Leon zog die teure Funktionskleidung an, die im Sommer vorm Schwitzen, bei Regen vor Nässe und jetzt, im Winter, vor der Kälte schützte. Äußerst hilfreich, um beim Laufen abzuschalten und sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wie bei allen Dingen des Lebens leistete er sich auch in puncto Kleidung nur das Beste. Dass er das inzwischen konnte, verschaffte ihm Befriedigung.
Zuletzt schlüpfte er in seine Nikes, steckte Schlüssel und Handy ein und verließ die Wohnung, lief mit raschen, gleichmäßigen Schritten die Stufen im Treppenhaus hinab zum Ausgang des Gebäudes, das direkt in Hamburgs Innenstadt an der Alster lag.
In der Nacht hatte es Frost gegeben. Die eiskalte Luft streifte erfrischend sein Gesicht, ließ die Haut prickeln. Er sog sie in die Lunge und verfiel in einen flotten Laufschritt. Die Straße war um diese Zeit fast menschenleer. Er passierte nur einen Zeitungsboten und eine müde wirkende Frau, die an einer Haltestelle saß.
Jeden Morgen joggte er die große Runde. Vor Sonnenaufgang. Sein tägliches Ritual. Ein Ausgleich zum vielen Sitzen am PC. Er brauchte keinen Wecker, um in der Dämmerung aufzuwachen. Das geschah jeden Tag von selbst, nach traumlosen Nächten.
Körperlich war Leon bestens in Form, darauf achtete er. Einen Raum seiner Wohnung hatte er als privates Fitness-Studio eingerichtet. Die Muskeln seines einsfünfundachtzig großen Körpers waren auch mit neunundzwanzig Jahren noch so klar definiert wie zur Zeit seines Schulabgangs, wo er den anderen praktisch in jeder Sportart überlegen gewesen war.
Selbst nach kilometerlangen Läufen beschleunigten sich sein Atem und Herzschlag nur wenig. Stattdessen geriet er jedes Mal nach einer gewissen Zeit in diesen nahezu euphorischen Zustand, in dem man die körperlichen Befindlichkeiten ausblendet, automatisch dahin trabt, während der Geist auf Hochtouren läuft. Dann hatte er immer die besten Gedankengänge und Ideen, um sein Vermögen weiter zu vergrößern. Er rief sich den Aktienmarkt in Erinnerung, die Werte, getätigte und geplante Transaktionen. Und wie gewünscht kamen ihm phantastische Einfälle, kombinierte er und wägte ab. Er besaß Talent für diese Art Geschäft.
Auf einmal hatte er den Eindruck, beobachtet zu werden. Angestarrt. Es riss ihn aus seinen Gedanken. Leons Nackenhärchen stellten sich auf. Er war aus gutem Grund ein vorsichtiger Mann, lief aber im gleichen Tempo weiter, als hätte er nichts bemerkt, während Aufregung ihn erfasste und seinen Puls jetzt doch in die Höhe trieb. Nur aus den Augenwinkeln scannte er die Umgebung, konnte aber niemanden entdecken. Das komische Gefühl blieb. Etwas in seinen Eingeweiden schlug stillschweigend Alarm. Etwas, das sich bis zu den primitiven Vorfahren zurückverfolgen ließ und deren Bedürfnis, sich in Höhlen gemeinsam um ein Feuer zu kauern.
Da! Wieder ein Rascheln im Gebüsch am Weg. Aber diesmal von der Seite, nicht hinter ihm, als ob sich einer oder etwas parallel dort hindurchbewegte. Leon stoppte abrupt, um besser sehen zu können, seine Hände zitterten. Er zuckte zusammen, als jemand aus den Schatten trat, sich näherte. Eine Frau. Nur wenige Meter von ihm entfernt blieb sie unter einer Straßenlaterne stehen.
Jetzt erkannte er sie, ordnete sie in die Chronik seines Lebens ein. Des alten Lebens, das er zurückgelassen hatte, vor Jahren. Er hörte sich zischend die Luft durch die Zähne einsaugen, als hätte er einen jähen körperlichen Schmerz verspürt, dann stockte ihm der Atem, stand er wie festgefroren, ihm wurde kalt.
Camilla. Die ausgeprägten Wangenknochen grenzten an eine zierliche Nase über einem Paar sinnlicher Lippen, an deren Geschmack er sich plötzlich lebhaft erinnerte. Das Kinn ließ unmissverständlich erkennen, dass sie auch stur und hartnäckig sein konnte. Sie trug ihr schwarzes Haar nach wie vor lang, besaß inzwischen aber eher energische denn hübsche Züge. Ihr Leben war scheinbar härter gewesen als seins, hatte sich in ihnen abgebildet. Gleich geblieben und vertraut waren ihre ausdrucksvollen Augen, die blitzten vor Intelligenz und irgendeinem inneren Feuer. Und sie konnten von humorvollen Blicken sofort auf Todesstrahlen umschalten, wenn sie in Wut geriet. Das wusste er.
Sekundenlang starrten sie sich an. Sein Atem bildete gefrorene Wölkchen. Eine unangenehme Empfindung regte sich in ihm. Sein Gewissen.
Nun zog sie eine ihrer Hände aus der Jackentasche, strich sich mit einer eleganten Geste durchs Haar, schob die Hand wieder zurück, musterte ihn weiter mit kühlem Gleichmut, der Unbehagen in ihm auslöste.
Im Gegensatz zu früher hatte sie nicht nur eine gewisse Härte an sich, sondern auch etwas, das er nicht näher benennen konnte. Vielleicht lag es daran, dass sie erwachsen geworden war. Oder waren es ihre blauen Augen? Von derart intensivem Blau, das sie den tiefsten Stellen des Meeres ähnelten. Damals hatten sie ihn schelmisch oder strahlend vor Verliebtheit angeschaut. Viele hatten auf ihn gestanden, aber er war mit ihr zusammengekommen. Ja, er war auch in sie verknallt gewesen, doch sie hatte tiefer empfunden. Jetzt wirkte es, als hätten diese Augen, kühl und ruhig wie zugefrorene Teiche, alles gesehen, und wären deshalb durch nichts mehr zu erschüttern.
„Camilla.“ Fast andächtig sprach er ihren Namen aus.
„Was für eine Überraschung, nicht?“ Ihre Stimme triefte vor Hohn.
Leons Gedanken rasten. Er versuchte, sich zu sammeln.
„Ja. Ich dachte, du wärst ...“ Er stockte, presste kurz die Lippen zusammen. „Ich hatte keine Ahnung ...“ Wieder hielt er inne, wusste nicht weiter. Erinnerte sich an die allerletzten Augenblicke ihres gemeinsamen Lebens, als nach dem gut geplanten Coup dieser unvorhersehbare, verdammte Unfall passierte.
Wochenlang hatten sie zuvor in der nächstgelegenen Kleinstadt die Lage gecheckt, die beste Zeit herausgefunden, ehe sie zu der ausgewählten Filiale fuhren. Camilla hatte am Steuer im Wagen gewartet, während er mit der Maske und einer täuschend echt aussehenden Fake-Waffe, von Adrenalin durchflutet, in die Bank gestürmt war. Er hatte so einen Idioten, der den Helden spielte, niederschlagen müssen, aber es hatte geklappt!
Kurz darauf war er zurückgekehrt, hatte sich mit dem prall gefüllten Rucksack auf den Beifahrersitz fallen lassen und sie hatte das Gaspedal durchgetreten, war losgerast. Der Knall. Beim Zusammenstoß mit dem LKW hatte es die Fahrerseite getroffen, sie wurde eingedrückt. Während ihm nur der Kopf gedröhnt hatte, war sie eingeklemmt gewesen, blutüberströmt zusammengesackt, hatte nicht mehr reagiert, und er hatte angenommen, sie wäre tot. Musste in Sekundenschnelle eine Entscheidung treffen und war mit der Beute geflüchtet, zu Fuß. Dann weiter mit der Bahn.
Am gleichen Tag war er untergetaucht, abgehauen aus dem trostlosen Kaff, in dem sie aufgewachsen waren; das sie gemeinsam nach der Schule hatten hinter sich lassen wollen. Weil es keine Arbeit, null Perspektive gab, nichts, was sie dort hielt. Kaputte Familien, weder sein noch ihr Zuhause war ein gemütlicher, freundlicher Ort gewesen ...
„Du dachtest, ich wäre tot?“, riss ihre Stimme ihn aus den düsteren Erinnerungen. Auf ihrem Gesicht erschien ein dünnes Lächeln, aber kein angenehmes. „Wirklich? Hast du es denn nachgeprüft, mein Ableben?“
Leon schwieg. Dann räusperte er sich, versuchte, ehrlich zu klingen. „Echt schön, dich zu sehen."
Sie legte den Kopf schief, wartete, dass er ihre Frage beantwortete.
„Ich war in Panik geraten, unter Schock. Hatte schon die Sirenen der Bullen gehört, gedacht, du lebst nicht mehr, so was kann keiner überleben.“ Es klang selbst für ihn lahm. War keine Antwort. Unergründlich ihre Miene, ihre Gedanken.
„Wie hast du mich gefunden?“, wollte er wissen, dachte an seine neue Identität, die angenehme, luxuriöse Existenz, die er sich aufgebaut hatte, und die jetzt in Gefahr war. Durch sie. Denn warum sollte sie ihm wohlgesonnen sein? Früher, da hatte sie ihn voller Inbrunst und Hingabe geliebt, hätte alles für ihn getan, ja, aber das schien jetzt nicht mehr der Fall zu sein und er konnte es nachvollziehen.
„Fleißige Recherche“, gab sie zurück. „Du hast deine Spuren äußerst geschickt verwischt, das muss man dir lassen.“
„Warum bist du jetzt hier? Was willst du von mir?“ Sofort bereute er das Gesagte. Zu hart, zu fordernd.
Ein bitteres Lachen kam aus ihrer Kehle, das augenblicklich endete, als sie ihren Blick wieder in seinen bohrte. Trauer und Wut kämpften um die Oberhand, das sah er ihr an.
„Ich bin nach meiner Genesung verhaftet, angeklagt und verurteilt worden. Fünf Jahre meines Lebens und die Zukunft futsch. Es wären Bewährung oder eine frühere Entlassung drin gewesen, wenn ich dich verpfiffen hätte. In ihren Augen war mein Komplize der Haupttäter. Aber da ich nicht ausgesagt habe ...“ Sie hob vielsagend die Augenbrauen.
Leon wurde noch eine Spur kälter. Was wollte sie? Ihm Schuldgefühle machen, um mehr Geld herauszuholen? Er ging zum Gegenangriff über.
„Danke, dass du nicht ausgepackt hast. Und ich freue mich, dass du lebst. Aber letztendlich war es deine Schuld, dass alles so kam. Du hast den Unfall gebaut. Ich hatte wirklich angenommen, du bist tot. Stand unter Schock. War eine Kurzschlusshandlung, dass ich abgehauen bin. Ins Ausland. Wie hätte ich dort in Erfahrung bringen sollen, ob du noch lebst? Bin erst seit zwei Jahren wieder in Deutschland.“
„Ich weiß. Erst die Niederlande, Belgien, dann zurück."
Woher hatte sie all diese Informationen?
„Warum hast du nicht versucht, etwas herauszufinden? Kontakt aufzunehmen?“, fragte sie leise, als fürchtete sie die Antwort.
Leon merkte, dass er vor Panik in Rage geriet. „Mensch, verdammt, wie ich sagte! Ich war überzeugt, dass du tot bist! Musste die Füße still halten. Und noch einmal: Es war dein dummer Fehler, der uns in diese Scheißlage gebracht hat!“
Wieder bereute er sofort seinen harten Ton, die falsche Wortwahl. Ihre Züge verhärteten sich, doch ihre Stimme blieb ruhig.
„Die Scheißlage, die ich allein ausgebadet habe. Nun, die wahre Weisheit ist die Begleiterin der Einfalt“, sagte sie kryptisch.
Leon konnte mit den Worten nichts anfangen.
„Keine Angst, ich habe dir vergeben“, hörte er ihre Stimme, vertraut und doch so fremd zugleich. Erleichterung wärmte sein Blut wie ein erster Schluck Alkohol, als ihr Gesicht wieder weicher wurde.
Eine weitere Erinnerung zog durch seinen Geist. Eine späte Sommernacht. Eine Party, die sich ihrem Ende näherte. Er sah sie im Mondlicht auf dem Balkon der kleinen Wohnung stehen, in der sich die Jugendlichen drängten. Diese Besäufnisse mit lauter Musik waren zu der damaligen Zeit die einzigen Highlights. Alle waren angeheitert oder betrunken. Das Lied „Soulmate“ von Natasha Bedingfield dröhnte aus der Anlage und Camilla hielt ein Glas in der Hand, sang textsicher mit, blickte ihn dabei unentwegt an, als wäre er der einzige Mensch an diesem Ort. Auf der Welt. Sie hatte an solche Sachen geglaubt, an Seelenverwandtschaft, Schicksal, die große Liebe. Das blaue Kleid in einer Brise wehend, ein Träger, der ihr über die Schulter gerutscht war, die Wimperntusche etwas verschmiert. Ihr Mund zu einem süßen Lächeln verzogen, ihre Augen glänzend wie Sterne … Stopp.
Erinnerungen waren nichts, waren weich wie Gaze auf der mitleidlosen Rasiermesserschärfe einer Schneide. Ein winziger Ausrutscher, einen Moment zulassen, und sie schnitt bis auf den Knochen.
Ihre gemeinsame Zeit war lang her, sie existierte nicht mehr. Bedeutend, elementar wichtig war jetzt einzig und allein, aus dieser Situation herauszukommen.
„Brauchst du Geld?“
„Ja, davon besitzt du inzwischen eine Menge, nicht? Hast unsere Beute gut angelegt und vermehrt.“
Wieder dieser Tonfall, der ihm überhaupt nicht gefiel. In welche Richtung bewegte sich ihr Gespräch? Sie wirkte nicht wirklich interessiert an einem Schweigegeld. Oder Schmerzensgeld. Ihrem Anteil ... Wie immer man es auch nennen wollte. Ihre folgenden Worte bestätigten seine Vermutung.
„Nein, ich will dein Drecksgeld nicht. Hatte es mir anders gewünscht. Auch unser Wiedersehen. Nein, wenn ich dich jetzt so anschaue, dir zuhöre, denke ich, brauche ich gar nichts mehr von dir.“ Es klang resigniert, endgültig. Abgeklärt.
Plötzlich riss sie etwas aus ihrer Jackentasche, Leons Augen weiteten sich, er zuckte zusammen. Eine Waffe? Er hob abwehrend die Hände, taumelte einen Schritt zurück.
Dann registrierte er, dass es nur eine kleine Kladde war. Ihr Tagebuch von früher, in dem er eine Hauptrolle gespielt hatte.
Sie hatte es ihm damals öfter gezeigt, die eingeklebten Fotos von ihnen, hatte ihm daraus vorgelesen, die Seiten angefüllt mit Dingen, die einem verliebten Mädchen wichtig sind.
Sie warf ihm das Buch vor die Füße. Wandte sich um und ging, wobei sie leicht hinkte, ein Überbleibsel des Unfalls. Doch sie schritt mit aufrechter Haltung und gerecktem Kinn.
Fassungslos starrte er auf ihren Rücken, ihr wippendes Haar.
„Warte, Cami!“, rief er ihr den früheren Kosenamen hinterher, komplett verwirrt. Besorgt, was geschehen würde. Er hatte es verbockt. Sein normalerweise analytischer, kühl kalkulierender Verstand befand sich in Aufruhr, funktionierte nicht richtig.
„Cami!“, schrie er ein weiteres Mal, doch sie blieb nicht stehen, bis sie in den Schatten der Morgendämmerung verschwunden war.
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Canva
Tag der Veröffentlichung: 31.03.2021
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