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Alles begann wie ein ganz normaler Tag. Wie jeden Morgen stand Claudia um sechs Uhr auf. Duschte, kleidete sich an und bereitete sich einen Becher Kaffee mit viel heißer Milch zu. An diesem nippend saß sie allein in der Küche, bevor sie zum Altenheim fuhr, in dem sie als Köchin arbeitete.

Ihre Mitbewohnerin, die als Tresenkraft in einer Diskothek jobbte, schlief normalerweise um diese Zeit oder kehrte gerade von der Arbeit heim, aber heute war die Altbauwohnung stiller als sonst, denn Adriana war verreist. Verbrachte ein langes Wochenende bei ihrem Bruder in Berlin. Gestern Nachmittag hatte die Halbitalienerin mit leuchtenden Augen davon geschwärmt, was sie in der Metropole alles erleben würde, ehe sie mit einem für drei Tage viel zu großen Koffer abgerauscht war und eine Parfümwolke im Flur zurückgelassen hatte.

Claudia und Adriana waren grundverschieden. Adriana war so lebendig und impulsiv, ständig in Bewegung. Eine junge Frau, die wusste und bekam, was sie wollte, die man sofort wahrnahm, wenn sie einen Raum betrat. Und das nicht nur, weil sie sich immer aufwändig zurechtmachte. Alles an ihr schien zu rufen: Hier bin ich!

Claudia war das Gegenteil davon. Trotzdem klappte es gut mit ihrem Zusammenleben. Zum großen Teil lag es wohl daran, dass Claudia in der Regel nachgiebig und auf Harmonie bedacht war. Ohne zu meckern fast sämtliche Hausarbeiten erledigte. Sich nicht darüber aufregte, dass ihre Mitbewohnerin oft Besuch hatte, dann die Küche oder das gemeinsame Wohnzimmer belegte, ihre Gäste dort rauchen ließ. Dass Adriana immer zu laut redete, lachte und Musik hörte.

Es störte Claudia wirklich nicht, obwohl sie, die ihre Bücher und das Lesen liebte, sich häufig Oropax in die Ohren stopfen musste.

Aber ... vor Kurzem hatte sie einen von Adrianas Freunden - dem sie zuvor die Haustür geöffnet hatte - lästern gehört: „Wieso lebst du eigentlich mit der zusammen? Boah, ist die langweilig, nichtssagend.“

Wie erstarrt war sie vor der angelehnten Wohnzimmertür stehengeblieben. Adriana hatte „Psst!, nicht so laut!“, gezischt, aber dabei unterdrückt gekichert. Der Kommentar hatte Claudia wehgetan, die Scham hatte ihr die Kehle zugedrückt, auch wenn sie sich später nichts anmerken ließ.

Fakt war, jede der jungen Frauen für sich allein könnte sich die schöne Altbauwohnung nicht leisten, zudem gab Adriana zu viel Geld für Klamotten und Modeschmuck aus, sodass sie sich manchmal welches von Claudia lieh, es aber nicht immer zurückzahlte. Daher verhielt sie sich meist kumpelhaft nett ihrer stillen Mitbewohnerin gegenüber, wenn auch auf eine etwas herablassende Weise.

Claudia blickte auf die Küchenuhr. Zeit, sich auf den Weg zu machen, einen stinknormalen Arbeitstag hinter sich zu bringen. Ihr Hirn sendete ihren Beinen den Befehl, aufzustehen. Doch scheinbar zu halbherzig, denn sie blieb sitzen. Lauschte dem Ticken der Uhr. Den leisen Verkehrsgeräuschen von der Straße. In die Ruhe der morgendlichen Küche hinein läutete ihr Handy, es ließ sie zusammenzucken. Um diese Zeit rief nie jemand an. Ein Notfall? War Adriana etwas passiert?

„Hallo?“, meldete sie sich mit leicht zitternder Stimme. Der Bariton von Herrn Kronjäger drang an ihr Ohr. „Sie bleiben heute zu Hause, ein Wasserschaden in der Küche, muss ausgepumpt werden, die Maschine wird repariert. Wir lassen uns das Essen vom anderen Haus liefern. Sie nehmen einen Tag von Ihrem Resturlaub.“

„Aber -“, wollte Claudia einwenden, doch ihr Chef hatte bereits aufgelegt. Sie spürte, wie sie das Telefon fest umklammerte und dass ihr heiß wurde. Vor Wut. Ein ungewohntes Gefühl für sie, die immer Beherrschte. Was fiel dem Kronjäger eigentlich ein, sie ohne Begrüßung herumzukommandieren? Ihr einen Tag Urlaub wegzunehmen, obwohl sie zig unbezahlte Überstunden angesammelt hatte? Wie oft hatte er sie schon an freien Tagen wegen Personalausfalls ins Heim zitiert, damit sie einsprang ...

Ruhig bleiben. Sie atmete durch, legte das Handy zurück auf den Tisch. Und die heiße Faust in ihrem zusammengeballten Magen entspannte sich wieder. Okay. Positiv denken. Nutze die Gelegenheit, dir endlich einmal einen schönen Tag zu machen.

Aber - was war ein angenehmer Tag? Sie überlegte. Die Uhr tickte. Wieso fiel ihr nichts ein, das ihr Spaß machen würde? Ihr Mund zuckte, als schmeckte der Gedanke bitter. Sie dachte an ein Zitat von Jean Cocteau, das sie einmal gelesen hatte: Die meisten leben in den Ruinen ihrer Gewohnheiten.

Plötzlich legte sich ein winziges Lächeln auf ihr Gesicht, das auch ihren Blick erhellte. Jetzt wusste sie, was sie tun würde, etwas Verrücktes, etwas, was sie noch nie zuvor gemacht hatte. Und ihr Herz pochte vor kindlicher Vorfreude.

Sie betrat Adrianas Zimmer, in dem ein Hauch ihres Parfüms hing. Feminin aber äußerst unordentlich war es, auch der große, offene Schrank, der von Kleidungsstücken und aufgereihten Schuhpaaren überquoll und vor dem sie stehenblieb. Sie betrachtete die schicken Kleider, Blusen, paillettenbesetzte Tops, Jacken, Mäntel. Die Schuhe, von denen die meisten mörderisch hohe Absätze besaßen. Auf dem Schrank standen mehrere Styroporköpfe mit Perücken, die Adriana gerne bei ihrer Arbeit in der Diskothek trug.

„Echthaarperücken, die haben ein Schweinegeld gekostet“, wie sie mal erzählt hatte. Claudia hob die Hand und strich über das lange, leicht gewellte Blondhaar der einen, die ihr besonders gefiel. Wie von selbst gesellte sich ihre zweite Hand dazu und zog die Perücke vom Ständer. Es war nicht schwer, ihr eigenes, dunkelblondes Haar, das nur knapp schulterlang war, darunter zu stecken. Claudia betrachtete sich im Spiegel des Schranks. Hu, sie sah schon anders aus. Sie wandte sich der Kleiderstange zu, schob Bügel hin und her, nahm eine Bluse heraus und hielt sie sich an. Hängte sie wieder auf,  griff nach etwas anderem. Und erstarrte in der Bewegung.

Was tu ich hier eigentlich?, fragte die Vernunft der Zurückhaltenden in ihr.

Was ausprobieren, ein bisschen Spaß haben, antwortete die neue, verwegene Stimmung. Adriana hat nix dagegen, die wollte dich letztens erst mit ein paar ihrer Sachen umstylen, schon vergessen?

Oh, da war es. Das schwarze, enge Wollkleid, in dem Adriana immer sehr sexy aussah. Es würde passen, denn so unterschiedlich sie vom Charakter und Auftreten her waren, sie besaßen in etwa die gleiche Größe und Statur. Sie schälte sich aus ihren Jeans und dem Pullover, stieg in das Kleid und zog es hoch bis über die Schultern. Es saß wie eine zweite Haut. Jetzt schlüpfte sie in ein Paar schwarze Pumps, die nur minimal drückten. Aber wackelig stand sie auf denen. Sie tauschte sie gegen ein paar kniehohe Stiefel mit breiteren Plateau-Absätzen. Schritt hin und her, erst langsam, aber es klappte gut, sie warf das lange Blondhaar zurück. Dann setzte sie sich an Adrianas Schminktisch. Noch ein wenig Lippenstift, Lidschatten, Wimperntusche, es dauerte, denn sie war ungeübt. Zuletzt ein Spritzer des blumigen Parfüms.

Wow, eine gänzlich andere Frau war das im Spiegel. Claudia straffte die Schultern, musterte sich. Als wäre sie zuvor eine blasse, nichtssagende Leinwand gewesen, die die Künstlerin in ihr erst mit gekonnten Strichen bemalen musste, um sie zum Leben zu erwecken.

Ich sehe nicht mehr aus wie eine Claudia, dachte sie. Claudia, das bedeutete die Lahme, die Verschlossene. Nein. Für heute brauche ich einen anderen Namen.

Sie erhob sich vom Hocker, drehte sich im Kreis. Ihre Augen blieben an Adrianas Sprachassistenten hängen. Alexa. Ja, das passte besser!

Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, dann zog sie einen kurzen Mantel über, griff im Flur nach ihrer Handtasche und verließ die Wohnung.

Diese neue Rolle zu spielen stellte sich als eines der aufregendsten Dinge heraus, die sie je getan hatte. Was für ein köstlicher Nervenkitzel! Eine wunderbare körperliche Empfindung. Die Menschen, die ihr auf der Straße entgegenkamen, nahmen sie mit einem Mal wahr. Sie spürte Bewunderung. Vor allem von Männern, ein ungewohntes, aber erregendes Gefühl. Einer hielt ihr galant die Tür zur Bäckerei auf, als sie diese mit einem Coffee to go in der Hand verließ. Sie schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, was er erwiderte.

Sie flanierte die Einkaufspassage entlang. Betrachtete Schaufenster. Und darin auch sich selbst, in ihrer Verkleidung. Zwei Typen grinsten sie an, einer pfiff ihr hinterher. Tja, würde der blöde Freund von Adriana sie immer noch langweilig und nichtssagend finden, wenn sie ihm jetzt begegnete?

Zum ersten Mal seit Langem fühlte sie sich lebendig, ihr Herz pochte, ihre Sinne waren rasiermesserscharf. Die Farben wirkten heller, die Welt sah anders aus. Sie war derart guter Stimmung, dass sie gerade eine Boutique betreten wollte, um sich etwas Schickes zum Anziehen zu leisten, da sah sie ihn.

Gaff ihn nicht an, schalt sie ihr neues Ego. Hilf ihm einfach.

Sie eilte auf den jungen Mann im Rollstuhl zu, der sich am Bordsteinrand festgefahren hatte. „Darf ich?“ Dank ihrer langjährigen Tätigkeit im Altenheim bugsierte sie den Rollstuhl mit professionellem Griff auf den Gehweg. Der Typ hob den Kopf, schaute sie überrascht an. Er war etwa so alt wie sie, und, wow, er hatte bemerkenswerte Augen. Blau wie ein Sommerhimmel, freundlich und klar. Sein dunkles Haar trug er etwas zu lang. Und er könnte sich mal wieder rasieren, ging es ihr beim Anblick des Dreitagebarts durch den Kopf.

„Danke“, sagte er. Er besaß auch eine angenehme Stimme, das hörte sie an diesem einen Wort.

„Na, dann ...“ Sie schenkte ihm ihr neues, strahlendes Alexa-Lächeln, wollte weiter, doch die blauen Augen hefteten sich derart intensiv auf ihr Gesicht, dass sie stehenblieb, seine Züge verrieten eine gewisse Unsicherheit, als er sprach.

„Ich möchte hier gerade frühstücken gehen ...“ Er nickte mit dem Kopf zum Eingang des Cafés, vor dem sie standen. „Darf ich dich einladen?“

Uh, diese wundervolle Stimme. Und die breiten Schultern in dem Jogginganzug, die Beine waren unter einer leichten Decke verborgen. Schade, dass er im Rollstuhl saß, sonst würden ihm die Frauen garantiert scharenweise nachlaufen. Schäm dich, fuhr Claudia die Alexa in ihr an. Was für ein oberflächlicher, dämlicher Gedanke!

„Ja, warum nicht?“, gab sie aus schlechtem Gewissen darüber schnell zurück. Und spürte sofort darauf, dass sie tatsächlich Lust hatte, Zeit mit ihm verbringen, ihn etwas kennenlernen.

 

„Wie heißt du?“, fragte er sie, nachdem sie ihm gegenüber an einem Fenstertisch Platz genommen und sie ihre Bestellung aufgegeben hatten.

„Alexa.“

„Witzig, ich heiße Alex.“ Er grinste sie an und zeigte weiße Zähne. „Hast du heute einen freien Tag?“

Bestimmt würde er sie gleich fragen, was sie beruflich machte. Claudia überlegte. Zu ihrem neuen Ego passte garantiert nicht Köchin im Altenpflegeheim. Was sollte sie sagen? Büro? Schauspielerin?

„Ja. Und du? Was machst du so?“, spielte sie erst einmal den Ball zurück.

„Ich studiere. Soziologie, hier an der Uni.“

Sie plauderten weiter, stellten einen ähnlichen Musikgeschmack und weitere Gemeinsamkeiten fest, und die musste sie sich nicht ausdenken, die waren real. Die Zeit verging wie im Flug.

„Alexa, ich muss jetzt los, leider. Hab' einen wichtigen Termin“, meinte er irgendwann. Bedauern lag in seiner Stimme. Dann schien er sich einen Ruck zu geben. „Aber ... ich würde dich gerne wiedersehen.“ Er hatte es leise gesagt, so, als erwarte er eine Abfuhr.

Sie zögerte. Hatte das Zusammensein mit ihm anregend gefunden. Doch ... er interessierte sich für die mondäne Alexa, nicht für die Claudia dahinter. Sie konnte diese Rolle auf Dauer nicht durchhalten. Wollte es auch nicht. Das wäre nicht fair. Betrug. Die echte Frau, die sie war, würde er vermutlich wie die meisten anderen nur für eine graue, unscheinbare Maus halten.

Das Schweigen wurde zu lang, fühlte sich unangenehm an. Er reagierte zum Glück nicht beleidigt darauf, als hätte er damit gerechnet.

„Sorry, wollte nicht aufdringlich sein. Eine tolle Frau wie du hat bestimmt einen Freund.“

Fast hätte sie aufgelacht, denn ihre letzte Beziehung war Jahre her und hatte nur wenige Monate gedauert. Plötzlich wusste sie nichts mehr zu sagen, Alexas Mut und Schlagfertigkeit hatten sie gänzlich verlassen. Erneut rettete er die Situation davor, peinlich zu werden.

„Weißt du was?“ Er griff nach dem Stift und dem Block, die die Kellnerin hatte liegen lassen. „Ich schreibe dir meine Nummer auf. Und wenn du Lust hast, meldest du dich mal bei mir. Ohne Hintergedanken. Ich fand das Frühstück mit dir echt schön.“

Oh, dieses Lächeln, das er ihr schenkte, als er ihr das Papier über den Tisch zuschob, es traf sie mitten ins Herz. Sie erwiderte es, dann wandte er sich ab und hob den Arm, um anzuzeigen, dass er bezahlen wollte.

Sie blickte ihm nach, wie er über den Gehweg fortrollte. Ihre Miene war traurig, alles Aufgekratzte war fort, genau wie das erhebende Gefühl, heute Alexa zu sein.

Sie machte sich in die andere Richtung auf den Heimweg, nahm ihre Umgebung kaum mehr wahr. Grübelte.

Zuhause zog sie sich um, verstaute die von Adriana geliehenen Sachen wieder in deren Zimmer, schminkte sich ab. Ließ sich aufs Sofa sinken. Zog aus ihrer Handtasche den Zettel und las: Alex Scheller, betrachtete seine Handynummer.

Nein, sie würde ihn nicht anrufen, diese Scharade nicht fortsetzen. Es war schon seltsam, einen Mann hinters Licht zu führen, aber bei einem Gehbehinderten erschien es ihr gemein. Sie presste das Papier in ihrer Hand genauso fest zusammen wie ihre Lippen. Mist. Jetzt hatte sie einen wirklich interessanten und supernetten Typen getroffen, aber nicht als sie selbst. Die Enttäuschung darüber, ihn nicht wiederzusehen, saß wie ein schmerzender Stein in der Brust.

Allerdings ... wenn ich mich nicht bei ihm melde, dann denkt er vielleicht, es liegt an seiner Behinderung. Auch, wenn er recht selbstbewusst wirkt: Wie viele Enttäuschungen er wohl schon erlebt hat?

Sie wischte sich übers Gesicht. Blieb noch eine Weile sitzen und dachte nach. Dann fasste sie einen Entschluss.

Es war Abend. Wieder betrat sie Adrianas Zimmer, doch diesmal borgte sie sich nur ein wenig Makeup und Wimperntusche, denn die betonten Augen hatten ihr gefallen. Dann schlüpfte sie in ihre Jacke, ihre Schuhe, fuhr sich durch ihr dunkelblondes Haar und atmete tief durch, ehe sie die Haustür aufzog.

Der Weg zu Alex‘ Wohnung war nicht weit. Sie hatte ihn angerufen und er war überrascht gewesen, so bald oder überhaupt von ihr zu hören, das hatte sie ihm angemerkt, bevor er ihr seine Adresse nannte. Sie lief durch die Straßen. Inzwischen wehte ein eisiger Wind, die Kronen der Bäume bogen sich, als würden sie von einem unsichtbaren Feind angegriffen. Aber die kalte Luft fühlte sich erfrischend und sauber an. So rein, wie ihr Gewissen auch wieder sein sollte. Wenn sie ihn darüber aufgeklärt hatte, was heute in sie gefahren war.

Sie erreichte das Haus. Suchte seinen Namen auf den Klingelschildern und presste den Knopf.

Der Tür summte und sie drückte sie auf, betrat ein Treppenhaus, blieb kurz stehen und atmete wieder durch. Mit klopfendem Herzen bewegte sie sich die Stufen empor. Etwas verfing sich in ihren Gedanken. Wie ein Zweig kurz am Flussufer hängen bleibt. Claudia schloss die Augen und bemühte sich, ihn zu erwischen. Aber der Zweig riss sich los, trieb davon.

Sie stieg weiter die Treppe hinauf, im zweiten Stock erwartete sie eine offene Haustür, vor der sie stehenblieb.

„Alex?“, fragte sie in den leeren Flur.

Der zuvor weggetriebene Gedanke kehrte urplötzlich zurück: Sie hatte im Treppenhaus keinen Fahrstuhl gesehen ...

Da kam er aus einem Zimmer. In Jeans und T-Shirt. Großgewachsen, frisch geduscht und rasiert, was ihn noch attraktiver aussehen ließ. Aber vor allem: Er lief. Seine Augen weiteten sich kurz, wie ihre, als sie sich gegenseitig musterten. Schweigen.

Befangen, aber vor allem überrascht, blieben sie beide einen Moment reglos stehen, und betrachteten einander. Dann lachte er plötzlich laut los. Heiße Röte schoss ihr ins Gesicht. Oh Gott, lachte er sie etwa aus? Und doch war sein Gelächter ansteckend.

Er sollte den Charme, den er so mühelos versprühte, in Flaschen abfüllen lassen für die, denen keine solche Gabe beschert war, dachte sie, nur noch ein bisschen verärgert. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander, sie musste das Gesehene entwirren. Warum hatte er morgens im Rollstuhl gesessen?

Die Zunge in ihrem Mund fühlte sich wie ein trockener Gipsbrocken an. Wieder war es Alex, der zuerst sprach. „Hi, Alexa. Ich denke, ich muss dir was erklären.“

Da war es wieder, das bezaubernde Lächeln, das bis in seine Augen reichte.

„Ja, ich dir auch.“

„Komm“, sagte er und ging ihr voraus, ließ sich in einen Sessel fallen und sie nahm ihm gegenüber Platz. „Möchtest du ein Bier? Ein Glas Wein oder Wasser?“

Unfähig zu sprechen konnte sie nur nicken, er schenkte ihnen Wein ein, reichte ihr ein Glas. Erneut musterte er sie so intensiv, mit einem gewissen Unglauben, dass Claudia am liebsten aufgesprungen und fortgelaufen wäre. Gott, wie peinlich das war. Höchstwahrscheinlich wollte er sie gleich rasch loswerden, trank nur aus Höflichkeit etwas mit ihr, weil er sie ebenfalls ... beschummelt hatte. Aber sie jetzt längst nicht mehr so cool fand.

„Ich ... ich heiße nicht Alexa, sondern Claudia“, stammelte sie. Er zog eine Augenbraue hoch.

„Ich bin wirklich Alex. Aber ich habe heute ein kleines Experiment durchgeführt, eine Aufgabe von einem meiner Soziologieprofessoren. Ich sollte versuchen, zu erleben, wie man sich als Rollstuhlfahrer fühlt, wie andere mit einem dann umgehen. Wie ich meine Umwelt empfinde.“ Er hob sein Glas, stieß mit ihr an. „War eine seltsame Erfahrung. Ich hatte vorher nie wirklich über Barrierefreiheit nachgedacht. Oder darüber, was es mit einem macht, wenn die Menschen offenkundig Mitleid haben oder wegsehen, einen ignorieren, weil sie nicht wissen, wie sie mit einem Behinderten umgehen sollen. Also, das einzige Highlight an diesem besonderen Vormittag - das warst du.“

Er trank einen Schluck Wein, sie tat es ihm gleich. Schmeckte vor Aufregung kaum etwas. „Und du? Verkleidest du dich öfter?“ Seine Frage klang minimal amüsiert. Sie räusperte sich.

„Nein, nie. Ich bekam heute Morgen einen Anruf von meinem Chef, er wies mich an, einen Tag Urlaub zu nehmen. Wegen eines Wasserschadens in der Küche. Ich ... ich arbeite als Köchin. Und dann kam mir diese Idee, die ich da noch total prickelnd fand. Mich aufzubrezeln in den Sachen meiner Mitbewohnerin und mal jemand anders zu sein“, sprudelte sie plötzlich hervor. Konnte ihm nicht mehr in die Augen sehen. „Jetzt finde ich das nur noch blöd und albern. Und du mich wahrscheinlich auch“, setzte sie leise hinzu. Beim letzten Wort versagte ihr die Stimme.

Alex stellte sein Glas ab, und als sie den Kopf weiter gesenkt hielt, sagte er leise: „Hey.“

Endlich blickte sie ihn wieder an. Versank regelrecht in diesen unglaublich blauen Augen. Aus denen Humor blitzte, der sich nun auch in seinem breiten Grinsen zeigte.

„Ist das nicht ein Riesenzufall? Und saulustig, dass wir beide gerade heute in unseren Rollen aufeinandertrafen?“ Jetzt lächelte sie auch, entspannte sich etwas.

„Darf ich dir ehrlich was sagen?“, fuhr er fort. „Ich finde Claudia sogar noch anziehender als Alexa. Bin froh, dass die Richtige jetzt hier ist.“

Er blinzelte ihr zu, er war absolut hinreißend, ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Das meint er wirklich ernst, dachte sie, und es erfüllte sie mit Erstaunen und warmer Freude.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 28.02.2021

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