Es war bereits Viertel nach acht an jenem Abend im August, als Frances Foley aus dem Fahrstuhl im zweiten Stock des St. Johns Altenheims trat. Sie war zu spät, doch würden Carla und Dolores, die sie vom Dienst ablöste, ihr das hoffentlich verzeihen.
Sie trug ein rotes T-Shirt und eine enge Jeans, die ihre sportliche Figur zur Geltung brachte, ihr brünettes Haar hatte sie wie immer aufgesteckt.
In der Luft hing der vertraute, für Altenheime typische Geruch. Eine Mischung aus Desinfektionsmittel, Seniorenessen, alter Haut und vollen Urinbeuteln. Frances störte das wenig. Wenn man in diesem Job arbeitete, musste man das hinnehmen. Sie betrat das Schwesternzimmer.
„Da bist du ja endlich! Dolores ist schon weg.“ Tadel klang aus Carlas Stimme, sie taxierte Frances mit unverhohlener Missbilligung.
„Tut mir leid, dass ich zu spät bin“, gab die zurück und stellte ihre Beuteltasche ab. „aber der Verkehr ...“ Sie verdrehte die Augen, vollführte eine Sprich-mich-bloss-nicht-weiter-darauf-an!-Handbewegung. „Kommt nicht wieder vor.“
„Das will ich hoffen.“ Frances ahnte, warum Carla immer so herablassend zu ihr war. Vermutlich wollte die Ältere auf diese Weise klarstellen, wessen Revier das hier war und dass sie das Sagen hatte - was ihr zweifelsohne nach siebzehn Jahren Dienst im St. Johns auch zustand.
Frances verschwand im angrenzenden Umkleideraum.
„Ist irgendwas passiert, von dem ich wissen muss?“, rief sie Carla zu, als sie sich aus ihrem T-Shirt schälte, um danach den Schwesternkittel anzulegen.
„Montgomery hat wieder ins Bett gemacht. Behalt' sie im Auge und gib ihr, wenn nötig, eine von diesen hier.“ Carla tauchte im Türrahmen auf und hielt ihr ein Röhrchen Schlaftabletten hin. „Die wirken Wunder. Und wenn du Hilfe brauchst, ruf einfach Nick. Der hat heute Nacht die Schicht im ersten Stock.“
„Danke." Frances ließ das Röhrchen in die Kitteltasche gleiten. Sie würde vielleicht die Schlaftabletten, aber keinesfalls Nick brauchen. In ihren Augen war der Pfleger eine nutzloser dummer Versager, saß seine Schichten mit PC-Spielen und schwulen Pornoheftchen ab, und wenn es Probleme gab, würde eher sie ihm weiterhelfen können als umgekehrt. Jedoch behielt sie diese Meinung lieber für sich.
„Muss los. Wir sehen uns morgen früh“, brummte Carla und schob sich ihre Handtasche über die Schulter. „Vergiss nicht, Freddy zu füttern.“
Freddy, den Kanarienvogel, dessen Käfig auf dem Korridor stand. Wem er gehörte, wusste Frances nicht, aber die Alten liebten ihn. Einige verbrachten Stunden damit, ihm zuzusehen, wie er von Stange zu Stange hüpfte und ab und zu ein Liedchen trällerte.
„Bis dann“, erwiderte Frances.
Dann war sie allein. Die alten Leute mochten sie, und Frances mochte die Alten. Bis auf Mrs. Montgomery, die niemand leiden konnte. Denn die war eine alte Hexe, überzog das Pflegepersonal mit den wildesten Beschimpfungen und schlug um sich, wenn ihr etwas nicht passte. Was ziemlich häufig der Fall war. Die Frau war unberechenbar. Am schlimmsten aber fand Frances die Bettnässerei, die in voller Absicht geschah. Doch auch damit kam sie klar.
Sie trat den gewohnten, allabendlichen Rundgang an, der bei Mrs. Keller in Zimmer 201 begann und bei Mrs. Montgomery in Zimmer 210 endete. Sie kannte alle ihre Schützlinge gut. In dem halben Jahr, das sie hier arbeitete, hatte sie genügend Zeit gehabt, die Krankenakten zu studieren.
Da momentan nicht alle Zimmer belegt waren, befanden sie sechs Menschen in ihrer Obhut. Menschen, die am Ende ihrer Tage angekommen und nur noch ein Schatten ihrer selbst waren. Verfallen und gebrechlich. Das Leben hatte ihnen nicht mehr viel bieten, während sie in ihrer kleingewordenen Welt darauf warteten, dass der Tod sie in seine kühle Umarmung zog.
Frances war es wichtig, ihnen diese verbliebene Zeit so angenehm wie möglich gestalten.
Jetzt klopfte sie an die Tür von Zimmer 201 und trat ein.
Mrs. Keller lag in im Bett, hatte die Hände auf der Brust gefaltet. Ihre Augen waren geöffnet, was Frances verriet, dass sie wach war. Sprechen konnte die alte Dame nicht mehr. Das war seit dem Schlaganfall im April nicht mehr möglich. Aber hin und wieder verzog sie den linken Mundwinkel zu einem Lächeln, wenn sie gut drauf war, und gab eine Art Murren von sich, wenn sie irgendetwas störte - was zugegebenermaßen weitaus häufiger vorkam.
In diesem Moment lag sie einfach nur da, den Kopf etwas erhöht durch die beiden Kissen, auf denen er gebettet war, und starrte auf die Landschaft des kleinen Ölbilds an der Wand, ein Werk von Thomas Moran. Kitschig, aber sehr wertvoll.
„Guten Abend, Mrs. Keller.“ Die Angesprochene wandte den Kopf leicht in ihre Richtung.
Frances stellte den Becher mit Kräutertee auf das Bett-Tischchen, richtete den Strohhalm, damit die alte Dame ihn mit dem Mund erfassen konnte. Dabei betrachtete sie den schwachen, zusammengefallenen Körper, und es überkam sie die vertraute Welle des Mitleids. Niemand hatte es verdient, so zu enden. Alte Menschen, die keiner mehr haben wollte, einst geliebte Familienmitglieder, die man abgeschoben hatte, als die Belastung zu groß wurde. Verständnis hatte sie dafür nie gehabt. Erst ziehen sie ihre Kinder auf und widmen ihnen ihr gesamtes Leben, und dann, wenn sie alt und nutzlos geworden sind, steckt man sie in ein Heim, weil man sich nicht die Finger schmutzig machen will. Und ein Strauß Blümchen und eine Stunde Kaffeetrinken jedes zweite oder dritte Wochenende konnten das auch nicht wieder gut machen. Sicherlich stand es ihr nicht zu, darüber zu urteilen. Aber es brach ihr das Herz und schmerzte sie in der Seele.
Sie stellte das Radio an, das auf einer Kommode stand, drehte an dem kleinen Rädchen, bis sie den richtigen Sender gefunden hatte. Mrs. Keller liebte klassische Musik, und Frances wusste, dass ein Violinkonzert auf dem Programm stand.
„Ist es so okay?“, fragte sie.
Der winzige Anflug eines Lächelns erschien auf Mrs. Kellers Gesicht. Es schien in Ordnung zu sein.
„Fein“, antwortete Frances. „Ich komme später noch mal vorbei, um Gute Nacht zu sagen.“
„Wie geht es Ihnen heute?“, fragte sie Mrs. Jefferson, als sie deren Zimmer betrat.
„Ich will mich nicht beklagen“, entgegnete die weißhaarige Frau, die in einem Sessel am Fenster saß und die Schwalben beobachtete, die in der Abendsonne Kreise durch die Luft zogen. „Aber heute sind die Schmerzen wieder schlimm.“
Frances bewunderte die Tapferkeit dieser Frau. Der Krebs hatte schon tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Sie wirkte schwach und ausgemergelt. Auf erschreckende Weise ähnelte sie im Aussehen Frances' Mutter, kurz, bevor die damals gestorben war. Nach all den Jahren quälte sie diese Erinnerung nach wie vor. Manche Wunden konnte selbst die Zeit nicht heilen.
Auch ihre Mom hatte sehr gelitten, und obwohl sich Frances damals, als Teenager, nach außen hin stark gezeigt hatte, um sie nicht zusätzlich zu belasten, hatte sie, sobald sie für sich war, oft stundenlang geweint, weil sie ihr nicht helfen konnte.
„Die Schmerzen werden wir lindern“, sagte sie, als sie ihre gedankliche Reise in die Vergangenheit beendet hatte. „Dr. Davies hat die Dosis erhöht. Dann können Sie auch besser schlafen.“
Mrs. Jefferson richtete sich mit ihren knochigen Händen aus dem Stuhl auf. Frances konnte sehen, wie sehr es sie anstrengte, das verriet auch das verzerrte Gesicht, trotz des Morphiumpflasters, das man ihr auf den Rücken geklebt hatte und das stetig eine kleine Dosis der schmerzstillenden Droge freigab.
„Dr. Davies ist ein guter Arzt.“
„Ja, das ist er“, bestätigte Frances. Er lebte für seinen Beruf, und sie hatte großen Respekt vor ihm. Und er war menschlich in Ordnung, kümmerte sich mit rührender Geduld um seine Patienten, was er mit ihr gemeinsam hatte.
Sie half Mrs. Jefferson aus dem Bademantel und zog das Nachthemd nach oben, um den Rücken freizulegen. Die Wirbelknochen und Rippen schimmerten durch das abgemagerte Fleisch.
Sie zog das verbrauchte Pflaster von der pergamentartigen Haut ab und warf es in den Papierkorb neben dem Bett. Dann nahm sie Pflaster aus der Verpackung, löste sie von der Schutzfolie und klebte sie eins nach dem anderen sorgfältig nebeneinander auf Mrs. Jeffersons Rücken.
„So, jetzt geht’s ins Bett“, sagte sie, als sie das Nachthemd wieder nach unten gleiten ließ.
„Danke, Miss Frances.“
Mrs. Jefferson stützte sich auf sie, als sie die kurze Strecke zwischen Stuhl und Bett zurücklegten.
„Den Rest schaffe ich allein.“
„In Ordnung. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht. Schlafen Sie gut.“
„Gott schütze Sie“, erwiderte Mrs. Jefferson.
Frances nickte ihr freundlich zu und verließ das Zimmer, schloss leise die Tür hinter sich.
Mr. Daniels Zimmer war leer.
„Keiner Zuhause?“, fragte Frances mit leicht erhobener Stimme. Sie pochte an die Tür zum kleinen Badezimmer, als sie keine Antwort erhielt, drehte sie am Türknopf und riskierte einen vorsichtigen Blick hinein.
Mr. Daniels schien ausgeflogen zu sein, was eigentlich nicht ungewöhnlich war. Obwohl er an seinen Rollstuhl gefesselt war, legte er die meisten Wege zurück.
Frances eilte aus dem Raum über den Flur. Hoffte, dass sie ihn im Aufenthaltsraum vorfand. Ansonsten hatte sie ein Problem.
Sie betrat das größte Zimmer der Etage, den sogenannten „Clubraum“. Diese Bezeichnung war ein wenig zu vornehm für das, was es in Wirklichkeit war. Zehn Stühle an einem langen Tisch, an dem nachmittags Kaffee und Kuchen serviert wurden, ein paar Brettspiele und Bücher in einem Regal und eine kleine Palme in einem Blumenkübel, das war der „Clubraum“.
Erleichterung durchflutete sie, als sie Mr. Daniels dort vorfand. Er hatte ein Kartenblatt vor sich auf dem Tisch zu einer Runde Solitär ausgebreitet.
„Hallo Mr. Daniels, ich habe Sie schon gesucht.“
„Und gefunden“, antwortete er mit seiner knarzenden Stimme und verzog den Mund zu einem amüsierten Grinsen. Anscheinend konnte er die Besorgnis in ihrem Gesicht ablesen. „Abhauen kann ich mit diesem Ding hier nicht wirklich.“ Seine Hände deuteten auf den Rollstuhl, in dem er saß.
„Allerdings.“ Frances lächelte zurück. Sie mochte Mr. Daniels. Er hatte ein sehr einnehmendes Wesen. Sie schob ihn über den Flur zurück in sein Zimmer.
„Ich habe was für Sie reingeschmuggelt.“
Sein Gesicht erhellte sich wie das eines Kindes an Weihnachten.
„Zigaretten!“
„Psst!“ Sie legte einen Zeigefinger auf die Lippen.
„Versprochen, hoch und heilig“, gab der alte Mann zurück und legte sich die Hand mit den Altersflecken auf die Brust wie bei einem Indianerehrenwort.
Sie griff in ihre Kitteltasche und zog eine angebrochene Schachtel Lucky Strike heraus, seine Marke.
„Aber heute Abend nur eine.“
„Sie sind so gut zu mir, Liebes“, freute sich Mr. Daniels.
Frances wurde etwas verlegen.
„Denken Sie daran, das Fenster aufzumachen, damit sich der Rauch nicht im ganzen Stockwerk verteilt.“
„Habe ich Sie jemals enttäuscht?“
Frances erinnerte sich an den Vorfall vor drei Monaten, als Carla den Alten beim Rauchen auf seinem Zimmer erwischte. Es hatte ein Riesendonnerwetter gegeben, und die Heimleitung hatte Mr. Daniels darauf hingewiesen, dass sie ihn des Hauses verweisen würde, falls das noch einmal vorkam.
Wenn Frances ihm Zigaretten vorbeibrachte, passte sie immer auf, dass niemand davon Wind bekam, und auch Mr. Daniels hatte aus der Geschichte gelernt. Er rauchte nur noch während ihres Nachtdienstes, bei offenem Fenster, mit ordentlich Raumspray bewaffnet und ließ die Zigarettenstummel danach in der Toilette verschwinden.
„Genießen Sie's.“
„Das werde ich.“ Mr. Daniels zwinkerte ihr zu, als er sich die Zigarette zwischen die Lippen schob.
Frances zog die Tür ins Schloss und legte wie gewohnt ein gerolltes Handtuch vor den Türspalt, damit kein verräterischer Rauch in den Flur zog.
„Hallo, Mrs. Arnold. Schauen Sie mal, was ich Ihnen mitgebracht habe.“
Die Frau mit der Statur eines Buddhas sah von dem Rätselheft auf, in das sie vertieft war, und nahm ihre Lesebrille ab.
Frances stellte den mit Alufolie bedeckten Teller auf den kleinen Tisch, an dem Miss Arnold saß.
„Ist das Kuchen?“, fragte die so aufgeregt, dass ihr Doppelkinn bebte. Mit einem Mal war wieder Leben in das ansonsten meist gelangweilte Gesicht der alten Dame zurückgekehrt.
Frances' Blick streifte das gerahmte Schwarzweißfoto auf dem Nachttisch, das ein junges Hochzeitspaar zeigte. Mrs. Arnold und ihren verstorbenen Mann. Beide waren damals attraktiv und gertenschlank gewesen.
Man konnte sich schwer vorstellen, dass die junge Frau auf dem Hochzeitsbild dieselbe Person war, die jetzt hier vor ihr saß. Mrs. Arnolds Diabetes kam nicht von ungefähr. Ihr Kampfgewicht von zweihundertvierzig Pfund hatte sie sich mühsam in etlichen Jahren angefuttert.
„Käse-Sahne“, kommentierte Frances, als sie die Alufolie vom Teller entfernte und das große Stück Kuchen zum Vorschein kam. Der feine Geruch stieg ihr in die Nase, sodass sie ihn gerne selbst gegessen hätte.
Die Augen der Seniorin begannen zu leuchten. Doch dann fragte sie: „Ist das denn nicht ein bisschen zu spät?“
„Wenn wir etwas mehr Insulin nehmen, ist es okay, denke ich.“ Frances zwinkerte ihr verschwörerisch zu. Sie verstand sich sehr gut mit Mrs. Arnold. Die alte Frau war geistig noch gut beisammen und zeigte keine Spur von Senilität.
„Sie sind ein Engel“, flötete Mrs. Arnold, als sie den letzten Bissen verzehrte. „Das war ein köstliches Betthupferl, danke."
„Gern geschehen“, gab Frances zurück. „Aber jetzt müssen wir schauen, dass wir Ihren Zucker auch wieder runterkriegen.“
Sie lud den Pen mit einer frischen Insulinpatrone und steckte eine Nadel auf das Ende. Dann drehte sie an dem kleinen Rädchen, um die Einheiten einzustellen, die sie verspritzen wollte.
Die feine Nadel durchstieß die runzelige Haut von Mrs. Arnolds Oberschenkel. Frances drückte fest auf den Knopf des Pens, entleerte die Patrone in die Hautfalte, die sie mit den Fingern zusammendrückte. Schließlich zog sie die Nadel heraus und wischte die Stelle mit einem sauberen Zellstofftupfer ab.
„Fertig.“ Frances schenkte ihr ein warmes Lächeln und versprach, später noch einmal vorbeizukommen.
Im Zimmer von Mrs. Palladino stand ein Regal voller Bücher, obwohl ihre Augen zu schlecht waren, um selbst noch lesen zu können. Frances hatte daher viele Stunden an Mrs. Palladinos Bett verbracht und ihr Geschichten vorgelesen. Am liebsten mochte sie das Märchen von dem Wolf und den drei kleinen Schweinen. Im Alter wurden viele wieder wie Kinder. Betagte Menschen konnten sich an so einfachen Dingen erfreuen, und Dankbarkeit zu erhalten empfand Frances als den größten Lohn, den sie sich vorstellen konnte.
Sie nahm ein Buch aus dem Regal und blätterte es auf.
„Was möchten Sie heute hören?“
„Wenn Sie mich so fragen, dann meine drei kleinen Schweinchen.“ Mrs. Palladino strahlte voller Vorfreude.
„Das hätte ich mir beinahe denken können“, antwortete Frances schmunzelnd, die bereits den Daumen in die richtige Seite gelegt hatte. Sie begann zu lesen, während Mrs. Palladino gebannt an ihren Lippen hing.
Sie war gerade an der Stelle angekommen, als der Wolf das Haus des zweiten kleinen Schweinchens umpustete, da wurde plötzlich die Tür aufgerissen.
Frances schrak zusammen. Nick lugte herein.
„Ah, hier steckst du“, sagte er, strich sich geziert eine fettige Haarsträhne aus der Stirn.
Der hatte gerade noch gefehlt ... Er verwickelte sie häufiger in Gespräche oder war mit bestimmten Situationen überfordert, brauchte dann Hilfe.
„Ist etwas passiert? Ich hoffe, du hast nicht schon die ganze Etage nach mir absuchen müssen“, erwiderte sie geduldig.
„Nein. So schlimm war es nicht.“ Nick lachte leise. „Deine süße Stimme hat mir den Weg gewiesen.“
Wie romantisch. Würde sie nicht wissen, dass der Typ schwul war, hätte sie es als versuchte Anmache verstanden. „Was kann ich für dich tun?“
„Mir sind die Aspirin ausgegangen. Kannst du mir aushelfen?“ Dämlicher Kerl, weiß immer noch nicht, wo er welche Medikamente findet, dachte Frances verärgert, behielt aber den milden Gesichtsausdruck bei. „Bin gleich zurück", sagte sie zu der alten Lady und erhob sich. Nick folgte ihr auf den Flur, ins Mitarbeiterzimmer. Dort holte sie eine Dose Aspirin aus dem Medikamentenschrank, reichte sie ihm.
„Danke“, antwortete Nick.
„Sonst noch was?“ Sie wollte nicht, dass er noch einmal vorbeikam und sie störte.
Er schien zu überlegen. „Nein, das war's.“
Sie wartete, bis er verschwunden war, bevor sie wieder ins Zimmer von Mrs. Palladino zurückkehrte, um ihr nun das abendliche Schlafmittel in einem Glas Saft zu verabreichen.
Es schmeckte wie stets bitter, und die alte Frau verzog das Gesicht bei jedem kleinen Schluck.
„Das ist ekelhaftes Zeug“, beschwerte sie sich. „Der Apfelsaft macht's nicht besser.“
„Ich weiß“, antwortete Frances. „Aber es hilft Ihnen, gut zu schlafen.“
Mrs. Palladino gab ein unwilliges Murren von sich, aber sie trank das Glas aus. Frances griff nach dem Buch und las weiter.
Die Frau war bereits eingeschlummert, bevor sie die Geschichte beendet hatte. Frances klappte das Buch zu und stellte es zurück ins Regal.
„Gute Nacht, Mrs. Palladino“, flüsterte sie und ging.
Jetzt hatte sie nur noch eine Visite vor sich.
Das letzte Zimmer war das von Mrs. Montgomery.
Frances hatte in all den Monaten kaum ein freundliches Wort von ihr vernommen. Jeder Versuch, nett zu ihr zu sein oder an sie heranzukommen, war gescheitert. Die wüstesten Beschimpfungen hatte sie über sich ergehen lassen, wenn sie etwas tat, das nicht nach Mrs. Montgomerys Zufriedenheit war. Entweder war es der zu heiße oder zu kalte Kaffee, oder im Raum war es zu stickig und die Schuhe drückten. Und wenn der Alten etwas gegen den Strich ging, zeigte sie es einem nicht nur durch Worte, sondern auch mit Taten, allem voran mit ihren Bettnässeraktionen.
Mrs. Montgomery konnte zuckersüß sein, wenn sie etwas von den Schwestern wollte, aber sobald sie ihr Ziel erreicht hatte, kam stets das wahre, gemeine Ich wieder zum Vorschein.
„Guten Abend, Mrs. Montgomery“, sagte Frances mit ihrer freundlichsten Stimme, als sie das Zimmer betrat.
Die alte Frau kniff argwöhnisch die Augen etwas zusammen.
Das Bett, das sie laut Carla am Nachmittag eingenässt hatte, war frisch bezogen worden, doch immer noch hing im Raum der beißende Gestank nach Urin.
„Ich weiß nicht, was an diesem Abend gut sein soll“, knurrte Mrs. Montgomery. Anscheinend wollte sie keine Unterhaltung. Die Zähne hatte sie bereits rausgenommen, weshalb ihre Sprache verwaschen klang. Das Gebiss lag in einem Glas Wasser auf dem Nachttisch.
Sie starrte Frances herausfordernd an, als würde sie nur auf etwas warten, über das sie sich aufregen konnte, um dann einen Sturm auszulösen. Doch dazu würde es heute Abend nicht kommen. Frances Blicke blieben an Mrs. Montgomerys Mund hängen, dem zahnlosen, faltigen Loch.
„Oh Gott, was haben Sie denn da?“, fragte sie mit gespieltem Erschrecken. Sie trat einen Schritt näher, um etwas in Mrs. Montgomerys Gesicht zu betrachten, das nicht da war. „Dort, an Ihren Lippen.“
Sichtlich irritiert öffnete Mrs. Montgomery ihren Mund, damit Frances hineinschauen konnte, wobei ihr übler Mundgeruch in die Nase stieg.
„Was soll denn da sein?“, presste die Alte undeutlich hervor.
„Ich kann es nicht genau sehen, aber das sieht gar nicht gut aus.“ Mrs. Montgomery ruckte unwillig den Kopf zurück.
„Wahrscheinlich Druckstellen vom Gebiss“, keifte sie.
„Nein. Das muss ich genauer untersuchen“, sagte Frances, nicht ohne ihren Tonfall mit etwas Sorge zu würzen.
„Nicht Sie, Sie dumme Pute, sondern der Doktor!“
„Der Doktor ist aber momentan nicht hier.“ Frances wurde langsam ungeduldig.
Auf dem Esstablett, das noch vom Abendessen herumstand, fand sie einen kleinen Puddinglöffel, der seine Zwecke erfüllen würde.
„So, jetzt bitte noch mal den Mund öffnen. Damit wird es funktionieren.“
Mrs. Montgomery sperrte erneut ihren Schlund auf, ohne sich weiter zu beschweren, sodass Frances sich wunderte, wie einfach das ging.
„Die Zunge bitte nach hinten ...“
Die Alte tat wie geheißen. Das war der Augenblick, auf den Frances gewartet hatte. Sie stieß mit dem Löffel die Zunge soweit zurück, wie sie konnte. Mit ihrer freien Hand packte sie Mrs. Montgomerys Nase und drückte sie zu.
„Und jetzt runterschlucken.“
Mrs. Montgomery riss die Augen auf, bekam keine Luft mehr und versuchte, mit ihren schwachen Armen Frances Griffe zu lösen. Ohne Erfolg. Die Zunge war halb im Rachen verschwunden, als sie diese verschluckte.
Frances wusste, dass es grausam war, sie auf diese Weise auf ihre letzte Reise zu schicken, aber sie hatte nie einen Funken Menschlichkeit an diesem Drachen entdecken können, warum also sollte sie ihr deren letzte Minuten verschönern? Das faltige Gesicht lief rot an, die Augen schienen hervorzuquellen.
„Gute Nacht“, raunte Frances ihr zu. „Benehmen Sie sich besser, dort, wo sie jetzt hingehen.“
Sie wollte nicht mit ansehen, wie die alte Frau verendete. Daher ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen, und machte die Tür hinter sich zu.
Das Klassikkonzert im Radio hatte gerade zum Finale angesetzt, als Frances zum zweiten Mal an diesem Abend Mrs. Kellers Zimmer betrat.
Die lag mit geschlossenen Augen und schnarchte. Wahrscheinlich träumte sie von der Landschaft auf dem scheußlichen Moran-Gemälde, das sie den ganzen Abend über betrachtet hatte, davon, wie sie über die Waldlichtung tanzte und sich ins weiche Gras fallen ließ, das von den abendlichen Sonnenstrahlen in ein rötliches Licht getaucht wurde, während im Hintergrund die New Yorker Philharmoniker die Szene mit weichen Streichertönen untermalten.
Frances zog eines der beiden Kissen unter Mrs. Kellers Kopf hervor und drückte es ihr aufs Gesicht. Das Beruhigungsmittel, das sie dem Kräutertee beigemischt hatte, würde große Gegenwehr unterdrücken. Der Todeskampf war kein nennenswerter, dauerte nur etwa zwei Minuten, doch Frances kamen diese vor wie Stunden. Mrs. Keller begann, mit ihren Armen und Beinen ziellos durch die Gegend zu rudern, wie ein großer Käfer, der auf dem Rücken lag. Ein paar Mal kratzte sie Frances mit ihren Fingernägeln am Arm, die war erstaunt, wie viel Lebenswillen der verbrauchte alte Körper noch aufbringen konnte. Aber dann regte er sich nicht mehr.
„Gute Nacht, Mrs. Keller“, sagte sie sanft. „Jetzt können Sie im Himmel weitertanzen.“
Frances schaltete das Radio aus.
Im Korridor herrschte Totenstille. Wahrhaftige, denn Frances war die einzig Lebende im zweiten Stock, davon hatte sie sich bei einem kurzen Rundgang überzeugt. Mrs. Keller hatte den schnellen Tod durch Ersticken gefunden. Mrs. Jefferson war verschieden durch eine Überdosis Morphium-Pflaster. Mr. Daniel hatte heute Abend seine letzte Zigarette geraucht. In mühsamer Kleinarbeit hatte sie nachmittags die Zigaretten präpariert, den Tabak aus den Papierhüllen gebröselt, ihn mit Zyankalipulver vermengt und die tödliche Mischung wieder zurück in die leeren Hüllen gestopft.
Die dicke Mrs. Arnold hatte ihre Gnadenmahlzeit Käsekuchen erhalten und war dann mit der zigfachen Insulinmenge in der Spritze vom Siechtum errettet worden. Die freundliche Mrs. Palladino war friedlich durch zu hoch dosiertes Schlafmittel ins Jenseits geglitten.
Beim Gedanken an den schrecklichen Abgang von Mrs. Montgomery überschattete sich Frances' Gesicht. Doch nur kurz, dann erschien wieder der milde, madonnenhafte Ausdruck in ihren Zügen, den die Alten an ihr liebten. Nun, die fiese Vettel hatte sich den unschönen Tod selbst zuzuschreiben. Basta.
Sie sind ein Engel ... fielen ihr Mrs. Arnolds Worte wieder ein. Der Todesengel. So hatte man sie mehrfach in den Medien bezeichnet. Mittlerweile besaß sie eine Sammlung diverser Zeitungsartikel aus Städten in mehreren Staaten, in denen sie so betitelt worden war. Todesengel war dabei der harmloseste Ausdruck gewesen. Krankenschwester des Grauens, Das Monster in Schwesterntracht und Killer-Bestie waren da durchaus schärfer ... beleidigend und ungerechtfertigt.
Diese dummen Schreiberlinge hatten nicht verstanden, dass sie die armen alten Menschen von ihrem Leid erlöste, sie befreite von ihrem sinnlosen und menschenunwürdigen Vor-Sich-Hin-Vegetieren. Einst gestandene Männer und intelligente, starke Frauen, die zusehends verfielen und Stück für Stück an Würde verloren. Nein, das hatte niemand verdient.
Oh ja, sie selbst hatte sich auch viele Namen gegeben. In Pasadena war sie als Allison Alberts bekannt gewesen. Damals hatte sie blondiertes Haar und wog ein paar Pfund weniger. In Dallas war sie als Beatrice McBride mit Brille und Kurzhaarschnitt aufgetreten. Es folgten Corinne Cassady, Diana Davis, Elena Ellwood ... jeder Name stand für einen kurzen Lebensabschnitt. Alphabethisch voranschreitend. Aber das sollte sie ändern, denn die Cops oder die Typen vom FBI hatten das Muster vermutlich erkannt. Sie wurde immer geschickter darin, sich neue Papiere, eine Sozialversicherungsnummer zu beschaffen.
Frances Foley wird heute beerdigt. Als wer erstehe ich wieder auf? Sie kicherte. Wie wäre es mit Gabrielle Myers, mit roten Locken? Etliche Pfunde im Unterschlupf anfuttern. Grüne Kontaktlinsen würden den Look abrunden.
Ihre Verwandlung würde bald erfolgen, doch jetzt sollte sie keine wertvollen Minuten vergeuden, es war Zeit für den Abschied. Am Treppenabsatz stehend lauschte sie hinab in den ersten Stock. Wie erwartet, hörte sie aus dem unteren Mitarbeiterzimmer die vertrauten Geräusche, Nick zog sich seine Pornofilmchen rein. Bestens. Sie lächelte wie eine zufriedene Katze, ihre Augen bekamen einen starren Glanz. Jetzt kam der Teil, der ihr am besten gefiel.
Ihr Bonus. Wie immer wollte sie sich aus jedem Seniorenzimmer ein teures Stück aussuchen und mitnehmen. Das war nur gerecht, der Lohn für ihre treuen Dienste. Sie hatte die Alten mit Hingabe gepflegt und nun erlöst.
Mit ihrer großen Beuteltasche betrat sie das erste Zimmer, steckte das kleine Moran-Ölbild ein. Die Scheußlichkeit würde eine fünfstellige Summe bei einem Hehler einbringen. Von Mrs. Jefferson nahm sie die Tahiti-Perlen-Kette. Die antike Taschenuhr aus Gold war das Abschiedsgeschenk des netten Mr. Daniels. Eine protzige Diamantbrosche wählte sie aus dem Schmuckkästchen von Mrs. Arnold. In Mrs. Palladinos Zimmer musste sie länger suchen, die Frau besaß anscheinend keinen Schmuck, keine wertvollen Gegenstände. Einer Eingebung folgend untersuchte Frances das Bücherregal und wurde doch noch fündig: Ein ausgehöhltes Buch, in dem ein Batzen Hundert-Dollar-Scheine steckte. Bingo! Danke, meine Liebe!
Das einzige Zimmer, das sie kein weiteres Mal betrat, war das von Mrs. Montgomery. Sie wollte weder deren anklagenden Leichnam ansehen müssen noch etwas von ihr mitnehmen. Nur Vergessen.
Ihre Arbeit im St. Johns war vollbracht.
Die Frau, die sich die letzten Monate über Frances Foley genannt hatte, zog den Schwesternkittel aus und schlüpfte wieder in das rote Shirt. Nun hatte sie es eilig, zu verschwinden.
Mit geübten Griffen räumte sie in Windeseile ihren Spind leer, dann nahm sie die Tasche mit ihren Schätzen vom Stuhl und hängte sie sich über die Schulter.
Hatte sie auch nichts vergessen? Sie ging alles noch einmal im Kopf durch und fand, dass sie zufrieden mit sich sein konnte. Mutter wäre stolz auf mich.
Als sie in den Gang hinaustrat, blieb sie vor dem Vogelkäfig stehen, in dem Freddy müde auf seiner Stange saß.
Sie öffnete die kleine Gittertür, umfasste den Vogel. Der kleine Körper war warm, und die junge Frau konnte seinen aufgeregten Herzschlag spüren, als sie ihn in ihren Händen hielt, zum Fenster trat und es öffnete.
„Du bist frei, such dir ein schönes, neues Zuhause“, flüsterte sie und löste den sanften Griff.
Mit einer Armbewegung gab sie Freddy ein wenig Schwung, der kleine Vogel breitete die gelben Flügelchen aus und verschwand in der Nacht.
Sie schloss das Fenster wieder. Dann eilte sie zum Fahrstuhl und drückte den Knopf.
Ein letztes Mal wandte sie sich um. Dann löschte sie liebevoll das Licht im Gang, wie eine Mutter im Zimmer ihrer Kinder, nachdem sie sie ins Bett gebracht hatte.
Ihre Armbanduhr zeigte 22:43 Uhr an. Das hieß, sie hatte nur zweieinhalb Stunden gebraucht. Das war eine gute Zeit.
In einer Viertelstunde würde sie auf dem Highway sein.
Sie würde erst mal quer durchs Land fahren, und sich, sobald Gras über die Sache gewachsen war, wieder auf eine Stelle bewerben. Vielleicht in Kalifornien oder Florida ... oder sie würde einen Abstecher in den Norden machen. Chicago oder Detroit.
Überall gab es viel zu tun. Warteten alte, gebrechliche Menschen auf ihre Hilfe und Gnade.
Der Fahrstuhl war zum Stillstand gekommen, die Türen glitten auf und warfen einen grellen Lichtkegel in den dunklen Flur, einen Fächer aus Licht, der nur vom Schatten der jungen Frau unterbrochen wurde.
Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Autoschlüssel, während sie den Fahrstuhl betrat.
Bye bye, fliegt auf zu den Engeln ...
Bildmaterialien: Canva
Tag der Veröffentlichung: 04.07.2021
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