesen. Diese Dame war etwas schrullig, möglicherweise ein wenig verrückt, aber eine gute Seele, das spürte er. Daher schwieg er und schlürfte den heißen Tee.

Und, verdammt, sie hatte ja recht, er war traurig! Furchtbar deprimiert. Und ohne Hoffnung. Was sollte er auch anderes sein, in seinem Beruf, den er schon viele Jahre ausübte, aber nicht länger ertrug. Sie hatte ihn schnell durchschaut, und er nahm ihr die Ausflucht mit den Puppen nicht weiter übel.

Erneut schien Almina zu ahnen, was ihm durch den Kopf ging. „Es ist die Wahrheit, so absurd und fantastisch sie in Ihren Ohren auch klingen mag. Die Puppen haben mir berichtet. Warum wollen Sie mir denn nicht glauben?“

Tristan schaute weiter stumm in seinen Tee, aber die Frau ließ sich nicht beirren.

„Es ist so: Wenn ich an einer Puppe arbeite, dann stelle ich mir vor, wie sie sein soll, ob es ein Mädchen oder ein Junge wird, ob sie blonde, braune, schwarze oder rote Haare bekommt, rundlich oder zierlich ist. Welchen Charakter sie besitzt. Und dann versinke ich in meiner Arbeit, ganz tief, und vergesse alles um mich herum, ja, ich vergesse mich selbst.“ Sie wedelte mit den Händen. „Meine Finger fliegen von allein, meine Ideen ebenso.“ Sie strahlte ihn an wie eine stolze Mutter, die über ihre wohlgeratenen Kinder spricht.

„Und wenn mich meine Schöpfung dann zum ersten Mal anblickt und ich sie, dann gebe ich ihr ein Stück meiner Sprache, meines Gehörs und meiner Augen. Meiner Seele. Und schon spricht das Geschöpf mit mir, oder es greift nach meiner Hand, oder in mein Haar, nach einer Spange, und bittet, auch solchen Schmuck besitzen zu dürfen. Und dann erhält es das Gewünschte. Mein Werk, das bin ich. Meine Idee ist meiner Seele Schöpfung und mein Werk ist meines Geistes Kind. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will?“

Tristan ließ sich ihre Worte durch den Kopf gehen. Irgendwo tickte eine Uhr in die Stille.

„Sie meinen, wenn jemand sich mit seinem Werk verbindet, es nicht nur einfach verrichtet, sondern es wirklich verinnerlicht, dann gewinnt dieses Werk Leben und Bedeutung, und dann spricht und sieht es?“

Alminas Augen leuchteten auf. Sie nickte, schien erfreut, wie eine Lehrerin über einen besonders gelehrsamen Schüler.

„Und es fühlt“, fügte sie hinzu. Tristan dachte weiter darüber nach.

„Warum sind Sie derart betrübt?“, fragte sie. Ihre dunklen Augen fingen ihn ein, hatten etwas fast Hypnotisches. Tristan räusperte sich.

„Ach, bei Ihrer Arbeit mag das wohl gelingen, dass Sie Ihre Werke ... Ihre Puppen lieben, aber es ginge niemals bei dem, was ich tue.“

„Was haben Sie denn für einen Beruf?“

„Ich bin ... ich - nun, ich bin Sargbauer und Leichenbestatter“, gab er leise zurück und schluckte. Zu oft hatten Menschen, vor allem Frauen, ihm ihre Abscheu gezeigt, unverhohlen oder schlecht versteckt, oder sich gar rasch aus dem Gespräch zurückgezogen, wenn er offenbart hatte, womit er sein Geld verdiente.

Die Puppenmacherin spitzte kurz den Mund, zog die Stirn kraus. „Warum fällt es Ihnen so schwer, dies zu äußern? Halten Sie Ihre Tätigkeit für etwas Schlechtes? Jemand muss sich doch um die Verstorbenen kümmern.“

Tristan war erleichtert, dass sie kein Problem mit seiner Arbeit hatte, doch er empfand ihre Worte nur als geringen Trost. Er war allein aus einem einzigen Grund Sargbauer und Bestatter geworden: weil sein Urgroßvater, sein Großvater und sein Vater es ebenfalls gewesen waren. In seiner Familie hatte nie zur Debatte gestanden, dass er, der einzige Sohn, einen anderen Beruf ergreifen könnte, das alteingesessene Unternehmen aufgegeben würde.

Nein, seine Arbeit bereitete ihm keine Freude, nicht die geringste. Lange hatte er diese Bürde stoisch getragen, gleich einem vor den Karren gespannten Ochsen. Doch seit einigen Tagen begehrte etwas in ihm auf, pikste immer wieder in sein Herz, verspürte er diesen sehnsüchtigen Drang auszubrechen. Und konnte es doch nicht. Er hatte nichts anderes gelernt, seine Mutter lebte noch, war kränklich, sie wohnte über dem Geschäft, und er, der ewige Junggeselle, kümmerte sich um sie. Nein, er würde Bestatter bleiben. Und darüber war er der Traurigkeit verfallen.

Er stand auf. „Ich muss jetzt gehen. Danke für den Tee. Ich komme gelegentlich einmal wieder“, versprach er Almina Hartwig.

Tage danach, als er einen Sarg sorgsam ausstaffierte, sein Werk wiederholt begutachtete, den Toten in seinem besten Anzug hineinlegte, ihm die Hände sanft über dem Bauch faltete, da sagte plötzlich jemand: „Danke.“

Tristan zuckte zusammen, sah sich in der Leichenhalle um. „Wer spricht da?“

„Na ich, der Verstorbene.“ Tristan beugte sich über den Sarg, musterte die bleichen, leblosen Züge des alten Mannes.

„Herr Carlsen, Sie sprechen mit mir, wie kann das sein?“ Zeitgleich schoss ihm durch den Kopf: Meine Idee ist meiner Seele Schöpfung, und mein Werk ist meines Geistes Kind.

 Während er sein Werk vervollständigte, indem er dem Leichnam das Gesicht etwas puderte, aus einer Laune heraus gar eine Winzigkeit Rouge auf die fahlen Wangen tupfte, das Haar legte, und danach die Blumen arrangierte, erzählte der verstorbene Herr Carlsen von sich. Über seine Kindheit in einer kleinen Stadt an der Ostsee, die Ausbildung und seinen Dienst bei der Marine, wie er seine wunderschöne Frau kennenlernte und heiratete, sie vier Kinder bekamen und großzogen. Wie furchtbar sie litten, als ihr jüngster Sohn bei einem Unfall ums Leben kam. Dass dieser Schicksalsschlag aber die Familie noch enger zusammenrücken ließ. Wie er letztendlich seine Zeit als Rentner genoss.

„Ich hatte ein langes, erfülltes Leben führen dürfen. Voller Glück und Liebe.“

„Das freut mich sehr für Sie“, gab Tristan zurück und richtete Herrn Carlsen das blütenweiße Einstecktuch in der Anzugjacke.

„Selbst mein Tod war ein angenehmer, ich bin eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht. Und jetzt sorgen Sie, mein Lieber, dafür, dass ich bei meinem letzten Auftritt auf Erden gut aussehe.“

Tristan nickte Herrn Carlsen respektvoll zu, hörte ihn bedauernd seufzen. „Leid tut mir nur meine liebe Elisa, die muss ihre letzten Jahre nun ohne mich herumbringen."

„Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Kinder werden für die Mutter da sein, sich gut um sie kümmern, da bin ich mir sicher“, erwiderte Tristan sanft.

Später, als die Totenfeier vorüber war und die Familienangehörigen, Freunde und Bekannten die Kapelle verlassen hatten, klappte er den Sargdeckel vorsichtig zu. Er trug ein winziges Lächeln um die Mundwinkel. Zum ersten Mal, seit er Bestatter war, hatten die Hinterbliebenen sich warm bei ihm bedankt, wie wundervoll er den Verstorbenen und die Kapelle mit den Blumen hergerichtet hatte, wie treffend er über den Ehemann, Vater und Freund gesprochen und welch tröstliche Worte er gefunden hatte. Die Witwe, Elisa Carlsen, hatte ihm mit Tränen in den Augen lange die Hand gedrückt, bevor sie, von ihren Kindern umringt und gestützt, den Raum verließ.

Als Tristan den Sarg zur Gruft karrte und diesen an Seilen in das dunkle Gewölbe hinabließ, rutschte ihm seine massive Eichenholzarbeit weg, holperte über die Stufen und kam unten etwas zu heftig auf. Da beschwerte sich der Dahingegangene mit einem „Autsch“. Doch Tristan glaubte, auch ein belustigtes Glucksen zu vernehmen.

Wenige Tage darauf stand er wieder vor dem Geschäft der Puppenmacherin. Im Schaufenster entdeckte er eine neue Puppe mit rabenschwarzem Haar, ein entrücktes Lächeln ruhte in ihrem zierlichen elfenbeinfarbenen Gesicht. Er trat ins Geschäft, ein bulliger Mann in Arbeitshose stellte sich ihm in den Weg.

„Was wollen Sie hier? Machen Sie, dass Sie rauskommen."

„Ich möchte Almina Hartwig sprechen." Der Knurrige zog die Augenbrauen zusammen. „Wer soll das sein?"

„Sie ist die Geschäftsinhaberin."

„Dieser Laden hat keine Besitzerin mehr, weiß nicht, wem der gehörte ... Weiß nur, dass der Laden unter den Hammer kommt. Ich entrümpele ihn." Tristans Herz setzte einen Schlag aus, ihm stand der Mund offen.

„Aber ... ich verstehe das nicht ..." Er war zutiefst schockiert, versuchte, sich zu sammeln. „Ich habe mit der Ladenbesitzerin, Frau Hartwig, gesprochen, vor wenigen Tagen erst. Wieso wird das Geschäft verkauft?"

„Sagte ich doch schon, weil es keine Besitzerin mehr gibt. Hoffe, dass ich den Ramsch versteigern kann, keine Ahnung, was der einbringen wird."

Tristan horchte auf. „Kann ich die Puppe im Schaufenster, die Schwarzhaarige mit dem hellen Gesicht, kaufen?" In die Schweinsäuglein des Entrümplers trat ein gieriges Funkeln.

„Klar, geben sie mir hundert Euro, und das Ding gehört Ihnen."

Tristan stöhnte, hundert Euro, das war viel Geld, und soviel trug er auch gar nicht bei sich. Er versprach, schnell zurück zu sein und eilte zur Tür. Bevor er sie öffnete, fiel sein Blick in die Schaufensterauslage, auf ein Bündel Geldscheine, das neben der hellgesichtigen Puppe lag. Der Hüne hatte sich von ihm abgewandt, und so bückte er sich und griff nach den Scheinen, musste aber enttäuscht feststellen, dass es nur Spielgeld war, das er in den Händen hielt. Meine Idee ist meiner Seele Schöpfung, und mein Werk ist meines Geistes Kind, wisperte Alminas Stimme in seinen Gedanken.

„Ja", flüsterte er, rief nach dem Mann und hielt ihm das Spielgeld hin, wenn auch errötend, den Atem anhaltend. Der Griesgram verzog keine Miene, zählte nach, steckte die Scheine in die Brusttasche, nickte dann. Tristan atmete aus und unterdrückte ein gelöstes Kichern.

„Nehmen Sie das Ding. Brauchen Sie 'ne Tüte? Unterm Tresen liegen die zuhauf."

Nein, eine Tüte brauchte Tristan nicht, er setzte die Puppe auf seinen Arm und ging.

„Na?", fragte sie ihn draußen, „gefällt dir dein Beruf jetzt besser?"

„Ja, viel besser. Ich stelle ja auch etwas her, schöne Särge für den letzten Weg, Atmosphäre für einen würde- und liebevollen Übergang. Ich habe ganz viele Ideen, um es richtig, es wirklich gut zu machen. Auch den Hinterbliebenen zu helfen. Meine Idee ist meiner Seele Schöpfung, und mein Werk ist meines Geistes Kind." Die Puppe zwinkerte ihm zu, er lächelte sie an.

Dass sich die Leute auf der Straße nach ihm umdrehten, weil er mit einer Puppe sprach, kümmerte Tristan nicht.

Sein Name, seine Trauerfeiern und Beerdigungen, wurden regelrecht berühmt, denn er lebte mit wahrer Hingabe an seine Profession. Kurz darauf schenkte er dieselbe Hingabe auch seiner frischgebackenen Ehefrau und den Kindern, die sie bekamen.

Und viele Menschen, weit über die Stadtgrenzen hinaus, verfügten in ihren Testamenten, nur von Tristan bestattet werden zu wollen.

 

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Bildmaterialien: Pixabay / Canva
Tag der Veröffentlichung: 31.07.2021

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