A Sweet Taste of Today
A Sensation of Time - Band 2
Ursula Kollasch
Alle Bände der Reihe „A Sensation of Time“ sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
Bisher in der Reihe erschienen:
Band 1 – A Bitter Touch of Yesterday
Band 2 – A Sweet Taste of Today
Für Lara, Lilly und Lars, in Liebe.
Und für alle Menschen auf der Welt,
die sich ihre Träume bewahren und an die Macht der Liebe glauben.
1
Charleston, South Carolina, 2007
Verdammt! Warum fange ich immer so spät an!
Elly tippte sich rhythmisch mit dem Stift an die Lippen, wie sie es oft tat, wenn sie an einer schriftlichen Aufgabe saß und nachdachte. Seit einer halben Stunde hockte sie an ihrem Schreibtisch, ohne dass ihr die zündende Idee gekommen war oder sie irgendetwas zu Papier gebracht hatte.
Der weiße Block vor ihr, der sie auffordernd anglotzte, frustrierte sie, darum sah sie aus dem Zimmerfenster, über das herbstlich getönte Grundstück von Oakley Gardens. Die satten Farben gefielen ihr jedes Jahr aufs Neue: Die leuchtend roten Ahornblätter, Stauden und Vogelbeeren, die sonnengelben, teils orangen Blätter der Birnbäume und des riesigen Gingko-Baums. Die gelbbraunen Kronen der uralten Eichen, die der Südstaatenvilla ihren Namen verliehen hatten.
Im Kontrast dazu das beruhigende Grün der weiten Rasenfläche. Das Farbspektrum der Amberbäume reichte von Schwarzviolett bis Gelborange, sie machten den Indian Summer, den sie sonst eher aus dem Norden kannte, in dem riesigen Garten perfekt. Diesem Garten, der vor über zweihundert Jahren von ihren Vorfahren um das historische Herrenhaus Oakley Gardens angelegt und seitdem von jeder Hausherrin mit Liebe gehegt und in Schuss gehalten wurde. Na ja, mit Hilfe eines Gärtners, in den alten Zeiten garantiert mehrerer, in Anbetracht der Größe des Grundstücks. Vermutlich hatten sich ihre früheren Vorfahrinnen, allesamt feine Ladys, gar nicht selbst die zarten Finger schmutzig gemacht, sondern nur Anweisungen gegeben und mit Argusaugen überwacht, was die Gärtner so anstellten ... Aber sie sollte sich jetzt wirklich auf ihren Aufsatz konzentrieren!
Sie richtete den Blick zurück auf ihre Unterlagen und runzelte die Stirn. Wie viel lieber würde sie jetzt, am Sonntagnachmittag, rausgehen oder sich im kleinen Salon gemütlich auf die Couch kuscheln und einen Film gucken, statt hier zu sitzen und einen Essay zu einem Zitat zu schreiben. Diese Aufgabe hatte ihre Lehrerin Mrs. Higgins dem Literaturkurs aufgetragen, morgen war Abgabetermin. Ja, Shit, sie hatte eine Woche Zeit gehabt, sich Gedanken zu machen und den Aufsatz zu verfassen. Aber sie hatte sich bisher nicht einmal mit den zehn Zitaten auseinandergesetzt, die Mrs. Higgins ihren Schülern zur Auswahl gestellt hatte.
Nummer eins lautete: ›Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdient habe. Denn dann brauche ich es am nötigsten.‹ Das war von der taubblinden Schriftstellerin Helen Keller, wie neben dem Zitat zu lesen war. Mmh. Wie hatte die denn ihre Bücher geschrieben, wenn sie weder sehen noch hören konnte? Sie diktiert? Nein, da gab es doch diese Blindenschrift ... Egal, darum ging es jetzt ja nicht. Auf jeden Fall sprachen Mrs. Kellers Worte sie an, ja, sie trafen ihre Situation zum Teil perfekt, wenn sie an die Sorgen dachte, die sie ihren Eltern im Laufe ihres sechzehnjährigen Lebens schon bereitet hatte. Weil sie anders war, mit diesen besonderen Gaben auf die Welt gekommen, vor allem als Kind von ihren Eltern ständig im Auge behalten und aus brenzligen Situationen gerettet werden musste ... Aber – no way – bestimmt wollte sie nicht in einem Essay, den sie ihren Mitschülern und der Lehrerin auch vortragen müsste, ihre Geheimnisse ausplaudern. Denen von ihren gut gehüteten Fähigkeiten erzählen. Also, dieses Zitat kam nicht in Frage.
›Willst du den wahren Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.‹ Das sollte einst Abraham Lincoln, der sechzehnte Präsident der Vereinigten Staaten, gesagt haben. Oh ja – dazu fiele ihr ebenfalls einiges ein. In Bezug auf bestimmte Lehrer ihrer Schule – inklusive Mrs. Higgins – oder gewisse Tussis, die sich für die Highschool-Schönheiten hielten, sich in ihrer Beliebtheit sonnten und dabei nach unten traten, zu jeder sich bietenden Gelegenheit, immer nach denen, die in ihren Augen nicht so angesagt waren ... Oft hatte es auch sie und ihre Freundin Cassie getroffen. Aber dieses Fass wollte sie ebenfalls nicht öffnen, es würde die Situation, das elende Mobbing, das von manchen an der Schule ausging, nur verschlimmern, wenn sie es in ihrem Aufsatz öffentlich ansprach. Sie überflog das dritte Zitat.
›Finsternis kann keine Finsternis vertreiben. Das gelingt nur dem Licht‹ von Martin Luther King. Sie wusste, dass ihre Freundin Cassie das Zitat gewählt hatte. Vielleicht, weil sie wie der ermordete Bürgerrechtler King Afroamerikanerin war. Und dazu unglaublich fleißig, bestimmt hatte sie früh mit dem Schreiben des Aufsatzes angefangen, nein, sie war höchstwahrscheinlich längst fertig damit. Die Streberin. Keine Frage, das Zitat war gut, bot viele Möglichkeiten, aber sie wollte auf keinen Fall, dass man Cassies und ihre Arbeit miteinander verglich, sie in eine Art Konkurrenzsituation kamen. Folglich war Kings Lebensweisheit auch nicht die richtige für sie.
Als sie das vierte Zitat las, weiteten sich überrascht ihre Augen. Besaß der alte Drachen Mrs. Higgins doch so etwas wie einen Funken Humor? Kaum zu glauben.
›Halte deine Freunde nahe bei dir, aber deine Feinde noch näher.‹ Aussage der Figur des Don Corleone, in dem Film Der Pate. Oder war das eine Falle? Sollten Schüler, die das weniger literarisch geachtete Zitat wählten, in ihr Verderben rennen? Zuzutrauen wäre das der alten Higgins. Aber – die Aussage war cool, Elly könnte einen Roman dazu schreiben, bei ihren Erfahrungen, die sie in den letzten Jahren gemacht hatte, vor allem mit der gleichaltrigen, arroganten und total gestörten Bienenkönigin Michelle Brennigan, die war so was von lost ... würg. Nein, dieser Text würde ebenfalls viel zu persönlich werden. Und Dinge hochwühlen, die sie lieber vergessen wollte.
Sie seufzte und fuhr sich entnervt durch das dichte, rote Haar. Zitat Nummer fünf. ›Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt.‹ Das sollte ein Zitat von Mark Twain sein. Ja, das konnte sie bestätigen. Und die dunklen Seiten, die versteckten Wesenszüge einer ganz bestimmten Tussi ... Stopp. An die wollte sie doch nicht denken, sonst kam sie noch schlecht drauf. Mannomann, das war aber auch eine Auswahl. Kam denn da nichts Positives, Nettes? Aber war ja zu erwarten gewesen, bei einer grantigen Frau wie der Higgins ...
Zitat Nummer sechs. ›Jeder Tag ist ein neuer Anfang‹ von George Eliot, eigentlich Mary Anne Evans, las sie, eine englische Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin, die zu den erfolgreichsten Autoren des viktorianischen Zeitalters zählte. Warum hatte die unter einem Männernamen veröffentlicht? Egal.
Ellys Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ja, das war ein toller Spruch, er gefiel ihr. Er passte nicht nur zu ihrem Leben, sondern auch zu jedem anderen. Er war positiv, klang nach Chakka-du-schaffst-das-Kursen, nach Motivationstraining. Möglicherweise stand Mrs. Higgins ja darauf. Elly konnte sich vorstellen, dass mies gelaunte, humorlose Menschen wie ihre Lehrerin das taten, weil es sie – zumindest für den Moment – aus der Negativschleife holte. Und wenn nicht, dann war es auch wurscht. Man kann nicht jeden retten ... Elly gluckste. Ja, zu dieser Aussage fiel ihr eine Menge ein, und wenn sie ein Ziel vor Augen hatte, setzte sie dies in der Regel bestens um. Außerdem hatte das Zitat ein ganz kleines bisschen mit ihren besonderen Fähigkeiten zu tun, von denen niemand erfahren durfte. Okay, los geht’s ... Sie beugte sich über ihren Block und begann zu schreiben.
2
Elende Zicken!
Drei Monate zuvor
»Ich glaub‘, ich schaff‘ das nicht«, wisperte Cassie. »Mir ist richtig schlecht.«
Ja, man sah ihr an, wie unwohl sie sich fühlte. Elly hatte es längst bemerkt, denn ihre Freundin atmete rascher, kleine Schweißperlen hatten sich auf ihrer Stirn gebildet, und ihre vollen Wangen und ebenso pummeligen Finger zitterten leicht.
»Ruhig atmen, Cass. Du schaffst das, ohne Probleme, du bist gut vorbereitet.«
Die schnaufte auf und schluckte, warf verstohlene Blicke durch den Klassenraum. Duckte sich regelrecht, vermied Bewegungen, wie eine Schildkröte, die nicht entdeckt werden wollte. Dabei beachtete sie im Moment niemand außer Elly. Die meisten Schülerinnen und Schüler des Kurses Englische Literatur standen in Grüppchen beieinander, alberten herum, andere dämmerten noch verschlafen an ihren Tischen vor sich hin, denn es war kurz vor acht, gleich begann die erste Stunde dieses Freitags an der Burke High School.
»Was, wenn die mich gleich nicht in Ruhe lassen?«, flüsterte Cassie. »Du weißt, was sie mit Fiona gemacht haben, als die letzte Woche ihr Referat gehalten hat. Und mich mögen sie noch weniger.«
Ihre einzige Freundin war den Tränen nahe, das sah Elly. Sie darf sich jetzt nicht so gehen lassen, dann spielt sie ihnen in die Hände.
»Vielleicht halten sie sich heute zurück«, erwiderte sie mit einer Zuversicht, die sie nicht verspürte. »Lass dich nicht ablenken, konzentrier dich auf deinen Vortrag. Du hast mir dein Referat gestern vorgetragen, es war exzellent. Sieh einfach die ganze Zeit mich an, gleich, wenn es losgeht.«
Am liebsten hätte sie Cassies Hand gedrückt oder ihr auf andere Weise körperlich Trost gespendet, aber mit derartigen Gesten, mit direkten Berührungen, musste Elly vorsichtig sein. Denn sie konnte nie wissen, was sie dann sah und spürte, ob sie sich im Griff behielt ... Die Psychometrie. Eine ihrer geheimen Fähigkeiten. Den Begriff hatte sie schon früh von ihrer Mutter erklärt bekommen: Wenn sie wollte, könnte sie alle Menschen und Gegenstände berühren, sich konzentrieren und dadurch ihre Geheimnisse lüften. Die ihrer Eltern, ihrer Lehrer, von Cassie. Von jedem. Durch intensive Sinneseindrücke bei der Berührung, die kleinen Filmen glichen und ihr Szenen aus dem Erlebten, dem Fühlen und Denken zeigten. Aber in das Leben anderer ohne deren Zustimmung einzudringen war wie eine Form von Diebstahl – oder Verrat. Außerdem war sie sich nicht sicher, ob sie die Verantwortung für ein solches Wissen übernehmen wollte.
Statt also Cassie die Hand zu drücken, strich sie sich die feuerroten Haare aus der Stirn, die sie kitzelten.
Auch, wenn sie Gelassenheit ausstrahlen wollte, um die Freundin aufzubauen, ahnte sie, dass die selbst ernannten Highschool-Queens Nancy Myers, Audrey Bloomberg und Michelle Brennigan gleich versuchen würden, Cassie in Verlegenheit und aus dem Redefluss zu bringen.
Die drei Oberzicken nutzten jede sich bietende Gelegenheit, vermeintlich nicht so angesagten Schülern und Schülerinnen wie Elly und Cassie das Leben schwerer zu machen, sie zu mobben. Und dass die intelligente und belesene, aber übergewichtige und furchtbar schüchterne Cassandra Adams heute einen Vortrag hielt, war ein gefundenes Fressen für die ätzende Clique, das war Elly klar.
Wie die Tatsache, dass Victoria Higgins, die Lehrerin des Kurses Englische Literatur, den Mobbern nicht wirklich Einhalt gebieten würde, ein ungerechter, alter Drache war. Ihr Spitzname ›Vicky, the Viper‹, der aber nur hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde, passte. (Zudem war sie die Nachbarin von Michelle Brennigans Familie. Aus dem Grund zeigte sie sich dem Mädchen sowie ihren beiden Freundinnen gegenüber recht nachsichtig.)
Elly ließ kurz ihren Blick über die drei Tussis schweifen, die überall als Gruppe auftauchten. Sie donnerten sich jeden Tag auf, als ob sie eine Party besuchten und nicht die Schule. Jetzt lehnten sie neben zwei Jungen an der Wand, natürlich beliebten Footballspielern, lachten affektiert, wenn einer der beiden etwas Witziges sagte, warfen ihre gestylten Mähnen zurück und klimperten mit ihren getuschten Wimpern. Unechte Barbiepuppen!
Rasch wandte sie sich wieder ihrer Freundin zu, denn jeden Moment würde die stets pünktliche Mrs. Higgins erscheinen. Und bis dahin musste sie Cassie in die Spur bringen. Zu spät ... Die Lehrerin mit dem eisengrauen Haarhelm betrat, wie immer einen Kaffee in der Hand, den Klassenraum und bewegte sich mit gewohnter Zielstrebigkeit ans Pult, wo sie ihre Tasche und den Becher abstellte. Sofort verstummte das Stimmengewirr, und alle Schülerinnen und Schüler begaben sich ebenfalls an ihre Plätze. Mit der strengen Mrs. Higgins wollte niemand aneinandergeraten.
»Guten Morgen. Wie ich sehe, seid ihr vollzählig, also keiner krank und alle pünktlich erschienen. Wollen wir hoffen, dass der Tag so positiv weitergeht.« Sie richtete ihren stechenden Blick auf Cassie. »Heute wird uns Cassandra mit ihrem Vortrag über das Frauenbild William Shakespeares in seinen Werken – hoffentlich bestens vorbereitet – erfreuen.«
Sie nickte der Angesprochenen auffordernd zu und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
Cassies milchkaffeebraune Haut hatte inzwischen einen fast gräulichen Ton angenommen. Doch sie erhob sich folgsam und griff mit nach wie vor bebenden Fingern nach ihren Unterlagen.
Elly fing ihren Blick ein, lächelte ihr zu und zeigte ihr unauffällig den Daumen, ehe ihre Freundin langsam wie zu ihrer Hinrichtung nach vorne zur Lehrerin schritt und sich vor die Tafel stellte.
»Wie Mrs. Higgins bereits sagte, halte ich heute mein Referat ›Das Frauenbild Williams Shakespeares, aufgezeigt am Beispiel der Komödie Was ihr wollt‹ –«, begann sie mit leiser Stimme vorzutragen.
»Was wir wollen, ist, dass du lauter sprichst, damit wir überhaupt etwas von dem Referat mitbekommen«, unterbrach sie Michelle, der Zwischenruf wurde von einigen gehässigen Lachern, nicht nur seitens ihrer beiden Freundinnen, quittiert. Mist, es ging schon los ...
Cassie presste kurz die Lippen zusammen und richtete den Blick auf ihre Papiere, ehe sie nur unmerklich lauter fortfuhr.
»In Shakespeares Stücken spielen Frauenfiguren oft eine entscheidende Rolle für den dramatischen Verlauf. Genau wie in der Realität der Zeit Shakespeares sind die meisten seiner weiblichen Charaktere auch an die Regeln und Konventionen der elisabethanischen Epoche gebunden. So war zum Beispiel im damaligen England der Austausch von Frauen durch erzwungene Heirat, um Macht, Erbe, Mitgift oder Land zu erhalten, durchaus üblich ...«
»Uh, Frauentausch, erzwungenes Heiraten, wie spannend!«, rief Nancy spöttisch dazwischen und warf ihr langes dunkles Haar zurück, grinste übers ganze Gesicht. »Sprich doch endlich lauter, damit ich auch alles mitkriege!«
Elly fühlte Wut in sich aufsteigen, auf die arroganten Kühe, aber auch auf die Lehrerin, die bisher nichts sagte, um die Störungen zu unterbinden. Sie streckte den Rücken durch und fixierte Cassie. Sieh mich an! Vielleicht erinnerte die sich auch von selbst daran, jedenfalls richtete sie ihre Aufmerksamkeit nun allein auf Elly und fuhr mit etwas festerer Stimme fort.
»Der Begriff ›Komödie‹ stammt vom griechischen ›komos‹, was ›nächtlicher Umzug, fröhliches Gelage unter Musikbegleitung‹ bedeutet. Komik als Gattungsmerkmal der Komödie reizt zum Lachen durch kleine Ungereimtheiten, durch eine Abweichung von Normen, durch menschliche Schwächen und ein Missverhältnis zwischen Schein und Sein –«
»Und deine Schwäche, die zum Lachen reizt, ist das Vortragen. Rede endlich deutlich und laut genug, ich möchte das über die nächtlichen Gelage mitbekommen!«, unterbrach sie diesmal Audrey, die Dritte im Bunde, was Mitschüler erneut zum Kichern brachte und Elly ihre Hände zu Fäusten ballen ließ. Elende Zicken!
»Genug jetzt mit den Unterbrechungen«, meldete sich Mrs. Higgins endlich zu Wort, dann blickte sie Cassie an, die aussah, als würde sie am liebsten unsichtbar werden. »Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, dass du verständlicher sprechen solltest, Cassandra.«
Die war allerdings komplett aus dem Konzept gebracht. Hatte sie Elly am Tag zuvor einen wirklich guten Vortrag zum Besten gegeben, verhaspelte sie sich nun, machte einen unfreiwillig komischen Versprecher, den der Kurs mit einer Lachsalve quittierte, was sie erst zum Stottern brachte, dann ganz verstummen und erröten ließ. Ihre Haut färbte sich einen Ton dunkler, und ihre braunen Augen hinter der Brille verrieten ihre ganze Furcht. Das war Schikane!
Elly spürte ihren Pulsschlag in den Ohren dröhnen, wie ihr innerlich heiß wurde, während sich ihre Haut vor kalt loderndem Zorn zusammenzog. Zeitgleich war ihr, als würde ihr jemand mit einem Eiswürfel über den Nacken streichen.
Ihre blauen Augen verdunkelten sich, nahmen eine fast violette Färbung an, wie immer, wenn sie in zu starke Erregung geriet. Nicht gut, gar nicht gut ... Sie biss die Zähne zusammen und schloss kurz die Lider, versuchte es mit verlangsamtem Atmen, mit Aufwärtszählen, wie ihre Mom, von Beruf Psychotherapeutin, es mit ihr unzählige Male geübt hatte. Aber es funktionierte nicht.
Shit, ich verliere die Kontrolle ... Es war wie ein brechender Damm.
Papiere auf den Nachbartischen raschelten, als ob eine leichte Bö durch den Raum wehte. Fühlt sich die Luft auch für die anderen wie elektrisch aufgeladen an?, ging es Elly durch den Kopf, als schon der Globus auf dem Schrank vibrierte, dann zu wackeln begann, ehe er mit einem lauten Krachen auf Michelles Tisch fiel, was das blonde Mädchen aufkreischen ließ.
Der Druck in Ellys Kopf, ihrem ganzen Körper, verebbte, ihr Herzschlag verlangsamte sich wieder. Trotz des Erschreckens über ihren neuerlichen Kontrollverlust musste sie ein Grinsen unterdrücken. Schade, der Globus hatte die Ätzkuh nur um wenige Zentimeter verfehlt ...
Rasch setzte sie wieder ein überraschtes Gesicht auf, behielt diese Miene weiter bei, als sie erfasste, dass Mrs. Higgins' Kaffeebecher ebenfalls umgekippt war. Vielleicht hatte sie den eben vor Schreck auch selbst umgestoßen. Auf jeden Fall hatte sich die dunkle Flüssigkeit über das Pult ergossen und rann nun auf den Rock der Lehrerin, was diese aufkeuchen ließ.
»Verdammt, was ist hier los!«, keifte sie ungehalten, verlor einen Moment ihre Beherrschung, während sie hastig Taschentücher hervorkramte, um ihren Rock und den Tisch abzutupfen. »Wer auch immer der Spaßvogel ist, der das gerade veranstaltet hat: Das ist nicht komisch und wird Konsequenzen haben, wenn ich ihn erwische!«
Ein Teil der Mitschüler war wie erstarrt, andere tuschelten, während Mrs. Higgins weiter den nassen Fleck auf ihrer Kleidung bearbeitete. Ein Junge musste leise lachen.
»Was erheitert dich so, Jamie?«, fuhr ihn die Lehrerin an. Ihre Augen schienen ihn regelrecht aufzuspießen, was sein Gelächter sofort enden ließ. Schließlich legte sie die mit Kaffee getränkten Tücher aus der Hand und wandte sich Cassie zu, die nach wie vor neben ihrem Pult stand.
»Cassandra, du wirst deinen Vortrag nächste Woche wiederholen. Bereite dich besser darauf vor. Setz dich.« Die Lehrerin erhob sich, ihre Stimme klang ungehalten. »Ihr schlagt jetzt eure Bücher auf Seite fünfundvierzig auf und lest den Text über die Literatur der elisabethanischen Ära. Beantwortet die Fragen dazu. Keine Unterhaltungen, macht euch still an die Arbeit. Ich bin gleich zurück.«
Unterdrücktes Stöhnen folgte auf ihre Anweisung. Weiter dem Referat zu lauschen, hätte den meisten besser gefallen.
Während Mrs. Higgins aus dem Raum strebte, wahrscheinlich, um auf der Lehrertoilette ihren Rock zu reinigen, schlich Cassie wie ein geprügelter Hund zurück an ihren Platz und ließ sich mit aschfahlem Gesicht neben Elly auf ihren Stuhl sinken.
»Das Ganze noch einmal durchstehen, bitte nicht!«, wisperte sie.
»Du packst das. Vielleicht sind die Kühe ja fertig mit dir und lassen dich nächste Woche endlich vortragen«, gab Elly ebenso leise zurück. Kein wirklicher Trost, das wusste sie, aber die Freundin hörte ihr auch gar nicht richtig zu. Nach wie vor gefangen in ihrem Zustand kramte sie Buch und Heft hervor, ganz die beflissene Schülerin, die sie war.
Trotz Cassies Fiasko stieg in Elly eine gewisse Erleichterung auf. Sie war nicht erwischt worden. Niemand hatte ihre zweite Fähigkeit, die telekinetischen Kräfte, also das Bewegen von Gegenständen allein mit der Macht der Gedanken, bemerkt.
Aber – hatte Michelle Brennigan sie vorhin nicht so seltsam angesehen, als würde ihr ein Schauer über den Rücken laufen? Als hätte sie eine plötzliche Erkenntnis in Bezug auf sie, Elly Hunter, gehabt? Quatsch, das bildete sie sich nur ein. Niemand traute einer Mitschülerin – oder irgendjemandem – so etwas wirklich zu. Das gab es nur in Filmen.
Ja, sie hatte sich nicht sonderlich gut im Griff. Musste besser aufpassen. Lernen, den Druck in sich zu mildern, die bevorstehende Entladung zu unterbinden, ehe sie geschah.
Würde sie Mom den Vorfall beichten? Vielleicht. Nein ... lieber nicht. Die würde wieder ihre Entspannungs- und Atemübungen mit ihr durchführen, sie mahnen, vorsichtiger zu sein, ihre Fähigkeiten besser zu kontrollieren. Ihr zum wiederholten Mal einen Vortrag über die negativen, nein, fatalen Auswirkungen halten, wenn bekannt würde, welche Kräfte in ihr steckten.
Ein leichtes Lächeln hob ihre Mundwinkel, als auch sie endlich ihre Sachen hervorzog. Einer der elenden Zicken hatte sie heute mal einen ordentlichen Schreck eingejagt. Danach war Ruhe gewesen. Und die alte Higgins kämpfte jetzt fluchend mit einem kackbraunen Kaffeefleck auf ihrem scheußlichen Rock. Gut so, denn sie war ebenfalls eine Zicke.
Elly schlug ihr Buch auf und begann zu lesen.
3
Abigail Hunter
Abigail Hunter hatte ihre Psychotherapie-Praxis im Erdgeschoss der weitläufigen Südstaatenvilla eingerichtet, in der sie mit ihrer kleinen Familie lebte. Ihre geliebte Großmutter hatte ihr das historische Anwesen Oakley Gardens hier in Charleston nach ihrem Tod vermacht, da war Abby gerade einmal neunzehn Jahre alt und noch auf dem College gewesen. Nur wenige Wochen nach der Testamentsverlesung war sie damals von Detroit im Norden, wo ihre Eltern gelebt hatten, hierhergezogen. Viele Möbel und Gegenstände von Granny hatte sie bis heute behalten, sie erinnerten sie an die Frau, die ihre engste Vertraute gewesen war, ihr Ruhepol und sicherer Hafen in ihrer recht durchwachsenen Kindheit.
Der Raum, in dem sich ihr Sprechzimmer befand – ehemals einer der beiden kleinen Salons –, war geschmackvoll und zweckmäßig zugleich eingerichtet. An der Wand hingen ihre gerahmten Diplome, die sie alle mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Ein paar Jahre später als geplant, denn sie war in ihrem letzten Collegejahr mit neunzehn schwanger geworden und hatte, um in Ellys ersten Lebensjahren ganz für sie da zu sein, die Ausbildung unterbrochen.
Gerade hatte sie die Sitzung mit Mrs. Codley beendet. Die korpulente Mittfünfzigerin, eine Hausfrau aus Charleston, litt unter Zwangsstörungen, dem exzessiven Drang, sich zu waschen und die Wohnung zu putzen. Die redselige Mrs. Codley wusste, dass ihre Zwangsgedanken und -handlungen irrational waren, konnte sie dennoch nicht abstellen. Bisher hatte sie in der Therapie nur wenig Fortschritte gemacht, denn die Frau war noch nicht so weit, sich den wahren Ursachen, den Auslösern ihrer Zwangshandlungen, wirklich zu stellen. Doch das würde noch kommen. Wichtig war, dass die Patientin irgendwann mit Abbys Hilfe zum Wesentlichen, zum Kern ihrer Probleme vordrang.
Nun stand die Therapeutin mit Mrs. Codley auf der Veranda, um sie zu verabschieden, was diese anscheinend hinauszögern wollte, denn sie plapperte unaufhörlich weiter. Abby lauschte nur mit halbem Ohr dem Redefluss, da sie in diesem Moment ihre Tochter erblickte, die die Auffahrt entlangtrottete. Sie legte die Termine der Sitzungen immer so, dass sie spätestens endeten, wenn Elly von der Schule zurückkehrte.
Oh, ... das sah nicht gut aus. Eine gewisse Anspannung erfasste Abby. Irgendetwas war passiert, das erkannte sie an Ellys Gesichtsausdruck, ihrer Haltung. Darum fiel sie der Patientin – entgegen ihrer sonstigen Geduld – ins Wort. »Wir sehen uns nächste Woche zur selben Zeit. Achten Sie auf sich und denken Sie bitte an das, was wir heute besprochen haben.«
Sie schüttelte der Frau die Hand, die sich nun endlich verabschiedete und die Verandatreppe hinabstapfte, und blickte ihr hinterher, wie sie auf der langen Auffahrt ihre Tochter passierte.
Während Elly weiter mit finsterem Gesicht auf ihr Heim zuschritt, betrachtete ihre Mutter deren rotes, leicht gewelltes Haar, das ihr bis zur Mitte des Rückens reichte, dachte an ihre blasse Haut mit den Sommersprossen um die Nase, die Elly genauso verabscheute wie ihre Haarfarbe. Dazu war sie großgewachsen, fast zu dünn, ihre langen Gliedmaßen erinnerten an die eines Rehkitzes. Ja, Elly mochte ihr Äußeres nicht, weil es so anders war als das ihrer Mitschülerinnen, dabei fand sie, ihre Mom, sie wunderschön. Und das nicht nur, weil sie ihre Tochter war.
Was war heute wieder vorgefallen, dass Elly derart finster wirkte? Die Sorge um ihr Kind war eine ständige Begleiterin. Gedanken an frühere Begebenheiten schwirrten Abby durch den Kopf.
Wie so oft auch die Worte von Shania Taylor, der Schamanin, die sie damals überraschend in der Villa besucht hatte, als sie mit Elly im siebten Monat schwanger gewesen war: ›Sie hat gute Anlagen, das habe ich gespürt. Einen aufrechten Charakter. Willensstärke, Großherzigkeit und Mut. Und wirklich große Kräfte.‹ Das Gesicht der alten Frau hatte regelrecht geleuchtet vor Ehrfurcht. ›Das habe ich nie zuvor erlebt. Abigail, dein Kind ist außergewöhnlich. Wäre sie eine der unseren, eine Ojibwa, hätte ich große Pläne mit ihr. Allerdings – Macht und Kraft bergen auch Gefahren. Du und dein Mann, vor allem du, ihr müsst sie leiten und vor unbedachtem Tun, vor ihrem Eigensinn und ihrer Impulsivität schützen.‹
Und Mrs. Taylor hatte recht behalten. Die überraschende Sitzung mit der Indianerin hatte sich als äußerst informativ und wertvoll herausgestellt, die Frau hatte Abby auch zwei Monate später bei der Geburt beigestanden. Hier in Oakley Gardens, am vierten November neunzehnhundertneunzig, wo sie sich vom Rest der Welt abgeschottet hatte ... Denn auch sie besaß wie ihre Tochter die Gabe der Psychometrie, hatte während der Schwangerschaft nichts Unbekanntes berühren dürfen, um dem ungeborenen Kind in sich nicht zu schaden. Doch hatte sich bereits in Ellys ersten Lebensjahren gezeigt, dass deren Fähigkeiten – wie vorausgesagt – wesentlich ausgeprägter, auch vielfältiger waren als ihre.
Nun sah sie, dass Elly auf der Auffahrt stehen blieb und ihr Handy hervorholte, es ans Ohr hielt. Wahrscheinlich rief Cassandra an. Ihre einzige Freundin ... Abbys Mutterherz zog sich zusammen. Lag es an den besonderen Kräften, dass sie eine Einzelgängerin war? Oder hatten sie und Jacob als ihre Eltern Fehler begangen? Sie zu sehr mit der Geheimhaltung ihrer Kräfte unter Druck gesetzt, ihr Anderssein zu stark betont?
Sie hatten ihrer Tochter den Namen Mathilda Elizabeth, nach Abbys Großmutter und Großtante, gegeben. Anfangs war sie von allen Matty genannt worden. Erst im Alter von zehn Jahren hatte ihr der Rufname plötzlich nicht mehr gefallen, wegen Matthew, dem Nachbarjungen, mit dem sie sich – auch heute noch – ständig kabbelte und in die Haare kriegte. Nachdem er sie damals wieder massiv geärgert und an den Haaren gezogen hatte, war sie wutentbrannt ins Haus gestürmt und hatte sich vor ihren Eltern aufgebaut.
»Matt ist ein Kotzbrocken. Und ich möchte nicht heißen wie der Kotzbrocken von nebenan. Ich bin ab jetzt Elly.«
Ihre Fähigkeiten und die Impulsivität, gepaart mit tiefem Mitgefühl und ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, waren ein ernstzunehmendes Problem, das war ihr und Jacob schon in Ellys ersten Lebensjahren klar geworden. Mit neuerlichem Entsetzen dachte Abby an den Banküberfall, den sie und ihre damals fünfjährige Tochter neunzehnhundertfünfundneunzig hatten miterleben müssen. Ein maskierter Mann war damals in die Filiale gestürmt, in der sie gerade mit Elly – zu der Zeit noch Matty – an der Hand in der Reihe vor dem Schalter gestanden hatte.
Der große Mann mit der schwarzen Skimaske hatte eine Pistole in der ausgestreckten Hand gehalten und gebrüllt: »Alle auf den Boden. Sofort! Wer was anderes macht, wird erschossen!«
Selten hatte Abby solche Furcht, derartige Panik verspürt. Die Menschen waren übereinandergepurzelt, hatten sich niedergekauert, sich die Hände vors Gesicht geschlagen. Aktenkoffer, Handys und Regenschirme waren auf den Fliesen gelandet, sodass die klappernden Geräusche in der sich anschließenden Stille noch lange nachgehallt waren. Es war, als hätte jemand die Zeit angehalten.
Abby hatte noch jede Einzelheit deutlich vor Augen: die vor Entsetzen gelähmten Gesichter der Kunden und Bankangestellten, das dicke Mädchen mit den knallroten Haarsträhnen, das vor ihr und ihrer Tochter in der Warteschlange gestanden hatte, eine Angestellte mit schwarzer Brille, einen weißhaarigen Mann mit rotem Gesicht, das langsam blau angelaufen war, den Schock auf dem jungen Gesicht des Wachmanns. Der stechende Schweißgeruch, der plötzlich von der Frau ausgegangen war, die neben ihr auf dem Boden gelegen und sie angsterfüllt angestarrt hatte. Die blinkenden Überwachungskameras, die große, goldene Wanduhr, die 15.03 Uhr angezeigt hatte. Dann war die Zeit wieder zum Leben erwacht.
Und zwar genau in dem Moment, als ihr Kind sich von ihrer Hand losgemacht hatte und zu dem Mann mit der Skimaske geschritten war. Ein furchtbarer Augenblick, selbst jetzt noch, so viele Jahre später, zog sich etwas in ihr zusammen, als sie an die Panik dachte, die in ihr ausgebrochen war. Wie sie auf ihre Tochter hatte zulaufen wollen, aber in der Bewegung innegehalten hatte, als der Bankräuber die Waffe herumgeschwenkt und auf sie gerichtet hatte. Wie sie zitternd die Hände gehoben und leise gebettelt hatte: »Bitte ... bitte tun Sie meinem Kind nichts.«
Elly hingegen schien keinerlei Furcht vor ihm zu haben, sie hatte ihre kleine Hand auf seine gelegt, und Abby hatte vor Angst bebend den Atem angehalten, wie gelähmt dagestanden.
»Mommy, der Mann ist nicht böse, er hat Sorgen«, hatte Elly gesagt, sich daraufhin an die Kassiererin am Bankschalter gewandt: »Miss, bitte geben Sie ihm das Geld, damit die Männer ihm nichts tun.«
Mit dem, was nun gefolgt war, hatte niemand gerechnet, außer vielleicht Elly. Die Hand mit der Waffe hatte gezittert, ehe unterdrücktes Schluchzen zu vernehmen und die Pistole mit einem Scheppern auf die Fliesen gefallen war. In der darauffolgenden angespannten Stille war nur das leise Weinen des Mannes zu hören gewesen, der auf die Knie gesunken war und sein maskiertes Gesicht in den Händen vergraben hatte. Die Hoffnung auf einen guten Ausgang des Ganzen war in Abby aufgeflackert, ein paarmal im Kreis gehüpft, gefolgt von einer Pirouette und einem kleinen Knicks. Der Wachmann hatte sofort die sich ihm bietende Gelegenheit genutzt und den Mann überwältigt, ihm Handschellen angelegt, und Abby hatte ihr Kind fest an sich gepresst und in sein rotes Haar geschluchzt: »Tu so was nie wieder, Liebling, nie wieder!«
Kurz darauf war die Polizei erschienen.
Am nächsten Tag hatte sie in der Zeitung einen Artikel gelesen, der das tragische Schicksal des Bankräubers bestätigte. Er hatte Spielschulden gehabt, sich bei einem finsteren Kredithai eine große Summe geliehen und diese nicht zurückzahlen können. Die folgende Drohung, ihm oder seiner Familie etwas anzutun, hatte ihn in seiner Verzweiflung dazu gebracht, die Bank ausrauben zu wollen.
Abby riss sich los von den Erinnerungen, denn jetzt erklomm ihre Tochter die Stufen zur Veranda, warf ihren Schulrucksack auf einen der weißen Korbstühle.
»Hi Schatz«, sagte sie, doch Elly schob sich an ihr vorbei ins Haus.
Ja, es war definitiv etwas Unangenehmes in der Schule oder auf dem Weg dahin vorgefallen. Das war offensichtlich, auch wenn Abby normalerweise nur wenige Sekunden genügten, um den Schnappschuss einer Persönlichkeit oder einer unterdrückten Stimmung zu erhaschen. Eine Konsequenz ihrer langjährigen Arbeit als Psychologin. Sie folgte Elly in die Küche, wo die sich gerade Mineralwasser einschenkte.
»Möchtest du etwas essen? Es ist noch Huhn von gestern da, ich kann auch eine Pizza aufbacken.«
Elly wandte ihr weiter stumm den Rücken zu.
»Was ist passiert? Ich sehe doch, dass es dir nicht gutgeht.« Schweigen. Der Knoten in Abbys Magen wurde fester. War Elly unvorsichtig gewesen, hatte irgendjemand etwas mitbekommen?
Endlich drehte sich ihre Tochter zu ihr um.
»Wie soll ich mich schon fühlen, wenn die ach-so-beliebten-und-schönen Ätzkühe mich beleidigen? ›Feuermelder‹, ›Karottenkopf‹, ›hässliche Vogelscheuche‹. Cassie haben sie ›FF, den flüsternden Fettklops‹ genannt.«
Abbys Züge zeigten tiefe Betroffenheit, sie wusste sofort, von wem Elly sprach. Es waren meist die gleichen drei Mitschülerinnen, die sie und Cassandra beleidigten und foppten. Und sie verstand ihren Ärger. Hatte mehrfach angeboten, mit den Eltern der Mädchen zu reden, was Elly allerdings vehement ablehnte. Doch sie durfte nicht die Kontrolle verlieren!
»Das tut mir leid. Hast du dich ... zurückgehalten?«
Elly ging nicht auf ihre Frage ein, sprach erregt weiter.
»Und Matt, der Idiot, stand auch noch dabei, hat gegrinst. An Peinlichkeit kaum zu überbieten.« Tränen glitzerten in ihren Augen, ihr Gesicht offenbarte ihre ganze Scham und Wut.
»Du hast dich hoffentlich nicht dazu hinreißen lassen –«, setzte ihre Mom neuerlich an, aber Elly fiel ihr wütend ins Wort.
»Hörst du mir überhaupt zu? Immer denkst du nur daran, wie ich mich benehmen und im Griff halten soll. Dass keiner was merkt! Aber was mich so aufregt, diese ungerechte Scheiße, interessiert dich das gar nicht?« Elly schluchzte auf. »Zu deiner Beruhigung: Es ist nichts Gravierendes vorgefallen.« Damit stürmte sie aus der Küche.
Abby stand wie erstarrt, hörte Sekunden später im Obergeschoss die Zimmertür zuknallen.
Das war unprofessionell von mir, schalt sie sich. Warum gelang ihr der sensible Umgang mit ihren Patienten so viel besser als mit ihrer Tochter? Ich hätte ihr einfach zuhören, Trost spenden und dann erst nachhaken sollen. Wenn ich mir nur nicht immer so furchtbare Sorgen machen müsste. Sie atmete durch. Ich glaube, es ist an der Zeit, ihr meine Aufzeichnungen zu geben.
Über ihre Erlebnisse, ihre guten wie auch schlechten Erfahrungen mit ihrer Gabe. Die sie, nur wenig älter als Elly jetzt, als Schwangere in der Isolation aufgeschrieben hatte. Ja, sie verstand Elly so gut, auch Abby hatte früher ihre Gabe geheim halten müssen, sich nur ihrer Granny und später Jacob und ihrer Schwiegermutter Donna anvertraut. Aber nicht ihren distanzierten Eltern.
Keine ihrer Freundinnen, nicht einmal ihre beste Freundin Maylin, war bis zum heutigen Tag eingeweiht, dass Abby bei Berührung bestimmter Dinge deren Geschichte, die darin gespeicherten Erinnerungen sehen konnte. Diese Fähigkeit, die Psychometrie, war bei Elly wesentlich ausgeprägter, denn sie konnte auch Menschen ›lesen‹, deren Erlebnisse und Gefühle sehen, wenn sie wollte.
Die Einsamkeit mit dem Geheimnis war eine der dunklen Seiten der Gabe, auch wenn sie, Abby, sich während ihrer Schulzeit auf mehrere gute Freundinnen an ihrer Seite verlassen konnte. Aber auch sie hatte mit Mobbing zu kämpfen gehabt, durch die Schulschönheit Melissa und deren Clique ... Es gab Parallelen. Das hatte sie damals alles aufgeschrieben.
Bisher hatte sie die Mappe mit dem tagebuchähnlichen Bericht unter Verschluss gehalten. Immerhin stand auch alles über das Kennenlernen von Jacob, Ellys Vater, darin, ihr damaliges Hin und Her, ihr erster Sex ... Egal. Es war an der Zeit, dass Elly es las, um nicht dieselben Fehler zu machen wie sie. Oder schlimmere ... Sie würde später noch einmal an Ellys Tür klopfen und das Gespräch mit ihr suchen.
Es ist nichts Gravierendes vorgefallen ... Das stimmte nicht ganz, aber das musste sie nicht beichten. Ein vom Regal auf Michelle Brennigans Tisch gefallener Globus sollte nicht wirklich der Rede wert sein ... Wieso verstand Mom nicht, wie ätzend es war, ständig gemobbt und provoziert zu werden? Von Mädchen, die an Oberflächlichkeit und Bosheit kaum zu toppen waren. Sich aber dennoch über Beliebtheit und Ansehen in der Schule freuen durften.
Nach Schulschluss hatte sie mit Cass an der Haltestelle auf den Bus gewartet, als die drei herangestöckelt waren und sofort mit den Sticheleien begonnen hatten. Ja, und der dämliche Matt hatte daneben gestanden und die Wortwechsel zwischen Elly und den Oberzicken verfolgt wie den Ball bei einem Tennisspiel. Mit diesem widerlich amüsierten Grinsen in seinem Gesicht, das viele Mädchen – auch die Kühe – so attraktiv fanden wie seinen sportlichen Körper und seine selbstgefällige Art. Warum lungerte der überhaupt so oft an der Bushaltestelle herum, wo er doch Führerschein und Auto besaß? Elly wünschte, sie hätte die Fahrprüfung auch endlich hinter sich und wäre nicht mehr gezwungen, mit den Highschool-Queens im Bus nach Hause zu gondeln.
Cassie war wie immer in solchen Momenten keine Hilfe gewesen, hatte während des Schlagabtauschs nur stumm dagestanden, war regelrecht in sich zusammengesackt, und Elly hatte auch keine Sternstunde im Kontern gehabt. Wegen dem blöden Matt, der sie immer durcheinanderbrachte.
»Sag mal, gibt es dich auch in intelligent?«, hatte sie zu Michelle gemeint. Und zu Nancy: »Warum verdrehst du die Augen? Auf der Suche nach Gehirn? Deine Eltern hätten lieber ein paar Minuten spazieren gehen sollen, statt dich zu zeugen.« Lahm.
Wenigstens war es Cassie und ihr erspart geblieben, dass die Zicken mit ihnen im Bus fuhren, denn als der endlich nahte, hatte sie vernommen, wie Michelle zu Matt sagte: »Du nimmst uns sicher mit, nicht? Wir wollen nicht mit den Loserinnen im Bus sitzen.«
Sie hatte keine Antwort von ihm gehört, aber die drei waren ihm gutgelaunt zu seinem Wagen gefolgt, das hatte sie gesehen, als sie sich auf einen Fensterplatz gesetzt hatte.
Elly ballte die Fäuste. Und ja, Mom, ich habe mich zusammengerissen, aber so was von. Nichts hat sich bewegt, nicht mal ein einziges Blatt im Baum. Auch nicht, als Cassie neben mir zu weinen begann, weil sie noch weniger Selbstbeherrschung hat als ich, und dann auch noch ausgelacht wurde von den drei Ziegen. »Och, schaut mal, Fettklops heult, tröste sie schnell, Rotschopf!«
Und Matt hatte alles mitgekriegt, die Hände in den Hosentaschen.
Elly betrachtete sich im Spiegel. Oh, wie sie ihr Aussehen hasste. Und auch dazu fiel ihrer Mom nur Bullshit ein. Wie besonders, wie hübsch sie sei. Tja, sie und Dad hatten auch kein knallrotes Haar oder ätzende Sommersprossen. Von ihrem Vater hatte sie dessen Größe geerbt, die aber nur bei einem Mann von Vorteil war. Er besaß volles, dunkelbraunes Haar, mit nur leicht ergrauten Schläfen, was ihm gut stand. Moms Haarfarbe war etwas heller, und sie sah so jung aus, hatte eine zierliche, schlanke Figur. Warum, bitte, bin ich so ein langer Trampel geworden! Und ihre Eltern mussten sich auch nicht mit empfindlicher blasser Haut und Sonnenbränden herumschlagen, so wie sie, wenn sie vergaß, sich mit Sonnenschutz einzucremen.
Mom hatte sie – wahrscheinlich, weil sie annahm, es wäre ein Trost – öfter mit ihrer Großtante Elizabeth verglichen, hatte ihr Fotos gezeigt. »Du hast unglaublich viel Ähnlichkeit mit ihr, und sie war eine wahre Belle in ihrer Zeit gewesen, die Männer standen Schlange ...«
Bla, bla, bla. Das war Anfang des letzten Jahrhunderts gewesen.
»Die Leute hatten damals anscheinend unter Geschmacksverirrung gelitten. Und da gab’s auch nur Schwarzweißfotos, das war ihr Glück«, hatte Elly ungnädig zurückgeätzt.
Als sie wieder an all die Beleidigungen dachte, die sie erdulden musste, statt sich wirklich zu wehren, stiegen neuerlich Hitze und Energie in ihr auf, brandeten wie eine Welle durch ihren Körper. Und als sie sich an Matts arrogant-amüsiertes Grinsen erinnerte, beschleunigte sich ihr Puls, nahmen ihre Augen die gefährlich violette Färbung an, wie ihr Spiegelbild zeigte. Stopp! Sie musste das sofort abstellen, damit es nicht zur Entladung kam. Rasch schloss sie die Lider. Atmen. Zählen. Eins ... zwei ... drei ...
Etwas knackte direkt vor ihr, das hörte sie. Dann erst ebbte die Woge der Erregung ab, beruhigte sich ihr Herzschlag wieder. Elly öffnete die Augen.
Shit. Über das Glas ihres Wandspiegels zog sich ein feiner Riss.
Hätte schlimmer kommen können. Man sieht ihn nur auf den zweiten Blick.
Das Verlangen, zu kratzen, zu schlagen und zu schreien, wegen der Ungerechtigkeit, ihrer Hilflosigkeit, war fort. Wich jetzt einer ganz normalen, dumpfen Traurigkeit, die sich weich und erstickend auf sie niederlegte wie ein schwerer Nebel.
Sie war einfach so verdammt traurig.
4
Tante May
Es pochte an ihre Tür. Elly war noch im Schlaf, ignorierte das Geräusch und stöhnte leise, als es erneut klopfte.
»Schatz! Darf ich reinkommen?«, klang es dumpf vom Flur. Ihre Mom. Elly tastete nach ihrem Handy, öffnete ein Auge und schielte aufs Display. Kurz nach neun.
Konnte man nicht mal am Wochenende ausschlafen? Jetzt trat ihre Mom unaufgefordert ein, die frische Brise ihres Duschgels wehte durch den Raum, als sie zum Fenster schritt und die Vorhänge aufzog. Die Morgensonne blendete.
»Was soll das jetzt?«, knurrte Elly und kniff ihre Augen zusammen.
»Sorry, aber steh bitte auf. Wir bekommen gleich Besuch. Tante May hat gerade angerufen. Zum Frühstück um zehn wird sie da sein.«
Mit ›Tante‹ May alias Maylin Wong verband Mom eine lange Freundschaft seit der Kindergartenzeit, und sie war Ellys Patentante. Auch sie lebte nicht mehr in Detroit, der Stadt, in der sie und ihre Mutter zusammen aufgewachsen waren. Mittlerweile wohnte sie mit ihrem Sohn Jason in Atlanta, Georgia, was wesentlich näher zu Charleston lag. Daher konnten sich die beiden Freundinnen wieder häufiger treffen.
»Bringt sie Jason mit?«, fragte Elly, streckte sich und gähnte.
»Nein, sie kommt allein. Ich deck jetzt den Tisch«, erwiderte Mom und verließ das Zimmer.
Auch gut. Elly wusste immer nicht so recht, worüber sie mit Jason reden sollte, war sich nicht sicher, was sie von dem Vierzehnjährigen halten sollte, diesem mürrischen Schlacks, der immer in viel zu weiten Hosen herumschlich, die ihm fast bis in die Kniekehlen hingen. Gangsterstyle, wie es Tante May nannte. Er sprach nur das Nötigste, war so anders als seine Mutter, die pausenlos plapperte und Witze raushaute, aber vielleicht war er genau deshalb eher still. Doch Elly mochte die rundliche Frau, kam gut mit deren schnodderiger Art zurecht, fand sie witzig.
Okay, ihr Besuch war ein Grund, aufzustehen. Sie schlug ihre Decke zurück und tappte ins Bad.
Nur wenig verspätet erschien Maylin zum Frühstück. Abby hatte den Tisch auf der Veranda gedeckt, denn es war ein warmer Sommermorgen.
Elly hörte bereits das Röhren von Maylins Sportwagen, ehe sie ihn über die Auffahrt brausen sah, Staubwolken vom Schotterweg aufwirbelnd. Die Bremsen quietschten, als sie ihr Chevrolet Camaro Coupé direkt vor Oakley Gardens zum Stehen brachte und ausstieg. Elly grinste, nicht nur über diesen rasanten Auftritt, sondern auch über Tante Mays Outfit. Obwohl sie so alt war wie ihre Mom und mindestens zwanzig Kilo mehr wog, kleidete sie sich wesentlich jugendlicher und figurbetonter. Ihre Sneaker waren echt cool, die enge Lederjacke ebenfalls – na ja, bis auf die schrille Farbe, Pink, für die ihre Patentante eine Vorliebe hatte.
Jetzt stieg sie die Stufen zur Veranda empor, wobei sie sich ihre Sonnenbrille ins Haar schob und übers ganze runde Gesicht grinste.
»Hi Mädels!«, rief sie und drückte erst Abby, dann Elly fest an sich, ihr blumiges Parfüm stieg ihnen in die Nase. Normalerweise mochte Elly keine Umarmungen, aber bei ihrer Patentante störte es sie seltsamerweise nicht.
Die ließ sich auf einen der Korbstühle sinken und stellte ihre Handtasche ab, während Abby ihr einen Kaffee einschenkte.
»Guten Morgen, Tante May«, sagte Elly.
»Herzchen, wie oft muss ich das noch klarstellen: Ich bin die Freundin deiner Mutter, nicht deine alte Erbtante«, erwiderte Maylin mit gespieltem Ernst. »Also nenn mich bitte endlich May.«
Elly lachte. Ja, das vergaß sie immer wieder, dass sie nur mit Vornamen angesprochen werden wollte, vielleicht, weil Mom sie beharrlich weiter als Tante bezeichnete.
Während Abby nach dem College an der Universität Psychologie studiert hatte, hatte Maylin den Weg einer Journalistin eingeschlagen, schrieb inzwischen unter anderem für den Atlanta Tribune, in den Sparten Klatsch und Filmkritiken. Außerdem besaß sie einen eigenen Blog im Internet, den Elly begeistert verfolgte.
Maylin war unverheiratet, hatte aus einer Kurzbeziehung ihren Sohn Jason, der zwei Jahre jünger war als Elly. Zum Vater gab es keinen Kontakt.
Elly hatte früher einmal aufgeschnappt, wie Moms Freundin zu ihrem Sohn gekommen war.
»Die Leute behaupten doch immer, dass einem im Auto bei Gewitter nichts passieren kann. Tja, Irrtum, neun Monate später kam Jason auf die Welt«, hatte Maylin gesagt. Das war typisch für sie.
»Was gibt’s Neues?«, fragte sie jetzt, während sie sich ein Toastbrot dick mit Marmelade bestrich. »Irgendetwas Spannendes, das ich in einem Artikel verwursten kann?« Sie biss von ihrem Toast ab.
Klar, ging es Elly durch den Kopf. Ich hab‘ gestern einen Globus vom Schrank fallen und Spiegelglas knacksen lassen, ohne die Gegenstände zu berühren ... Aber das – oder irgendetwas – zu erzählen, was mit ihren besonderen Fähigkeiten zu tun hatte, war tabu. Strengstens verboten.
Irgendwann, vor Jahren, hatte Mom ihr erklärt, warum sie ihre Freundin, die ihre engste Vertraute war, nie über ihre Gabe eingeweiht hatte. Und hatte ihr, Elly, erst letzte Woche zum wiederholten Mal eingebläut, das ebenfalls niemals zu tun.
»Deine Tante Maylin ist toll, ich liebe sie, keine Frage, eben weil sie ist, wie sie ist: witzig, loyal und eine echt gute Freundin. Aber, Liebling, sie redet zu viel, kann schlecht was für sich behalten, das war früher schon Fakt und wird es auch bleiben. Selbst wenn sie uns schwören würde, unser Geheimnis zu wahren: Ihr Mundwerk und ihr Hang zu Sprüchen wären oft stärker als ihr Gelöbnis, zu schweigen.«
Mom hatte einen Moment wirklich traurig ausgesehen, ehe sie fortfuhr: »Und seit sie Journalistin ist und jederzeit auf der Suche nach der ultimativen Story, die sie in den Zeitungs-Olymp katapultiert oder ihr den Pulitzer-Preis bringt, wäre es noch gefährlicher, wenn wir uns ihr anvertrauten. Verstehst du das, Schatz?«
Nachdem May ihr Toast verspeist hatte, griff sie nach ihrer Handtasche und zog ein Geschenk hervor.
»Hab dir was mitgebracht, Elly!« Sie reichte ihr die hübsch verpackte Schachtel.
Elly strahlte regelrecht, als sie danach griff. »Danke!«
Sie riss das Papier auf und öffnete die Box. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Kopfhörer herausnahm, die gerade wahnsinnig angesagt waren.
»Cool! Genau die wollte ich haben!« Sie ignorierte den leicht verkniffenen Ausdruck im Gesicht ihrer Mom.
»Du sollst ihr doch nicht immer so teure Geschenke mitbringen. Sie hat erst im November Geburtstag«, sagte Abby.
»Bla, bla, bla. Erstens bin ich die Patin, auserkoren, meinem Patenteenie Freude zu bereiten. Und zweitens: Sei doch froh, ich sorge dafür, dass sie Musik in der richtigen Lautstärke hören kann, ohne den Hausfrieden zu gefährden, stimmt’s?«, erwiderte Maylin und zwinkerte Elly zu, was der ein breites Lächeln entlockte. Ihrer Schlagfertigkeit war Abby früher schon kaum gewachsen gewesen.
Maylin erwartete auch keine Widerworte, griff sich einen Blaubeermuffin, biss herzhaft hinein und fuhr kauend fort.
»Hört zu: Ich war ja letzten Monat auf dem Klassentreffen in Detroit. Ach, Abby, du hättest dabei sein sollen, hast einiges verpasst!« Sie grinste ihre Freundin über ihren Kaffeebecher hinweg an, trank dann einen Schluck.
»Ja, schade, aber ich war auf einem Psychologen-Kongress. Außerdem kriege ich die Informationen von dir jetzt aus erster Hand.«
»Richtig, auch wenn du es mit eigenen Augen hättest sehen müssen: Unsere liebe Melissa Norton, ehemals Harper, war der Hammer!«
May sah Elly an, dass ihr der Name nichts sagte, erklärte deshalb: »Melissa war die Highschool-Schönheit par excellence, hat deiner Mom und mir damals mit ihren ›Hofdamen‹ das Leben schwer gemacht, zumindest haben die Puten es versucht.« Sie legte ihre Hand an den Mund und raunte: »Die drei Tussen wollten mich sogar mal vermöbeln, im Flur der Sporthalle. Zum Glück ging meine ältere Schwester dazwischen und hat denen die Fresse poliert.«
Elly gluckste.
»Maylin, bitte!« Abby sah verärgert aus. »Musst du Elly solche Sachen erzählen? Außerdem werden Schimpfworte in diesem Haus nicht benutzt. Na ja, selten, nur im Notfall.«
»Ich kann sprechen, wie ich will. Das nennt man ›Fressefreiheit‹!«, gab Maylin patzig zurück, und wieder musste Elly lachen.
»Ja, mag sein, aber deine Ausdrucksweise ... «, tadelte Abby.
»Ehrlich jetzt? Früher fandest du solche Sprüche lustig, meine Liebe. Wann bist du so spießig und überkorrekt geworden?«, stichelte May zurück.
»Das hat nichts mit Spießigkeit zu tun, ich möchte nur nicht, dass du vor meiner Tochter so redest.«
»Ich möchte das aber hören, ist interessant«, warf Elly feixend ein.
Abby presste die Lippen zusammen. Sind Fürsorge und Benimm der wahre Grund dafür, dass ich gerade so bissig reagiere?, fragte sie sich innerlich und analysierte in Sekundenschnelle.
Nein, gestand sie sich ein. Ich bin eifersüchtig. Auf Ellys Bewunderung für May, auf ihren guten Draht zueinander. Ich hatte nicht mal gewusst, dass sich Elly diese dämlichen Kopfhörer wünscht ... Wenn die beiden zusammen lachen, fühle ich mich irgendwie ausgeschlossen. Zwischen ihnen herrscht so was wie ein stilles Einvernehmen, als würden sie sich insgeheim über mich lustig machen. Als wären sie zwei ungezogene Mädchen und ich die strenge Erwachsene ... Okay, eben war ich das ja auch ...
Maylin kannte ihre Freundin lang genug, um jede ihrer Stimmungen zu lesen, sah sofort, dass Abby grübelte oder traurig wurde, darum knuffte sie sie zärtlich in die Seite.
»Hey Babe, ist doch nur Spaß. Ich weiß, dass du eine tolle Mom bist, wahrscheinlich die bessere von uns beiden.«
Das war eine von Maylins Stärken, ihre Ehrlichkeit, und dass sie trotz ihrer bollerigen Art über Sensibilität verfügte.
»Quatsch, ich stelle mich gerade wirklich albern an. Weiß auch nicht, warum ich hier die strenge Vorstadtmutti raushängen lasse.« Und damit war alles wieder gut, das spürte sie.
»Nun, dann erzähle ich mal weiter vom Klassentreffen. Also, Melissa hat – ungelogen – inzwischen einen Hintern wie ein Brauereipferd, dagegen ist meiner klein! Und ein Doppelkinn, als hätte sie sich Eigenfett spritzen lassen, das dann aus dem Gesicht runtergerutscht ist!«
Elly grinste von einem Ohr zum anderen, und diesmal tat es Abby auch.
Maylin gab weitere witzige Geschichten zum Besten, imitierte ehemalige Mitschüler und Lehrer, mit so viel Mimik und Gestik, dass sie gar nicht mehr aufhören konnten zu lachen. Abby sah Ellys Gelöstheit, hörte ihr perlendes Gelächter, das sie in letzter Zeit so bei ihr vermisst hatte, und das ließ ein mütterliches Glücksgefühl in ihr aufsteigen.
May war irgendwann ganz aus der Puste von ihren Darbietungen, trank ihren Orangensaft in einem Zug aus und atmete dann tief durch.
»Ich sag doch, mit dem Klassentreffen ist dir was entgangen.«
»Herrlich, mir tut der Bauch weh vom Lachen.« Abby wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Wie lange ist das jetzt her, dass wir unseren Abschluss auf der Harrison High gemacht haben?«, fragte Maylin.
»Achtzehn Jahre.«
»Shit – fast zwei Jahrzehnte! Jetzt denke ich gerade, dass ich bald vierzig – hörst du? – vierzig werde. Oh mein Gott! Musstest du mich daran erinnern?«
»Was heißt: Ich habe dich daran erinnert!? Du hast doch gefragt, wie lang das her ist.«
Elly betrachtete die beiden Frauen, konnte sich in diesem Moment genau vorstellen, wie ihre Mom und deren beste Freundin damals in ihrem Alter gewesen waren.
Sie hatten also auch Erfahrung mit Zicken wie denen, die jetzt sie ärgerten. Michelle, Audrey und Nancy waren anscheinend genau solche Tussen wie diese Melissa, die früher Mom und Maylin das Leben schwer gemacht hatte.
Sie fühlte einen kleinen Stich. Ein wenig beneidete sie ihre Mutter um diese langjährige, tiefe Verbundenheit mit Maylin. Nun, sie hatte Cass, und das war gut. Entstanden aus einer Art Zweckgemeinschaft war ihre Beziehung gewachsen. Die beiden Außenseiterinnen, die sich gefunden hatten. Eine ... ja, solide Freundschaft konnte man es nennen.
Aber was Elly vermisste, war Lustiges, Überraschendes mit Cassie zu erleben. Die fürchtete sich ständig, anzuecken, etwas falsch zu machen ... Stopp, hör auf, mahnte sich Elly. Sei dankbar, dass du sie hast.
»Oh, der Kaffee ist alle. Ich setz‘ rasch neuen auf«, sagte ihre Mom in diesem Augenblick, griff nach der leeren Kanne und verschwand im Haus.
Maylin lehnte sich zurück und schaute Elly an. Ihr Lächeln breitete sich bis in ihre dunklen Mandelaugen aus.
»Alles okay mit dir? Du hast eben ziemlich ernst geguckt, so, als ob du an etwas Unangenehmes gedacht hast.« Sie steckte sich mehrere Weintrauben auf einmal in den Mund, behielt den Blick aber auf Elly gerichtet.
»Ach, nicht so wild. Es war nur ... Als du von dieser Melissa erzählt hast ... Ich kenne auch drei Zicken, alles Melissas. Die versuchen, meine Freundin und mich zu mobben.«
»Scheiße, das hat mir deine Mom gar nicht erzählt«, erwiderte ihre Patentante, die Augenbrauen zusammengezogen. »Lasst euch bloß nichts gefallen von denen, die riechen Schwäche auf fünfzig Meter, und dann legen sie erst recht los.«
»Ja, ich weiß. Das Problem ist nur, dass Cassie keine Hilfe ist ... Versteh mich nicht falsch, sie ist meine einzige Freundin, ich mag sie total gerne, aber ...«
»Sie ist mehr das Opfer«, beendete Maylin den Satz. Elly nickte. »So eine Freundin hatten Abby und ich früher auch. Sie hieß Ruth. Wenn Sorgenmachen eine olympische Disziplin wäre, hätte Ruthy problemlos für die USA antreten können.«
Sie lachten. Dann wurde Maylin wieder etwas ernster. »Okay, dann musst du deine Cassie aus der Opferrolle holen oder allein kämpfen. Aber auf keinen Fall aufgeben! Zeig den Zicken beide Mittelfinger.«
»Ich wünschte, ich hätte eine Freundin wie dich an der Schule«, platzte es leise aus Elly heraus. Solche Sachen sagte sie äußerst selten. Das war May bekannt, es schmeichelte ihr, und ihr Gesicht wurde weich. Sie beugte sich ein wenig vor. Elly erwartete etwas Sentimentales aus ihrem Mund, aber es kam natürlich anders.
»Weißt du, eine wahre Freundin ist wie ein BH: schwer zu finden, unterstützend, erhebend und ganz nah am Herzen.«
In diesem Moment kehrte ihre Mutter mit dem frisch aufgebrühten Kaffee auf die Veranda zurück.
»Ah, da ist ja mein BH wieder«, wurde sie von Maylin begrüßt, was bei Abby einen verständnislosen Blick auslöste und Elly trotz aller Sorgen kichern ließ.
5
Jacob Hunter
Erst spät kehrte Jacob Hunter an diesem Samstag von seiner Arbeit im Krankenhaus zurück, schloss die Haustür auf und betrat die Eingangshalle von Oakley Gardens. In der Luft hing noch leicht der Duft des Abendessens, das er heute verpasst hatte. Eine schwierige Notoperation hatte ihn in der Klinik gehalten. An die vielen Überstunden als Chirurg im Roper St. Francis Hospital hatte er sich nach all den Jahren gewöhnt. Sowie an die häufig versäumten gemeinsamen Mahlzeiten mit Abby und Elly. Aber an die traurige Tatsache, Patienten zu verlieren, sie trotz vollen Einsatzes nicht retten zu können – so wie heute –, daran würde er sich nie gewöhnen. Es nahm ihn nach wie vor mit.
Ein junger Mann, fast noch ein Jugendlicher, war am Ende seiner Schicht eingeliefert worden. Mehrere lebensbedrohliche Stichwunden im Oberkörper waren zu behandeln gewesen, der neunzehnjährige Tyron Akande hatte viel Blut verloren. Zu viel. Ein Passant hatte das Opfer einer Gewalttat aufgefunden, in dem heruntergekommenen Industriegebiet im Norden der Stadt und einen Krankenwagen gerufen.
Mehrere Stunden hatte die Operation gedauert, Jacob hatte alles für den Jungen getan, was in seiner Macht stand, ihn jedoch nicht retten können. Es war nicht seine Schuld, das war ihm klar. Selbst wenn man den Schwerverletzten früher in den OP gebracht hätte, wäre sein Überleben ungewiss gewesen. Dennoch würde es eine Weile dauern, das niederdrückende Gefühl abzustreifen. Genau wie das Bild der verzweifelten Eltern, die auf dem Klinikflur ausgeharrt hatten, in banger Hoffnung. Den Angehörigen diese zu nehmen, ihnen die unfassbare Nachricht zu übermitteln, war jedes Mal eine der schwersten Aufgaben für ihn.
Jacob atmete durch, legte seine Schlüssel auf die Kommode in der Eingangshalle und erhaschte dabei einen Blick auf sein blasses, von Erschöpfung gezeichnetes Gesicht im Spiegel. Als er seine Jacke aufhängte, kam Abby die Treppe herunter.
»Hallo Liebling.« Sie begrüßte ihn mit einem Kuss. Er umschlang sie mit beiden Armen, zog sie an sich, wobei ihr Kopf an seiner Brust ruhte, und sog den vertrauten Duft ihres Haars ein, den er so liebte. In ihrer tröstlichen Nähe fiel schon ein bisschen von der Anspannung von ihm ab.
Er hat einen Patienten verloren, vermutete Abby sofort. Sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er entweder von selbst darüber sprechen oder schweigen würde. Jacob hatte in diesem Moment die traurigen braunen Augen eines Welpen, den zu Weihnachten niemand als Geschenk ausgesucht hatte. Es stach Abby mitten ins Herz, aber sie drängte ihn nie, darüber zu reden.
Jetzt löste er sich aus der Umarmung, und sie lächelte ihn mitfühlend an. Manchmal wünschte ich, er hätte das Jobangebot dieser renommierten Schönheitsklinik angenommen. Dann hätte er klar umrissene Arbeitszeiten, weniger Stress, würde Routineeingriffe ausführen, bei denen in der Regel keine Leben auf dem Spiel standen ...
Doch diesen Gedanken verwarf sie sofort. Frauen Brüste und Nasen zu korrigieren, reichen Schnöseln Fett abzusaugen, aus dem Grund hatte ihr Mann nicht Medizin studiert, er wollte helfen, Leben retten, nahm den hippokratischen Eid ernst. Es machte ihn aus, und dafür liebte sie ihn umso mehr.
Sie gingen in die Küche, dem gemütlichsten Ort in der Villa, die ihre Großmutter ihr vermacht hatte, als sie im unfassbaren Alter von dreiundneunzig Jahren verstorben war. Grannys Geist, die unzähligen Erinnerungen an sie, waren nach wie vor überall.
»Möchtest du etwas essen?«, fragte Abby. Jacob schüttelte leicht den Kopf, nahm am Tisch Platz. Sie schenkte ihnen beiden einen Tee aus der Kanne auf dem Stövchen ein, den sie abends immer kochte. Stellte einen der Becher vor ihm ab und setzte sich ihm gegenüber. Betrachtete sein blasses Gesicht im Schein der Hängelampe, die zusammengezogenen Augenbrauen, die wenigen Falten, die sich normalerweise nicht so deutlich abzeichneten. Wenn er Sorgen hatte, sah er immer düster, ja regelrecht grimmig aus. Das kannte sie von ihm schon seit der Zeit, als sie beide noch an der Highschool gewesen waren und sie anfangs diesen finsteren Gesichtsausdruck absolut falsch verstanden hatte ...
Sie legte ihre Hand auf seine. Er würde nicht über den verstorbenen Patienten reden, das spürte Abby.
»Maylin war heute hier«, begann sie ein Gespräch, das, wie sie wusste, erst einmal von ihr allein bestritten werden würde, Jacob aber im besten Fall aus seinen traurigen Gedanken holte. Weiter erzählte sie vom Besuch der Freundin, wiederholte deren Anekdoten vom Klassentreffen, den Klatsch über frühere Mitschüler, die auch er kannte, und nahm erleichtert zur Kenntnis, dass Jacob irgendwann an dem Tee nippte, seine Züge sich allmählich glätteten und seine Mundwinkel sogar einmal leicht belustigt zuckten.
Jacob betrachtete Abby, ihren hübschen Mund in dem ausdrucksvollen Gesicht, wie lebhaft sie erzählte, um ihn aufzumuntern. Er selbst hatte Maylin schon früher zu Schulzeiten eher nervig und überdreht gefunden, aber ihm war bewusst, dass die Freundin Abby und auch ihrer Tochter guttat.
»Elly war richtig locker, hat so viel gelacht wie seit Langem nicht mehr«, schloss sie ihren Bericht. Sie hatte es leichthin sagen wollen, aber Jacob sah, dass sich ihr Gesicht bei diesem Satz für eine Sekunde überschattete, bevor sie es wieder im Griff hatte.
»Ist mit Elly alles in Ordnung?«, fragte er daher, und ihm entging nicht Abbys kurzes Zögern. Demnach war etwas vorgefallen.
»Sie kam gestern sehr aufgebracht von der Schule. Diese drei Mädchen, du weißt schon, haben ihr und Cassie wieder zugesetzt. Und dass Matt dabeistand und es mitkriegte, hat es noch schlimmer gemacht. Ich weiß auch nicht, warum die beiden sich so wenig mögen, regelrecht hassen, das war doch früher mal anders ...« Sie seufzte leicht frustriert. »Und ich habe falsch reagiert, als sie mir all das sagte, ihr nicht wirklich zugehört. Das war keine mütterliche Sternstunde.«
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Wir können morgen darüber sprechen, es ist spät, und du bist bestimmt müde.«
»Nein, erzähl bitte weiter.« Vielleicht konnte er etwas tun, musste gleich kein zweites ungelöstes Problem mit ins Bett nehmen.
»Ich habe gestern, später, nach unserem Beinahe-Streit, noch einmal mit ihr gesprochen. Ich fürchte, auch wenn sie es nicht zugegeben hat, dass sie sich in der Schule nicht im Griff hatte, was ihre Gabe angeht. Ich weiß aber nichts Konkretes, ist nur so ein Gefühl. Das – und dieses unsägliche Mobbing – besorgt mich.«
Nun legte Jacob seine warme Hand auf ihre, umschloss sie. »Soll ich mal mit ihr sprechen?«
»Ja, tu das. Dir hört sie eher zu als mir. Ich habe überlegt, ihr die Aufzeichnungen zu geben. Vielleicht hilft ihr das Wissen um meine Probleme und Sorgen mit der Gabe, als ich in ihrem Alter war.« Fragend sah sie ihn an. Jacob wusste sofort, welche Aufzeichnungen sie meinte, auch er kam oft darin vor, aber nicht immer gut weg, wie er fand.
»Wenn du meinst.«
Plötzlich tauchte Elly im Türrahmen auf. Hoffentlich hat sie nicht vor der Tür gestanden und gelauscht, ging es Abby durch den Kopf.
»Hi Dad«, sagte sie und musterte ihn fast prüfend. Jacob war erleichtert, dass sie nicht wie sonst auf ihn zukam, um ihn zu umarmen, dann hätte er wegen ihrer Fähigkeiten den schockierenden Anblick des Verletzten, die vergeblichen Rettungsversuche nicht vor ihr verbergen können.
»Störe ich gerade?«, fragte sie.
»Nein, natürlich nicht«, erwiderte er. Elly wandte sich an ihre Mutter. »Ich hatte vergessen, dir auszurichten, dass nach dem Essen eine Mrs. Turner angerufen hat. Sie klang ziemlich fertig, wollte, dass du sie zurückrufst. Ist mir gerade eben erst wieder eingefallen, tut mir leid, Mom.«
»Oh.« Abby erhob sich. »Aber gut, dass du noch daran gedacht hast.« Üblicherweise riefen ihre Patienten sie nicht am Wochenende an. Doch die psychisch äußerst labile Mrs. Turner hatte vorgestern ihren Mann verloren, was sie verständlicherweise noch mehr aus der Bahn warf, und Abby hatte ihr versichert, dass sie jederzeit bei ihr anrufen dürfte. »Ist ein Notfall. Ich hoffe, ich kann sie rasch beruhigen.« Sie eilte aus der Küche in Richtung ihres Arbeitszimmers.
»War ein schlimmer Tag, oder? Du siehst echt ...« Elly bremste sich gerade noch dabei, ›beschissen aus‹ zu ihrem Vater zu sagen. Doch er wusste, was ihr auf der Zunge gelegen hatte, und nickte.
»Ja, war es. Aber jetzt ist der schlimme Teil vorbei. Magst du dich einen Augenblick zu mir setzen?« Vielleicht war es ja der passende Moment, mit der Tochter über deren Sorgen zu reden.
Elly nahm ihm gegenüber Platz und sah ihn mit ihren großen, blauen Augen an. Wie so oft war ihm, als ob sie tief in seine Seele blicken konnte.
»Mom hat dir erzählt, dass ich Stress hatte?«
»Nun, das stimmt, ich –«, setzte er an, doch sie unterbrach ihn sofort.
»Du kannst nichts tun, nur ich selbst. Ich bin kein Kleinkind mehr. Und schlag nicht wieder vor, mit den Eltern der drei miesen Tussen zu reden. Das wäre fü...« Zum zweiten Mal stoppte sie sich, um nicht ordinär zu werden. Das mochten ihre Eltern nicht.
»Das wäre für’n Arsch, meinst du«, beendete ihr Vater den Satz und blinzelte ihr zu. Nach einem Tag wie diesem tat es fast gut, es auszusprechen.
Elly grinste. »Korrekt. Irgendwann werden sie es lassen, und bis dahin kriegen sie Breitseite zurück.«
»Mit Worten, hoffe ich, nicht mit Taten.« Sofort bereute Jacob diesen Satz, denn Elly stöhnte genervt, und ihr Gesicht bekam einen unwilligen Ausdruck. »Fang du nicht auch noch damit an. Habt doch endlich mal Vertrauen zu mir!«
»Hast recht, das war ein blöder Spruch. Aber ... Wenn ich irgendetwas für dich tun kann oder soll, lass es mich wissen.«
»Mach ich, danke.« Sie war wieder besänftigt. »Und ... Wenn ich was für dich tun kann, sag’s bitte auch.« Sie stand auf und ging zur Tür, drehte sich dort zu ihm um. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, wärmte sein Herz. »Gute Nacht, Dad.«
»Gute Nacht, Liebes.«
Sie schickte ihm einen Kuss durch die Luft und verschwand, Jacob hörte ihre leichtfüßigen Schritte die Treppe hocheilen.
Er sollte ebenfalls schlafen gehen, aber trotz der Müdigkeit und Erschöpfung blieb er noch einen Moment in der Stille der heimeligen Küche sitzen, hörte das Ticken der antiken Tischuhr auf der Fensterbank. Aus Abbys Sprechzimmer drang leise der Klang ihrer Stimme zu ihm herüber, sie redete beruhigend auf diese Frau ein.
Habt doch
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Korrektorat: Dr. Andreas Fischer
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Tag der Veröffentlichung: 03.02.2021
ISBN: 978-3-96714-115-3