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„Mein Gott, das ist ja ...“

Ingrid starrte auf das Schreiben des Notars, hielt vor Erstaunen den Atem an und konnte kaum glauben, was sie da las. Dann stieß sie einen kleinen Juchzer aus.

Das war die aufregendste Nachricht, die sie in ihren vierzig Lebensjahren erhalten hatte: Sie war Tante Hettys Alleinerbin!

Mit klopfendem Herzen ließ Ingrid den Brief sinken, rief sich die verstorbene Schwester ihrer Mutter in Erinnerung, mit der sie über viele Jahre Briefkontakt gepflegt hatte.

Hetty, eigentlich Henrietta, war in jungen Jahren eine ausnehmend schöne, lebenshungrige Frau gewesen. Viele hatten sie schon damals für übertrieben modebewusst, ja, mondän gehalten. Hinter vorgehaltener Hand war in der Kleinstadt getuschelt worden, die junge Hetty Böhmer sei zwar eine Augenweide, lebe aber weit über ihre Verhältnisse, leiere ihren Eltern ständig das Geld aus der Tasche. Dabei gehörte ihre Familie nur zur Mittelschicht. Während die Männer sie einen „heißen Feger" nannten, bezeichneten sie die meisten Frauen als „aufgedonnerte Dirne".

Und doch soll Henrietta von derart einnehmendem Charme gewesen sein, dass sie stets bekam und erreichte, was sie wollte.

In den 1970ern hatte sie dann auf einer USA-Reise den millionenschweren Unternehmer Raymond Walker kennengelernt und ihn derart bezaubert, dass er sie schon nach wenigen Wochen um ihre Hand bat. Sie zog mit ihm auf sein Anwesen in Kalifornien.

„Sensationell! Unsere Hetty hat sich einen Goldfisch geangelt“, hieß es in Ingrids Familie.

Bis ins hohe Alter zeigte sie sich etwas exzentrisch. Nicht nur, was ihr Verhalten anging, sondern auch im Hinblick auf den Kleidungsstil. Sie liebte ausgefallene Designerstücke, lehnte düstere Farben ab. Selbst bei Totenfeiern trug sie weder Schwarz noch Grau, nicht einmal Violett oder Dunkelblau, sondern trat, wie man sie kannte, als prächtiger Paradiesvogel auf.

Zur Beerdigung des Schwiegervaters erschien sie in einem äußerst knappen, kanariengelben Kostüm mit ausladendem Hut, brachte obendrein den englischen Butler in Livree mit, der ihr formvollendet am Grab Champagner kredenzte. Ihr Trinkspruch auf den Dahingeschiedenen war ein kleiner Skandal gewesen.

„Billy, du alter Schwerenöter, auf dass dich ausreichend schottischer Whisky und viele heiße Weibsbilder erwarten, im Himmel oder in der Hölle, wo es dich auch hinverschlagen hat! Werde dich und unsere langen Pokernächte vermissen!“

Dass sie nach diesen Abschiedsworten nicht die angedachte Rose ins Grab warf, sondern eine Flasche Single Malt auf William Walkers Sarg zerschellen ließ, sorgte ebenfalls für Empörung, nicht nur bei der hinterbliebenen Schwiegermutter. Der Auftritt gab eine Weile Anlass für Klatsch und Tratsch in der High Society von Santa Barbara.

Doch was die Leute redeten, war Hetty egal und Raymond störte es ebenfalls nicht, er vergötterte seine Frau.

Das alles wusste Ingrid nur aus den Erzählungen ihrer Eltern. Sie selbst hatte die Tante nur ein einziges Mal getroffen, als Zwölfjährige bei einer Hochzeit in München.

Damals hatte sie sich an Hettys platinblonder Turmfrisur, dem gewagten, goldenen Kleid mit passenden Stilettos kaum sattsehen können. Die Tante war ihr wie eine mit Diamanten behängte Königin vorgekommen. Selbst die Zigarettenspitze, in der die dünnen, schwarzen Zigarillos steckten, die sie ständig rauchte, war aus purem Gold gewesen.

„Herrje, sie muss es immer und überall übertreiben! Hetty stiehlt der Braut die Show!", hatte Ingrid eine verbiestert dreinblickende Alte am Tisch lästern gehört.

Nach Onkel Raymonds Tod vor zehn Jahren zog sich die inzwischen 61jährige Hetty aus der Öffentlichkeit auf ihr Anwesen zurück, nur noch umgeben von ihrem Personal. Kinder hatte sie keine.

Das war die Zeit gewesen, in der Ingrid und sie begannen, sich regelmäßig zu schreiben. In Hettys letztem Brief, den Ingrid vor sechs Wochen erhalten hatte, berichtete die Tante, dass sie sich eine schwere Lungenentzündung zugezogen hätte und diese in einer Privatklinik auskurieren müsse. Und jetzt war sie tot ...

Ingrid senkte die Augen wieder auf das Schreiben des Notars. Es endete mit der Ankündigung einer baldigen Testamentseröffnung, zuvor müsse der Nachlass geprüft und geregelt werden.

„Hu, ich bekomme alles!“, dachte sie mit einem wohligen Schauer.

Was würde sie mit dem Reichtum anfangen? Gewiss erwarteten sie neben der Luxus-Villa in Santa Barbara, die sie von Fotos kannte, eine Menge Geld, weitere Immobilien, möglicherweise Aktien, nicht zu vergessen Hettys Unmengen an kostbarem Schmuck ... Sollte sie nach Amerika, ins sonnige Kalifornien, auswandern?

Nein, lieber wollte sie sich, hier in Hamburg, endlich einen Herzenswunsch erfüllen und eine schicke Modeboutique eröffnen.

Ihr jetziger Beruf - Sachbearbeiterin bei der Baubehörde - war zwar sicher, aber wenn sie an die Aktenberge dachte, die sich jeden Tag auf ihrem Schreibtisch stapelten, wäre es ein Traum, im eigenen Geschäft zu stehen.

„Mit dem vielen Geld wird mein Leben anders, aber bestimmt viel angenehmer“, dachte sie beseelt.

Zwei Tage später war sie zu einem Grillfest eingeladen. Sie platzte mit der Neuigkeit der bevorstehenden Erbschaft im Freundeskreis heraus. Man gratulierte ihr, doch in einigen Mienen erkannte sie unverhohlenen Neid. Sofort prasselten Vorschläge auf sie ein, was sie mit dem Reichtum am besten anstellen sollte. Und es wurden Geldbitten an sie gerichtet.

Ingrids Empfinden und Verhalten veränderte sich. War sie früher offen auf Menschen zugegangen, wurde sie jetzt unsicherer, vorsichtiger. Sie hatte das Gefühl, sich von einigen Bekannten zurückziehen zu müssen, die sie regelrecht bedrängten.

„Hätte ich nur nichts gesagt“, dachte sie.

Eine Woche war seit dem Erhalt des Anwaltsschreibens vergangen.

Ingrid bummelte nach der Arbeit durch die Stadt und betrat aus einer Laune heraus ein großes Autohaus. Sie besaß zwar einen Führerschein, aber keinen Wagen. Vor einem schicken Coupé blieb sie stehen, schaute es sich interessiert an. Der Autoverkäufer blickte zu ihr herüber, kam aber nicht auf sie zu, um ein Beratungsgespräch zu führen. Stattdessen wandte er sich ab und beschäftigte sich mit seinem Mobiltelefon. Er hielt sie offenkundig nicht für eine potentielle Kundin.

„Tja, noch bin ich das nicht, du arroganter Schnösel,“ murmelte Ingrid ärgerlich. Aber der nächste Gedanke hob ihre Laune wieder.

„Demnächst werde ich nach einem Besuch im Schönheitssalon in einem schicken Designeroutfit wiederkommen, dann wird sich der Kerl wie eine gierige Schmeißfliege auf mich stürzen. Und ich werde ihn eiskalt zappeln lassen.“ Lächelnd verließ sie das Geschäft.

Auf dem Heimweg passierte sie einen zahnlosen Obdachlosen, er tat ihr leid, darum drückte sie ihm fünf Euro in die Hand. Mit einem Mal kamen ihr beunruhigende Gedanken. Durfte sie überhaupt in Hülle und Fülle leben, wenn die Armut um sie herum immer mehr zunahm? Einfach den Reichtum genießen oder war es moralisch geboten, einen größeren Teil des Vermögens zu spenden?

Was sollte sie tun? Diese Überlegungen hielten sie gefangen und ließen sie nicht mehr los. Sie spürte, dass viel Geld nicht unbedingt glücklicher machte, sondern auch mit Schwierigkeiten verbunden war.

Im Schaufenster eines Reisebüros sprang ihr eine Werbung ins Auge, die sie von den Grübeleien ablenkte.

„Zweiwöchige Rundreise durch Südindien.“

Lange stand sie vor dem Plakat, betrachtete die Landschaft, die Tempel und die schönen Inderinnen in den farbenfrohen Saris. Nach Indien hatte sie immer schon mal reisen wollen, und jetzt konnte sie sich das endlich leisten.

Kurzentschlossen buchte Ingrid die Reise, die unmittelbar bevorstand, überwies die beträchtliche Summe von ihrem Sparkonto. Sie nahm Urlaub und flog nach Bombay.

Die Reisegruppe bestand neben ihr aus drei Paaren sowie zwei Frauen, alleinstehend wie sie. Der Reiseleiter hieß Georg, war etwa in ihrem Alter, ein schmucker, gebildeter Mann, der von den anderen beiden Single-Damen sofort umgarnt wurde. Diese waren, jede auf ihre Art, ziemlich attraktiv, und sie lieferten sich einen regelrechten Wettstreit, die Gruppe zu unterhalten, aber vor allem wollten sie Georgs Aufmerksamkeit auf sich ziehen, während Ingrid eher schüchterner Natur war und sich nicht in den Vordergrund drängte.

Sie bemerkte, wie sich zwischen den beiden Frauen eine Feindseligkeit aufbaute. Irgendwann zischten sie sich an wie Harpyien, sodass sich Georg genötigt sah, zu ihnen auf Distanz zu gehen.

Ingrid fühlte sich geschmeichelt, als er sich jetzt öfter mit ihr unterhielt. Jedes ihrer Gespräche empfand sie als bereichernd und angenehm. Sie hatte den Eindruck, dass Georg und sie auf einer Wellenlänge lagen.

Eines Abends, nachdem alle gegessen und sich die meisten Mitreisenden in ihre Zimmer zurückgezogen hatten, lud Georg sie auf einen Drink an der Bar ein, was sie erfreute. Sie trank etwas mehr als sonst, wurde durch den Charme des Mannes gesprächig und erzählte ihm von der Erbschaft.

In den nächsten Tagen suchte der Reiseleiter ständig ihre Nähe, was Ingrid zunehmend beunruhigte.

„Warum tut er das?“, fragte sie sich. „Mag er mich wirklich? Oder ist er mehr an dem Geld interessiert, das ich erben werde?“

Früher wären ihr solche Gedanken nie gekommen, aber das erwartete Vermögen hatte ihr Selbstbewusstsein getrübt.

Allzu schnell ging die zweiwöchige Rundreise zu Ende. Georg und sie tauschten Kontaktdaten aus. Man wollte sich auf alle Fälle nicht aus den Augen verlieren.

Zu Hause angekommen fand Ingrid endlich einen weiteren Brief des Notars vor, in dem er den Termin für die Testamentseröffnung nannte.

Mit vor Aufregung flauem Magen fuhr sie an diesem Tag mit dem Bus zur Kanzlei.

Dort eröffnete ihr der Notar, dass der gesamte Nachlass für die Schulden, die Tante Hetty angesammelt hatte, verrechnet wurde.

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Ingrid saß wie mit Eiswasser übergossen, war einen Moment sprachlos.

„Aber ... wie kann das sein? Sie hatte doch so viel ...“, brachte sie dann hervor.

Der Notar räusperte sich, schien peinlich berührt.

„Nun, wie soll ich es formulieren? Ihre Tante führte - vor allem in den letzten zehn Jahren -  ein äußerst ... ausschweifendes Leben.“

Er schob ihr einige ausgedruckte Seiten über den Schreibtisch zu.

„Wenn Sie einen Blick auf diese Übersicht werfen wollen? Es wurden hohe Summe überwiesen und teure Anschaffungen getätigt, es gab auch mehrere Schenkungen an  ... äh... die jungen Männer, die für Henrietta Walker arbeiteten ... „

Ingrid schluckte, dann überflog sie die Aufstellung. Gärtner, Koch, Poolreiniger, Masseur ... Sie alle waren mehr als großzügig mit Sportwagen, Luxusartikeln und vor allem Geld von ihrer Tante bedacht worden.

Der Notar schaute sie über den Rand seiner Lesebrille an. Sie verstehen?, fragte er wortlos.

Und ob sie verstand. So was ... Ihre Tante hatte offensichtlich mehrere Toyboys ausgehalten, oder wie diese Gigolos in der Klatschpresse genannt wurden.

Sie unterdrückte ein bitteres Auflachen, als ihr eine Inschrift für den Grabstein einfiel: Hetty, du alte Schwerenöterin, auf dass dich ausreichend Champagner und viele heiße Mannsbilder erwarten, im Himmel oder in der Hölle, wo es dich auch hinverschlagen hat!

Sie fasste sich und richtete den Blick wieder auf den Mann hinter dem Schreibtisch.

„Nicht mal eine kleine Summe ist übrig?“

Der Notar verneinte mit Bedauern. „Sie sollten das Erbe ausschlagen“, riet er ihr. „Nicht, dass man sie noch zum Begleichen der Restschuld heranzieht.“

Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, verließ Ingrid die Kanzlei und machte sich mit hängendem Kopf auf den Weg zur Bushaltestelle.

Die Enttäuschung saß tief, die Bitterkeit schmerzte. Einen Moment war ihr, als zerfiele sie in ihrem Inneren zu Staub, bis von ihr nichts mehr übrig war als die leere Hülle einer Frau, die sich wimmernd in eine dunkle Ecke verkriechen wollte.

Mit der Reise nach Indien hatte sie ihr Konto nahezu komplett geplündert. Jetzt hieß es sparen, sparen, sparen. Der Traum von der Modeboutique war zerplatzt wie eine Seifenblase. Sie musste weiter Aktenberge im tristen Büro wälzen. Und auch den Sportwagen sowie großzügige Spenden an Bedürftige konnte sie sich abschminken.

Aber Ingrid war keine Frau, die sich in Selbstmitleid suhlte oder lange verdrossen war. Sie straffte die Schultern.

„Hetty war nun einmal eine wilde Hummel, letztendlich ist es ihr Geld gewesen“, dachte sie. „Sie hat damit tun und lassen dürfen, was sie wollte, basta! Und wenn ich meinen Freunden und Bekannten von dem Fiasko erzähle, werde ich von niemandem mehr wie ein gieriger Hai umkreist und um Geld angehauen. Ich bin einfach wieder Ingrid, eine von ihnen, nicht mehr die Millionenerbin.“

Das war neben der schmerzlichen Ernüchterung zumindest ein kleiner Lichtblick. Sie seufzte und schritt weiter. In dem Moment piepste ihr Handy in der Handtasche. Sie zog es hervor und sah, dass Georg eine Nachricht geschrieben hatte! Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

„Hallo Ingrid, habe häufig an dich gedacht. Wollen wir uns mal wiedersehen?“, las sie.

Einerseits freute sie sich über die Kontaktaufnahme des anziehenden Mannes. Sie hatte sich auf der Reise in ihn verliebt, sich aber nicht wirklich Hoffnung auf ein näheres Kennenlernen gemacht. Andererseits fürchtete sie, dass er sich mehr in ihr vermeintliches Vermögen verguckt hatte. Das musste sie herausfinden, auch wenn es vielleicht eine weitere bittere Erfahrung sein würde.

Daher schrieb sie zurück: „Wie schön, dass du dich meldest. Möchte dich gern treffen, aber du müsstest zu mir kommen. Eine Fahrt nach Freiburg kann ich mir nicht leisten, bin total pleite. Die Erbschaft hat sich leider als Nullnummer entpuppt!“

Mit zitterndem Finger drückte sie auf Senden, starrte auf das Telefon. Würde er antworten? Wenn ja, was? Konnte sie einen weiteren Schlag am heutigen Tag verkraften?

Zermürbende Sekunden verstrichen. Es wurden Minuten daraus. Ingrid durchfuhr ein Stich der Bitterkeit, ihre Miene überschattete sich.

„War ja zu erwarten“, murmelte sie und wollte das Handy wegstecken. Da läutete es. Sie zuckte zusammen. Georg rief an! Sie hob das Telefon ans Ohr.

„Hallo?“, presste sie hervor.

„Hallo Ingrid! Was für ein Pech, das mit der Erbschaft. Aber weißt du was? Geld ist nicht alles. Es gibt Wichtigeres im Leben. Zum Beispiel, dass wir beide uns begegnet sind. Dass wir uns wiedersehen ... Ich bin nächste Woche mit einer Reisegruppe in deiner Nähe. Wollen wir uns am Freitag oder Samstag in deiner Stadt treffen?“

Trotz seiner selbstbewussten Worte glaubte Ingrid, eine gewisse Unsicherheit, ja, bange Erwartung beim letzten Satz herauszuhören, die sie bezauberte. Wenn sie auch keine Millionen erhielt, vielleicht bahnte sich ja eine wunderbare Beziehung mit diesem tollen Mann an ...

Ein Strahlen erhellte ihr Gesicht und ein prickelndes Gefühl stieg in ihr auf.

„Ja, ich möchte dich sehr gerne treffen, am Freitag und am Samstag“, hauchte sie.

 

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Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2022

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