Der Besuch der jungen Frau war eine angenehme Abwechslung und ich genoss ihn wie die Zigarette, die sie mir angeboten hatte: in vollen Zügen, aber etwas unbeholfen, wie ich verärgert feststellte.
Sie schien das jedoch gar nicht zu bemerken und ich entspannte mich etwas. Verstohlen musterte ich sie einen Augenblick. Was ich sah, gefiel mir. Ja, sie war wirklich attraktiv, deshalb hatte ich vorhin auch nicht richtig zugehört, als sie sich vorstellte, kannte jetzt ihren Namen nicht. Doch das würde ich nicht zugeben, die Anrede einfach geschickt umschiffen.
Sie war schätzungsweise Ende zwanzig, besaß dunkles, dichtes Haar und angenehme Gesichtszüge, eine schöne, reine Haut. Ihre hellblauen Augen wirkten groß und arglos wie die eines Kindes, zeigten nichts als Wohlwollen und eine leichte Neugier. Diese Neugier verstand ich nur zu gut, war ich doch einer der Wenigen, der William "Billy" Moore, den Billy Moore gekannt hatte.
Beides - Wohlwollen und Neugier - taten mir gut und ich lehnte mich bequem in meinem Korbsessel zurück.
„Sie wissen, weshalb ich hier bin?"
Natürlich wusste ich das und nickte ihr bestätigend zu.
„Sie möchten die Geschichte von Billy Moore schreiben."
„Und die Geschichte seines Mörders ... ", ergänzte sie. „Sie können mir über beide etwas berichten."
„Ja, das kann ich. Allerdings habe ich an den Jungen, ... wie hieß er doch gleich?" Stirnrunzelnd massierte ich meine Schläfen.
„Calvin Harris", half sie nach.
„Richtig. Also, an Calvin habe ich weniger Erinnerungen. Aber vielleicht wissen Sie ja aus Ihren Unterlagen mehr über ihn?"
Auffordernd klopfte ich auf die dicke Mappe, die vor ihr auf dem Tisch lag. Schließlich konnte sie ja auch etwas beitragen. Wollte sie ihren Artikel oder ihre Dissertation - was auch immer - über Moore und diesen jungen Mörder schreiben oder ich? Ich sog an meiner Zigarette.
„Natürlich habe ich bereits viel recherchiert und Informationen zusammengetragen, doch bisher nur wenig von damaligen Zeugen wie Ihnen erfahren", erwiderte sie, lächelte mich scheu an. Ich lehnte mich wieder zurück und blickte zufrieden dem graublauen Rauch unserer Zigaretten hinterher, der sich in dem wolkenlosen Himmel zu verlieren schien. Tief atmete ich die samtweiche Luft ein. Herrlich war es hier im Garten! Bis auf das Vogelgezwitscher still und friedlich und doch so lebendig. Alles atmete und blühte. Die Kastanien wirbelten ihre cremigen Blüten wie Schneeflocken über den dichten sattgrünen Rasen, auf dem ein paar Tische mit sonnengelben Lacktischdecken verteilt standen. Heitere, hell und luftig gekleidete Menschen saßen in bequemen Gartenstühlen, tranken Tee und Kaffee, unterhielten sich oder schwiegen einfach entspannt vor sich hin.
Ein lauer Wind trug Fliederduft zu uns herüber, in unsere geschützte Ecke auf der Terrasse. Genießerisch schloss ich die Lider.
„Stundenlang könnte ich hier sitzen, die Augen zumachen und die Gerüche und Geräusche in mich aufnehmen. Wissen Sie, ich habe letztens mal einen ganzen Tag so gesessen und konnte trotzdem fast auf die Minute genau sagen, wie viel Uhr es war."
„Das könnte ich zwar nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass ein guter Beobachter dazu durchaus fähig wäre."
Ihr respektvoller Ton gefiel mir - sehr sogar.
„Nun ja, aber Sie haben mich ja nicht aufgesucht, um über meine Talente zu sprechen, sondern über Billy und diesen Jungen."
„Das stimmt", gab sie zurück. „War es nicht auch so ein schöner Tag wie heute, als das damals mit dem alten Mann passierte?"
„Meinen Sie ... ? Doch, Sie könnten Recht haben. Ja, ich erinnere mich. Morgens war noch herrliches Wetter - mittags wurde es zu warm. Ein heißer Tag in einer langen Reihe von Frühsommertagen. Der letzte, glaube ich, bevor eine ungemütliche Kaltfront heranzog. Am Nachmittag wurde es dann unerträglich schwül."
Ich schloss wieder die Augen, um mich besser entsinnen zu können. „Es war wirklich sehr schwül; ein Gewitter lag in der Luft, sie knisterte regelrecht, und in den Häusern war es kaum auszuhalten. Darum hat Billy sein Nickerchen auch auf seiner Veranda gemacht." Bedauernd schnalzte ich mit der Zunge. „Wer weiß, wäre es nicht so heiß gewesen ..."
Der Satz hing zwischen uns in der Luft; wir beide sahen den Rauchwölkchen nach.
„Was war dieser William Moore eigentlich für ein Mensch?", brach meine hübsche Besucherin schließlich das Schweigen. „Wieso hatten die Leute etwas gegen ihn?"
Ich lachte glucksend. „Haben Sie mal ein Foto von ihm gesehen?"
„Ja, einige, aber ich fand nichts wirklich Besonderes an ihm; etwas blass vielleicht, melancholisch, viele Falten, aber durchaus nicht bedrohlich." Ich fuhr auf.
„Nicht bedrohlich? Was wissen Sie schon von Bedrohungen!" Ich mochte es nicht, wenn man meine Ansichten in Frage stellte. Die hatte doch keine Ahnung!
Die junge Frau musterte mich; was gab es an mir schon zu sehen? Ihr gegenüber saß ein älterer Mann, grauhaarig, farblos, nichtssagend. Jawohl - nichtssagend, was ich aber schon lange nicht mehr bedauerte.
„Er sah einfach ... fremd aus. Und nichts tat er so, wie es die Anderen machten. Ein unheimlicher Typ. Morgens lüftete er nicht, wie üblich, sein Haus, erst gegen Abend wurden die Fensterläden geöffnet. Im Dämmerlicht sahen die Fensterhöhlen aus wie riesige, schwarze Augen oder gefräßige Mäuler ... Und nur abends oder nachts kam er heraus, immer dunkel gekleidet. Langsam, kerzengerade aufgerichtet, stolzierte er die Straße entlang. Und er hatte so eine merkwürdige Art, den Kopf zu drehen. Wie eine Krähe. Zack - zack - von einer Seite auf die andere."
Ich wandte meinen Kopf ruckartig von links nach rechts, um es zu demonstrieren.
„Puh, mir wird fast schwindlig davon. Und er hat das ständig gemacht. Immer hin und her - her und hin. Die Leute haben sich jedesmal mordsmäßig erschreckt, wenn sein Blick sie getroffen hat - wie ein Pfeil."
„Hat er Sie auch erschreckt?"
„Mich? Nein - eigentlich nicht. Aber ich war noch nie ein ängstlicher, eher ein rationaler, gefestigter Typ."
Mein Gegenüber trank einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.
„War das alles, was seltsam an ihm war - sein absonderliches Aussehen? Das Kopfdrehen? Die nächtlichen Ausgänge?" Ich dachte nach, dann fiel es mir wieder ein.
„Die Brille. Er trug - egal ob Sommer oder Winter - eine Sonnenbrille. Eine mit schwarzen Gläsern. Wie große Insektenaugen. Nie wusste man, ob er einen anschaute oder nicht."
Ich rümpfte die Nase. „Und dann sein Lächeln! Nein, es war eher ein Zähnefletschen. Er hatte die Angewohnheit, ganz plötzlich ohne Grund seinen Mund zu verziehen. Seine Oberlippe konnte er so einrollen, dass man seine falschen Zähne bis zum künstlichen Zahnfleisch sehen konnte. War kein gut gemachtes Gebiss. Zu große und zu viele Zähne. Wie ein ... ja - wie ein Vampir."
Jetzt war es heraus. Die junge Frau zog leicht die Augenbrauen hoch. Drückte mehrmals an ihrem Kugelschreiber herum. Sie konnte sich das wahrscheinlich nicht vorstellen.
„Doch, er hat wirklich so ausgesehen, glauben Sie mir. Seine Haut - die war nicht bloß faltig und blass, sondern eher totenbleich. Er sah ungesund aus, als ob er schon wer weiß wie lange im Dunkeln gelebt, keinen Sonnenstrahl abbekommen hatte."
Die junge Frau notierte sich etwas.
„Als ob er sich viel in feuchten Kellern aufhielte ... ?", fügte sie hinzu.
„Genau!" Ich nickte eifrig. „Ein guter Vergleich", lobte ich sie.
„Aber schlecht gemachte, falsche Zähne, eine Sonnenbrille und die Angewohnheit, nur abends auszugehen, machen einen Menschen doch nicht gleich zum Vampir. Dann müsste man doch jedem, der viel raucht und die Sonne meidet, mit einem Kreuz und einer Knoblauchkette entgegen treten." Ich musterte sie prüfend. Sie lächelte nach wie vor, aber das war eben Sarkasmus gewesen. Der Stimmungswechsel gefiel mir nicht. Ich musste wohl noch mehr Beweise auffahren, um sie zu überzeugen, welch seltsamer, unheimlicher Typ dieser Billy Moore gewesen war. Kein Vampir natürlich, aber einem ähnlich. Warum die meisten im Dorf ihn nicht gemocht, ja, ihm misstraut und ihn gemieden hatten!
„Das war es ja nicht allein. Er sprach auch kaum ein Wort mit den Leuten, nicht mal mit seinen Nachbarn. Gerade mal einen Gruß murmelte er, wenn überhaupt. Und dabei grinste er immer so heimtückisch. Schütteln konnte es einen, das hat meine Schwester immer gesagt und dabei wirklich gezittert!"
Ich tat so, als ob ich fröstelte.
„Der einzige, mit dem er reden musste - außer den paar Lieferanten natürlich - war Dr. Stevens, der ihn behandelt hatte. Und der - na, jeder wusste, dass der auch einen Sprung in der Schüssel hatte."
„Nun zu dem Jungen, Calvin Harris und dessen Clique. Wie kam es, dass gerade er es getan hat? Haben Sie darüber Informationen, ob die anderen ihn dazu gedrängt, ihn vielleicht gezwungen hatten oder war es seine Idee gewesen, hatte er aus eigenem Antrieb gehandelt?"
„Gedrängt ... das weiß ich doch nicht", erwiderte ich. „Gezwungen wurde er ganz bestimmt nicht. Der war keiner von der Sorte, der sich zu irgendetwas zwingen ließ; er war eher der Anführertyp, die anderen machten, was er sagte. Aber Genaueres weiß ich nicht mehr."
„Immerhin doch so viel, dass Sie mit Sicherheit annehmen, dass dieser Calvin in der Gruppe eine Führungsposition hatte", warf die junge Frau ein. Langsam wurde sie naseweis, vielleicht auch etwas arrogant. Wo war ihr respektvoller Ton geblieben? Sie entpuppte sich doch wohl nicht als Zicke?
„Dass er der Anführer der Jungenbande war, ist mir gerade wieder eingefallen, aber das war offensichtlich und damals jedem im Ort bekannt. Sonst kann ich mich kaum an was entsinnen, nur noch daran, dass sie tagsüber öfter Steinchen, auch größere Steine, gegen Billys Fensterläden geworfen und dabei irgendwelche Sprüche gerufen haben."
„Interessant." Die junge Frau zeigte dieses Interesse auch in ihrem Gesicht, setzte den Kugelschreiber auf ihren Block. „Erinnern Sie sich noch an den Wortlaut eines oder mehrerer dieser Sprüche?" Ich nickte. So oft, wie die Bengel den alten Billy damals verhöhnten, hatten sich mir die Schmährufe eingeprägt.
„Bleicher Mann, Menschenfresser, traust dich nicht raus, wetzt wohl dein Messer'. Und: Blutsauger, Zombie, Fledermaus, verlässt nur nachts das Haus, um Blut zu stehlen, Frauen und Kinder zu quälen oder so ähnlich." Ich winkte ab. „Kinderkram. Er hat gar nicht darauf reagiert. Das hat sie zuerst wütend gemacht, aber irgendwann wurde es ihnen langweilig. Und wenn er gegen Abend dann in seiner Tür stand - groß, dunkel gekleidet und leichenblass, haben sie sowieso die Hosen voll gehabt und sind getürmt."
„Und keiner der Erwachsenen ist eingeschritten, als die Jungs ihn derart drangsalierten? Die müssen das doch mitbekommen haben."
„Ja, bestimmt, die riefen ja nicht gerade leise. Aber, wie gesagt, niemand mochte den alten Billy. War ja auch nur ein Streich, etwas Übermut."
„Wann ist die Stimmung derart ins Feindselige umgeschlagen?"
„Das war ...", überlegte ich. „Irgendwann um Pfingsten herum. Zuerst hatten Billys Nachbarn ein totes Huhn vor ihrem Stall gefunden. Gut, das konnte ein Fuchs gewesen sein, aber der hätte doch wohl das ganze Tier gefressen und keine halben Sachen gemacht, nicht? Und dann kam der Hund von Mrs. Harris, von Calvins Mutter, an die Reihe - ein liebes Tier. Lag kurz darauf tot in der Einfahrt. Hatte der alte Billy ihn auf dem Gewissen? Weil er wusste, dass Calvin der Anführer der Bande war, die ihn ärgerte?" Sie schrieb wieder.
„Passierte noch mehr?"
„Ja, als dann ein Junge aus der Nachbarschaft mit Schnittwunden aufgefunden wurde und behauptete, er sei im Dunkeln überfallen, gebissen und mit einem Messer verletzt worden, waren es nicht nur die jungen Burschen, die zu viel Zeit hatten, die Billy Moores blassen Kopf forderten."
Jetzt runzelte meine Besucherin die Stirn. „Aber es hat sich doch gleich nach der ärztlichen Untersuchung des Jungen herausgestellt, dass er sich beim Bauen einer Kaninchenfalle mit der Drahtschlinge selbst verletzt hatte. Er war ja wohl ein ganz schönes Früchtchen. Den Überfall hat er nur aus Angst vor seinen Eltern erfunden", sagte sie.
„Nun ja ... richtig." Ich wurde langsam gereizt. Sollte ich jetzt die Geschichte erzählen oder wollte sie mir weiterhin dazwischen funken?
„Trotzdem - der Verdacht blieb. Die Jungen - übrigens auch einige Erwachsene - waren jedenfalls felsenfest der Meinung, Billy Moore sei ein Untoter und man müsse seine Seele erlösen. In Büchern und Filmen hatten sie ja genau gesehen, wie man so was macht."
„Ja? Wie denn?"
Jetzt reichte es aber! War sie so dumm oder wollte sie mich nur provozieren? Ich beugte mich ihr etwas entgegen, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen.
„Das sollten Sie aber wissen. Ist doch fast Allgemeinbildung: Man treibt einen angespitzten Holzpflock direkt in das Herz des Vampirs, und seine Seele wird frei."
Ich lehnte mich wieder zurück, betrachtete sie, wie sie etwas in ihren Unterlagen nachlas.
„Aber muss man den Vampir denn nicht in seinem Sarg, in seiner Heimaterde erwischen?", fragte sie, dabei in ihren Notizen blätternd.
„So heißt es in den Büchern und Filmen. Aber wenn er nun mal gerade nicht in seinem Sarg schlief, haben sich die Jungen wohl gedacht, musste es auch so klappen. Wie ich sagte, es war unerträglich heiß und der Alte hatte sich nach Sonnenuntergang in den Lehnstuhl auf der Veranda gelegt. Alle Menschen waren wegen der drückenden Hitze gereizt und übermüdet, nahezu aggressiv, wahrscheinlich auch die Jungs. Die Luft funkte förmlich und ein Gewitter war am Anrollen; der Himmel verfinsterte sich schon am Nachmittag, wurde gegen Abend bleischwarz."
Ich hob mein Gesicht mit geschlossenen Augen empor, ließ mir die milde, duftende Brise um die Nase wehen. Die sanfte Stimme meiner Besucherin holte mich zurück.
„Die Burschen sollen angeblich gelost haben, wer sich zu William Moore schleichen und ihn umbringen sollte. Stimmt das?"
„Gelost? Davon weiß ich nichts. Ich hörte nur, dass sich Calvin mit dem Pflock und dem Hammer, von seinen zischenden und Fäuste schwingenden Kameraden angefeuert, durch den Garten an den Alten herangeschlichen hat. Und dann ... furchtbar." Ich presste die Fäuste auf meine Augen, um das Bild des Toten, das ich später in der Zeitung gesehen hatte, und das sich mir jetzt aufdrängte, zu verbannen.
„Möchten Sie eine Pause machen?", fragte die junge Frau besorgt.
Ich schüttelte den Kopf, wollte mich auf keinen Fall wie ein Weichei benehmen. Darum sammelte ich mich und sprach mit gefestigter Stimme weiter.
„Als Calvin den Pflock aufsetzte, wachte der Alte auf, das hat der Junge mir erzählt, bevor sie ihn abholten. Billy hatte sich zwar erschrocken, aber sofort die Lage erfasst und unheimlich ruhig zu ihm gesagt: 'Geh, Junge, geh heim, und lasst mich endlich in Ruhe.' Die Worte klangen so klar und kühl, als hätte er sie aus Eis geschnitzt. Auch das hat mir Calvin berichtet, und dass er eigentlich nur aus Angst vor dem Alten den Hammer niedersausen ließ ... Grauenvoll ... Hören wir doch lieber auf. Möge Billy in Frieden ruhen und die Seele von Calvin hat hoffentlich auch ihren Frieden gefunden."
Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her, die junge Frau blieb ruhig sitzen.
„Sie und die anderen Bürger haben doch sicher hinterher von Dr. Stevens erfahren, dass der arme Kerl neben einer schweren Anämie noch eine Menge anderer Gebrechen hatte. Lichtempfindliche Augen und eine nicht behandelbare Sonnenallergie, um nur einige zu nennen." Ich kaute auf meiner Unterlippe.
„Ja, haben wir gehört - zu spät - leider zu spät. Aber - sagen Sie, hat Billy nicht auch dazu beigetragen? Er hat uns doch alle in dem Glauben gelassen, er sei anders, jemand Furchterregendes, Fremdes? Der passte einfach nicht in unseren kleinen Ort." Flehend sah ich sie an. Meine ineinander verschlungenen Hände waren klebrig und verschwitzt. Verstohlen wischte ich sie an meinen Hosenbeinen ab. Aber in ihren Augen konnte ich kein Verständnis für die Jungen, für die Dorfbewohner ausmachen. Sie betrachteten mich kühl wie Gletscher, während meine Blicke umhersprangen wie Flöhe.
„Hat Calvin das eigentlich jemals erfahren? Dass er einen völlig harmlosen, alten Mann umgebracht hat?"
„Ich weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Ich will es auch nicht wissen. Vielleicht ist er auch schon tot und verfault; vielleicht bemüht er sich noch immer, zu vergessen. Man sagt ja, die Zeit heilt alle Wunden."
„William Moores Wunden werden von der Zeit wohl kaum geheilt werden."
Ihr trockener Ton, der neuerliche Sarkasmus, reizten mich, aber ich war zu müde, um aufzubegehren. Ich gähnte.
„Entschuldigen Sie, können wir ein andernmal weitermachen? Ich glaube, ich sollte mich etwas hinlegen."
Hilfesuchend blickte ich mich um und sah ihn auf mich zukommen - meinen Retter, einen Mann in Weiß. Wie ein Ertrinkender griff ich nach seinem Arm und klammerte mich an ihn, rang nach Luft. Warum verspürte ich bloß auf einmal diese Panik in mir, dieses heftige Herzklopfen, als ob ein scharfkantiger Stein schmerzhaft in meiner Brust umher rumpelte?
„Na, wollen wir?" Beruhigend klopfte der Mann mir auf die Schulter. Verständnislos sah ich ihn an. Was sagte er da? Mir wurden die Knie weich, ich sackte ihm fast weg. Aber er war ein großer, starker Kerl und hielt mich aufrecht. Dennoch schwankte ich, ein seltsamer, fiepender Laut kam aus meiner Kehle.
„He, Calvin, ganz ruhig. Alles okay?" Das klang schon etwas lauter; sein Griff wurde fester.
Bevor er ungeduldig wurde, ging ich mit ihm, obwohl ich nicht wusste, warum er mich mit diesem Namen ansprach.
Ach - wie unhöflich von mir - fast hätte ich vergessen, mich von meiner Besucherin zu verabschieden, der ersten seit vielen, vielen Jahren. Verschwörerisch blinzelte ich der hübschen Frau über die Schulter zu.
„Passen Sie bloß auf, Herzchen", raunte ich. „die Leute hier sind alle etwas verdreht und seltsam. Und sie lügen. Ich habe mich inzwischen daran gewöhnt, aber Sie sollten jetzt zusehen, dass Sie schleunigst von hier verschwinden!"
Bildmaterialien: Canva
Cover: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 29.07.2021
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