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Leseprobe

A Bitter Touch Of Yesterday

A Sensation Of Time

Ursula Kollasch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für meine großartige Schwiegermutter Helga Hauch (1947-2014).


»Ich liebe deine Geschichten. Schreib einen Roman und ich darf dann die Erste sein, die ihn liest.«


Leider kannst du nicht die Erste sein. Aber danke, liebe Helga, für alles.

 

 

 

Prolog

 

 

»Was würdest du heute am liebsten machen? An den Strand fahren?« Ich zeichne ein Herz.

An jedem Morgen der einhunderteinundsechzig Tage, die ich nun hier eingesperrt bin, habe ich etwas auf die Wand gemalt. Heute ist es ein rotes Herz, weil ich in guter Stimmung bin.

»Da das nicht drin ist, werde ich wohl …« Stopp! Ich ertappe mich dabei, wie ich wieder Selbstgespräche führe. Das passiert mit einem, wenn man zu viel allein ist.

In den letzten dreiundzwanzig Wochen habe ich neben roten Herzen auch deprimiert-schwarze Grabkreuze oder frustriert-graue Wolken, hoffnungsvoll-grüne und zuversichtlich-blaue Smileys sowie sonnig-gelbe Blumen auf dem weißen Putz hinterlassen. Und braune Hundehaufen, etwas albern, ich weiß. Aber diese Farbe steht für Langeweile, und ich habe sie sehr oft verwendet. Kein Wunder, in meiner Lage, gefangen in diesem Raum, der seelenloser eingerichtet ist als ein Hotelzimmer: ein Bett, ein Schrank, ein Tisch mit zwei Stühlen, Vorhänge, ein schlichter Teppich. Davon abgehend eine winzige, fensterlose Kammer, die die Bezeichnung ›Badezimmer‹ kaum verdient.

Das einzig Persönliche sind neben meinen Zeichnungen die Fotos, sie bedecken fast die komplette Wand über dem Bett. Es sind Bilder von den Menschen, die ich liebe und schätze, ihr Lächeln spendet mir Trost und Mut. Doch an manchen Tagen ertrage ich ihre strahlenden Gesichter nicht. Dann überwältigen mich die Einsamkeit und die Sehnsucht nach ihnen. Sie kennen nicht den wahren Grund, warum ich hier eingesperrt bin, und ich spüre, wie bei diesem Gedanken der Knoten in meinem Inneren fester wird, es fühlt sich an, als ob die Wände, die mich umgeben, ein bisschen näher rücken. Allein mein Liebster und seine Mutter sind eingeweiht, aber nur er besucht mich jeden Morgen, bevor er zur Universität fährt, und eilt zu mir, sobald er zurückgekehrt ist.

Bringt mir Essen, auf das ich Appetit verspüre. Erzählt mir von Leuten, die ich kenne. Natürlich schaue ich die Nachrichten, aber täglich liest er mir aus der Zeitung oder den Briefen meiner Freundinnen vor, die in regelmäßigen Abständen eintrudeln.

Das ist ein schönes Ritual, um zu erfahren, was draußen passiert.

Nachts trennt uns nur eine Wand im Haus. Ich vermisse die Nähe und seine Wärme neben mir im Bett. Oft stelle ich mir dann vor, was er, nur wenige Meter von mir entfernt, gerade tut.

Ohne ihn würde ich die Isolation nicht durchstehen.

Letzte Nacht habe ich geträumt, durch Großmutters Garten zu spazieren, an den Eichen und Obstbäumen entlang, die ich täglich aus dem Fenster betrachte, ihren Wandel in den Jahreszeiten. Granny war bei mir, sie lächelte mich an, und wir sprachen über Gott und die Welt, wie früher. Ein vertrautes Gefühl. Beim Erwachen war sie mir noch so nah, dass ich fast weinen musste, als ich erkannte, dass unser Zusammensein nicht real war.

Ich wünschte, ich könnte nebenan im Salon auf dem Flügel spielen oder ein Buch aus dem Regal nehmen. Selbstverständlich gehe ich ab und zu aus diesem Zimmer in die Küche, um mir einen Kaffee oder Tee zuzubereiten, aber ich muss auf der Hut sein, dabei nur die für mich bestimmten, erinnerungslosen Haushaltsgegenstände zu verwenden. Doch mich frei im Haus zu bewegen oder es zu verlassen, um die Sonnenstrahlen und den Wind auf meiner Haut zu spüren, einfach normale Dinge zu erleben, über die andere gar nicht nachdenken, wie Essen gehen, in Geschäften stöbern, Freunde umarmen – das ist mir versagt.

Um es klarzustellen: Ich kann hinaus. Jederzeit. Aber ich darf es nicht. Es war mein persönlicher Entschluss, mich hier vom Rest der Welt abzuschotten. Wenn ich mein gewohntes Leben wieder aufnähme, könnte das böse Folgen haben. Verläuft es planmäßig – was selten der Fall ist –, harre ich weitere acht Wochen hier aus.

Noch sechsundfünfzig Kritzeleien auf der Wand. Das ist absehbar.

Jetzt schaue ich einen Stapel Fotos durch, es sind alles Bilder von mir. Mom hat mir die frisch gedruckten Abzüge auf meinen Wunsch geschickt, und sie sind höchstwahrscheinlich harmlos. Trotzdem streife ich dünne Handschuhe über, ehe ich sie berühre, um das eine Foto zu finden, das mich am deutlichsten trifft und charakterisiert. Ich will es meinen Aufzeichnungen für dich beilegen. Welches soll ich wählen? Das, das Vater am Strand von Charleston aufgenommen hat, auf dem ich in die Sonne lache? Oder dies hier, auf dem ich in Shorts vor Oakley Gardens auf der Veranda stehe? Ich betrachte weitere Bilder.

Auf allen Porträts ist mein herzförmiges Gesicht zu sehen, die meergrüne Farbe meiner Augen. Die kleinen Grübchen in meinen Wangen, wenn ich lächle. Der leichte Überbiss, der mich immer an mir gestört hat, mir aber angeblich etwas Niedliches verleiht. Mein hellbraunes Haar, das mal im Knoten oder zum Zopf gebunden ist oder offen über die Schultern fällt. Auf den jüngeren Bildern leuchten die roten Narben auf meiner rechten Hand und dem Unterarm.

Ich kann mich nicht entscheiden, darum lege ich die Fotos beiseite und greife nach dem Füller und der Mappe mit dem Papier.

»Ich werde mich heute sinnvoll beschäftigen und alles aufschreiben«, sage ich. Diesmal ist es kein Selbstgespräch, denn ich rede zu dir, meinem ungeborenen Schatz, und lege mir die Hand auf den runden Bauch.

»Die Aufzeichnungen sollen dir helfen, zu verstehen, was ich erlebt habe und warum ich jetzt hier bin. Aber vor allem sollen sie dich auf dein Leben als Wanderer vorbereiten.«

Ich werde die Zuversicht bewahren, dich gesund auf die Welt zu bringen, und es wird der glücklichste Moment sein, dich und deinen Vater endlich in meinen Armen zu halten.

Darum bin ich hier. In meinem Gefängnis.

 

1

Charleston 1982

 

 

Ich erinnere mich genau an das erste Mal, als es mir passierte, in den Sommerferien vor meinem zwölften Geburtstag. Ich war zu Besuch bei meiner Großmutter Mathilda in Charleston. Großmutter war das, was ich aus heutiger Sicht als eine echte Südstaaten-Lady bezeichnen würde, mit ihrem schneeweißen, hochgesteckten Haar, den strahlend blauen Augen, die beim Lächeln in kleinen Fältchen verschwanden, und ihrer geraden Haltung. Immer trug sie Kleider, legte Wert auf Eleganz, aber für mich war sie schlicht meine Granny, und ich liebte sie sehr.

Sie wohnte in einer dieser prächtigen Antebellum-Villen, mit Säulen und dunkelgrünen Fensterläden. Umgeben von einer überdachten Veranda, auf der weiße Korbmöbel standen und eine Bankschaukel von der Decke des Vorbaus hing. Letztere war einer meiner Lieblingsplätze. Stundenlang schaukelte ich vor mich hin und schaute über den Rasen und die Blumenbeete auf die von Eichen und Platanen gesäumte Straße, während ich an einem Glas mit Grannys selbstgemachtem Eistee nippte.

Langweilig wurde mir nur selten, es gab immer etwas zu beobachten, zu hören oder zu riechen, denn in Charleston war alles ganz anders als im hohen Norden, wo ich mit meinen Eltern lebte. Oft hörte ich Großmutter in der Küche vor sich hinsummen, während sie eines ihrer weitervererbten Familienrezepte zubereitete, und mir stiegen die köstlichen Düfte von Gebratenem und Gebackenem in die Nase. Nur wenn sie Besuch hatte, kochte sie aufwändige Gerichte, denn sie lebte allein in dem riesigen Haus.

»Für mich alte Frau lohnt es sich nicht, aber wenn du hier bist, Engelchen, ist das was anderes.« Sie zwinkerte mir zu. Ihr Lächeln, das sie mir stets schenkte, wenn sie mich anblickte, wärmte mein Herz, denn ich fühlte, dass sie sich genauso über meine Gesellschaft freute wie ich mich über ihre.

Grannys Haus, in dem sie 1896 das Licht der Welt erblickt hatte, war hundert Jahre vor ihrer Geburt erbaut worden. Sie erzählte mir eine Menge fesselnder Geschichten über ihre Kindheit in Oakley Gardens und die Vorbesitzer des Hauses. Im Garten wuchsen Obstbäume, in denen ich klettern und Früchte naschen konnte. Daneben ragten auf dem Grundstück uralte, mit spanischem Moos überwucherte Eichen in den Himmel, in deren Schatten ich während der schwülen Sommerhitze des Südens gerne spielte. Diesen Giganten verdankte die Villa ihren Namen, Oakley Gardens.

Für mich waren Ferien bei Granny Mathilda das Paradies. Meine Eltern lebten mit mir nahe Detroit in Michigan, dieser ziemlich heruntergekommenen Industriestadt, die mir als Kind wie ein riesiger, kribbelnder Ameisenhaufen erschien. Die Straßen zwischen den Betonklötzen vollgestopft mit drängelnden Menschen und Autos. Mom und Dad betrieben gemeinsam eine Anwaltskanzlei, sie arbeiteten nahezu rund um die Uhr. Daher blieben sie während der Schulferien immer nur für ein paar Tage mit mir bei Granny, um dann zurück nach Detroit zu fliegen und mich erst Wochen später wieder bei ihr abzuholen.

Oakley Gardens und die fürsorgliche Liebe meiner Großmutter, mit der sie mich bei meinen Besuchen umhüllte, waren wie eine Oase des Friedens und der Ruhe für mich. Ich liebte es, durch die Zimmer und Korridore des alten Hauses zu schlendern, die historischen Möbel und Gemälde zu untersuchen, jeden Winkel zu inspizieren. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie es früher dort ausgesehen hatte. Wie die Menschen vor hundert Jahren gekleidet gewesen waren, wie sie gelebt hatten. Das Eintauchen in die Vergangenheit war nur ein Spiel für mich gewesen – bis zu diesem verhängnisvollen Nachmittag.

Morgens hatte bereits drückende Schwüle geherrscht. Die Hitze hatte sich über Tage angestaut, und in jedem Zimmer liefen die Ventilatoren unter der Decke auf Hochtouren, ohne wirklich lindernde Kühlung zu verschaffen.

»Ich fühle mich etwas matt«, sagte Großmutter beim Essen. »Wenn wir den Tisch abgeräumt haben, werde ich mich ein wenig hinlegen.«

Noch während wir aßen, zog sich draußen der Himmel zu, ein Wind erhob sich, der durch die Bäume rauschte und im Haus die Türen klappen ließ. Kurz darauf blitzte und donnerte es gewaltig. Der Regen prasselte los, als hätte Gott im Himmel alle Schleusen geöffnet, und wenn es in South Carolina regnet, dann wie aus Kübeln und manchmal tagelang. Granny schloss die Fenster und suchte mir Papier und Stifte heraus. »Abby, fürchtest du dich vor dem Gewitter?«

Ich schüttelte den Kopf, denn ich fühlte mich sicher und geborgen im Haus.

»Wenn du Langeweile bekommst, weck mich auf.« Daraufhin küsste sie mich auf den Kopf, legte sich auf ihre Couch im Wohnzimmer, und während draußen das Gewitter weitertobte, der Regen unablässig auf das Verandadach trommelte, war sie rasch eingeschlummert. Bald verspürte ich keine Lust mehr, zu malen, aber ich hatte nicht vor, Großmutter zu wecken. Ich wusste, dass sie alt war und ihren Schlaf brauchte. Außerdem hatte ich mich schon immer selbst beschäftigen können.

Mir fiel der Dachboden ein, auf dem ich bisher nicht gewesen war, von dem mir Granny hin und wieder Spielsachen meiner Mutter oder aus ihrer eigenen Kindheit holte, wie den alten Puppenwagen samt Puppen, den sie mir letztes Jahr ins Zimmer gestellt hatte. Was wartete dort noch alles darauf, von mir entdeckt zu werden? Ohne weiteres Zögern schritt ich zur Treppe, legte meine Hand auf das Geländer und erklomm die Stufen, bis ich ganz oben anlangte.

Einen winzigen Augenblick fürchtete ich, die Tür könnte abgeschlossen sein, aber sie ließ sich problemlos aufziehen.

Dunkel war es hier oben. Warm und stickig drang die Luft aus der Tür, es roch nach Staub und Spinnweben. Ich drückte auf den Lichtschalter, aber der größte Teil des Speichers blieb im Schatten. Im Dämmerlicht machte ich mit Tüchern behängte Möbel und Kartons aus, sowie einen Standspiegel mit Goldrahmen, eine altmodische Maschine und nostalgische Spielsachen. Sofort erregte ein Holzschaukelpferd mein Interesse. Ihm war ein Sattel aufgemalt, es besaß eine geschnitzte Mähne sowie einen richtigen Schweif aus Haaren, der etwas dünn und zerzaust aussah. An vielen Stellen war die Farbe vom Holz abgeplatzt. Mit einem Zipfel meines T-Shirts wischte ich den Staub vom Rücken des Pferdes, setzte mich darauf und nahm die steifen Lederzügel in die Hand. Die Größe des Pferds passte perfekt zu meiner, die Dielen knarrten unter den Kufen, als ich zu reiten begann.

Ob Granny als Kind auf ihm gesessen hatte? Warum hatte sie mir das Schaukelpferd nicht gezeigt? Vielleicht war ihr das Spielzeug zu schwer gewesen, um es die Treppe hinunterzutragen. Ich versank in meinem Ritt, rutschte immer schneller und heftiger mit dem Pferd über den Boden.

Mit einem Mal legte sich Kälte über mich. Eine Gänsehaut breitete sich über meinen Körper aus. Gleichzeitig erfasste mich ein seltsames Schwindelgefühl, mein Herz galoppierte, ich rang nach Atem. Der Raum um mich herum flimmerte, dann wurde mir schwarz vor Augen. Besser gesagt sah ich nichts mehr, nur Dunkelheit, und ein Brennen zog durch meine Hände, schoss mir in schmerzenden Hitzewellen die Arme hinauf, während die äußere Kälte mich weiter zittern ließ. Ich umklammerte die Zügel fester, presste die Augen zu, hatte schreckliche Angst. Spürend, dass sich etwas verändert hatte, öffnete ich die Lider … und erschrak. Ich war nicht mehr auf Grannys Dachboden, sondern in einem fremden Kinderzimmer! Auf einer dunklen Holzkommode saßen weißgesichtige Porzellanpuppen neben ordentlich aufgereihtem Spielzeug, und in der Mitte des Raumes stand das Schaukelpferd, auf dem ich saß. Es sah nur wesentlich neuer aus, die Farben glänzten. Wie war ich hierhergekommen?

Mein Herz raste weiter. Ich hatte das Gefühl, kaum atmen zu können. Nie war mir etwas Derartiges widerfahren, ich war vollkommen verwirrt. In diesem Moment schwang eine Tür auf, und ein Mädchen, etwa im selben Alter wie ich, hüpfte herein. Es trug ein weißes Kleid mit Rüschen, ein Lächeln im blassen Gesicht, und sein feuerrotes, dichtes Haar war am Hinterkopf mit einer Schleife zusammengebunden. Während das Mädchen durch das Zimmer tanzte und sich so rasch im Kreis drehte, dass seine Haare flogen, schien es etwas zu singen. Seine Lippen bewegten sich, aber kein Laut drang an mein Ohr. Das Ganze war wie ein Film ohne Ton. Wie gebannt beobachtete ich das fremde Kind, betrachtete seine schmalen, schwarzen Stiefel mit den vielen kleinen Knöpfen. Schneller und schneller wirbelte es auf ihnen im Kreis, es warf den Kopf in den Nacken und lachte, doch nach wie vor hörte ich nichts. Die Stille war in Anbetracht der Lebendigkeit der Szene gespenstisch. War ich taub geworden? Oder verrückt? Panisch rief ich dem Kind zu: »Hallo! Wer bist du?«

Kleine Eiswölkchen bildeten sich vor meinem Mund. Keine Reaktion. Das Mädchen schien mich weder zu hören noch zu sehen. Es spielte weiter, während mich erneut eine Welle der Kälte und Übelkeit überrollte, wesentlich heftiger als die erste, die mich aufschreien ließ. Das Zimmer drehte sich um mich, als säße ich auf einem außer Kontrolle geratenen Karussell. Meinen Fingern entglitten die Zügel. Nur am Rande nahm ich wahr, dass ich vom Schaukelpferd rutschte, während mein Magen zu zucken begann und mir das Mittagessen hochkam. Ich glaubte, mich ein weiteres Mal schreien zu hören, ehe alles um mich herum in Schwärze versank.

»Abby! Hörst du mich?« Wie aus weiter Ferne drang Großmutters Stimme in mein Bewusstsein. Ich spürte etwas Kühles auf der Stirn und tauchte gänzlich aus der Ohnmacht auf. Ein bitterer Geschmack füllte meinen Mund, der erneut Übelkeit hervorrief. Endlich schlug ich die Augen auf, schaute in Grannys Gesicht, das sich über mich beugte, vor Sorge zerknittert.

»Engelchen, was ist passiert?« Ich lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Sie saß neben mir und wendete soeben den kalten, feuchten Lappen auf meiner Stirn. Sie musste mich heruntergetragen haben.

»Granny«, krächzte ich matt. Nach wie vor hatte ich das Gefühl, ich läge in einem winzigen Boot in heftigem Seetreiben.

»Ich habe dich schreien gehört, aber du hast mir nicht geantwortet, als ich dich rief. Endlich fand ich dich auf dem Speicher. Auf dem Boden, nicht ansprechbar, und du hast dich übergeben. Ich werde Dr. Henderly anrufen.«

Großmutter war im Begriff, aufzustehen, aber ich umklammerte ihre Hand. »Nein, es geht schon wieder. Bleib, bitte.«

Sie sollte bei mir sitzen und meine Hand halten. Ihre Nähe war tröstlich und beruhigend.

»Bitte, ich bin okay«, bekräftigte ich erneut, als ich ihren sorgenvollen Blick sah.

»Nun gut«, gab Granny nach. »Aber wenn das Fieber nicht sinkt und du ein weiteres Mal spuckst, rufe ich sofort den Doktor.«

Sie strich mir mit den Fingern über die Wange, ehe sie seufzte. Mich beschäftigte, was mir dort oben auf dem Dachboden – in diesem seltsamen Kinderzimmer – geschehen war. Ich versuchte mich genau zu erinnern. Oder war es nur ein Traum gewesen? Aber warum hatte ich mich dann so furchtbar elend gefühlt, war jetzt immer noch ganz schwach? Gerade öffnete ich meinen Mund, um Granny von dem rothaarigen Mädchen zu erzählen, als das Telefon schrillte. Sie erhob sich und eilte zum schwarzen Apparat an der Wand, der, wie alles im Haus, recht antiquiert war. Es waren meine Eltern, die anriefen. Während Großmutter ihnen von meinem Unwohlsein erzählte, kurz umriss, wie sie mich aufgefunden hatte, hörte ich, wie sie mit den Tränen kämpfte. Da erst wurde mir bewusst, wie sehr ich sie erschreckt hatte. Nein, auf keinen Fall wollte ich, dass sie sich Sorgen machte. Schon gar nicht meinetwegen. Daher beschloss ich, sie nicht weiter aufzuregen, und schwieg über das beunruhigende Erlebnis.

Einige Tage später wachte ich frühmorgens auf und lauschte dem Gesang der Vögel. Ihre Stimmen, mit denen sie den neuen Tag begrüßten, harmonierten perfekt, nur einer stieß immer wieder einen langen, klagenden Ruf aus. Ich schwang die Beine aus dem Bett und trat an mein Zimmerfenster. Das rosige Stückchen Horizont, das ich zwischen den Nachbarhäusern erspähte, zeigte mir, dass es kurz vor Sonnenaufgang war. Es war zu früh zum Aufstehen, aber ich tappte hinaus auf den dunklen Flur, öffnete die Tür zu Grannys Schlafzimmer und bemerkte, dass sie noch schlief. Das Morgenlicht beschien ihr Gesicht, sie sah entspannt aus, und ihr langes, weißes Haar auf dem Kissen ließ sie einen Augenblick wie ein junges Mädchen erscheinen. In diesem Moment wurde mir zum ersten Mal bewusst, dass meine alte Granny früher eine schöne Frau gewesen war.

Als ich das Zimmer wieder verlassen wollte, sah ich in der Ecke etwas aufblitzen. Das weckte mein Interesse, und ich trat an den antiken Frisiertisch. Dort lagen drei glänzende Gegenstände nebeneinander, sie schienen aus Silber zu sein und wirkten so edel, als ob sie einer Prinzessin gehörten: ein Kamm, ein Handspiegel und eine Haarbürste. Dass ich die nicht früher entdeckt habe, dachte ich, griff nach der Bürste und strich mit den Fingern über die weichen Borsten. Dieses Mal überwältigte es mich schneller und heftiger. Mein Körper verkrampfte sich durch die plötzlich auftretende Kälte. Es verschlug mir den Atem, das Herzrasen setzte ein. Die Übelkeit und das Schwindelgefühl, die dem Frieren auf dem Fuß folgten, ließen mich hilflos auf die Knie sinken. Ich versuchte, langsam ein- und auszuatmen, aber die Panik erfasste mich, sodass ich die Luft sogar anhielt, bis sie zischend meiner Lunge entwich.

Meine Hand umklammerte die Haarbürste, auf keinen Fall wollte ich sie fallen lassen und beschädigen. Wieder vollzog sich das Flimmern vor meinen Augen, tauchte den Raum in ein unwirkliches Licht, und ein weiteres Mal fiel ich in das dichte, schwarze Nichts, das ich schon vom Dachboden kannte. Ich stöhnte leise, als die Schmerzen in meinen Händen einsetzten, sich wie ein Brand in mir ausbreiteten, bis mein Inneres in Flammen zu stehen schien, während mich die äußerliche Kälte zittern ließ. Ich hatte schreckliche Angst vor dem, was da mit mir passierte. Gerade, als ich nach Granny rufen wollte, entstand wieder eine Szene vor meinen Augen, wie ein Foto, das sich in Entwicklerflüssigkeit materialisierte, und aus meinem Mund stahl sich nur ein Krächzen.

Ich war am gleichen Ort, in Grannys Schlafzimmer, aber es sah verändert aus: Das Himmelbett stand am selben Platz, doch niemand lag darin, fremde Bilder hingen an der Wand. Die Vorhänge und die Tapete zeigten ein anderes Muster. Da öffnete sich die Tür, die zu Grannys Badezimmer führte. Eine Frau in einer hochgeschlossenen Bluse und tailliertem Rock, der ihr bis zu den Füßen reichte, trat herein. Ihr Gesicht zeigte einen grimmigen Ausdruck, eiserne Strenge ging von ihr aus, die von ihrer geraden Haltung unterstrichen wurde. Hinter ihr sprangen zwei Mädchen in langen, weißen Nachthemden in das Zimmer. Ihre Haare fielen ihnen über die Rücken, sie schienen herumzualbern, und in dem einen erkannte ich das rothaarige, wilde Mädchen wieder, das ich bereits gesehen hatte.

Das andere Kind war ein wenig jünger, und sein Haar hatte die Farbe von Kastanien. Die Frau wandte sich zu den beiden um, sprach zu ihnen. Obwohl ich keinen Ton hörte, ahnte ich, dass sie die Mädchen ermahnte, und augenblicklich standen sie still mit ernsten Gesichtern.

Mit einer Handbewegung gebot die Frau dem älteren Kind, sich auf den Stuhl vor den Frisiertisch zu setzen, griff nach dem silbernen Kamm und der Haarbürste, die ich gerade in der Hand hielt. Abwechselnd zog sie Kamm und Bürste mit festen, stetigen Strichen durch das lange Feuerhaar. Im Spiegel sah mir das blasse Gesicht des Mädchens entgegen. An seinem zuckenden Mund und dem gleichzeitigen Kneifen der Augen erkannte ich, dass die unsanfte Kämmprozedur heftig ziepte, als sich plötzlich unsere Blicke verbanden.

»Hey«, sagte ich, hob eine Hand und nahm wahr, dass sich die Augen des Mädchens einen winzigen Moment weiteten, ihr Mund sich öffnete … So, als hätte sie mich gesehen! Mir wurde kalt, in mir zog sich alles zusammen, als lägen Eiswürfel in meinem Bauch. Auch um mich herum sank die Temperatur. Mein Atem bildete frostige Wölkchen.

»Siehst du mich?«, wiederholte ich aufgeregt, ehe wieder genau das passierte, was das letzte Mal geschehen war: Mein Magen stülpte sich von innen nach außen, das Zimmer wirbelte um mich, sodass ich Orientierung und Gleichgewicht verlor und stürzte. Den Aufprall spürte ich nicht mehr, zuvor war ich bewusstlos geworden.

Dieses Mal musste ich länger ohnmächtig gewesen sein, denn als ich erwachte, vernahm ich nicht nur Grannys Stimme, sondern auch die eines Mannes. Sie unterhielten sich in meiner Nähe. Mir war nach wie vor so elend, dass ich mehrfach schluckte, die Augen geschlossen hielt.

Ich zwang mich, sie zu öffnen, und sah Granny mit Dr. Henderly, ihrem langjährigen Arzt und Freund, auf dem Flur vor meinem Zimmer stehen. Ich selbst lag – trotz der Wärme – zugedeckt im Bett. Mein erster Impuls war, nach Granny zu rufen, doch ich blieb still, als ich bemerkte, dass sie gerade mit gedämpften Stimmen über mich sprachen. Meine Neugier siegte über mein Verlangen nach Trost. Rasch klappte ich die Augen wieder zu und stellte mich schlafend.

»Es ist jetzt das zweite Mal passiert, sie übergibt sich und wird ohnmächtig. Was hat sie nur?«

Großmutter unterdrückte ein Aufschluchzen, das hörte ich. Dr. Henderly antwortete mit tröstender Stimme: »Sie hat vielleicht eine Sommergrippe, nicht ungewöhnlich. Geht im Moment um. Dazu passt nur nicht, dass sie sich ein paar Tage wieder gesund fühlt, bevor sie erneut die Symptome zeigt.«

Der Arzt räusperte sich, schien zu überlegen, was er weiter sagen sollte, aber Granny war es, die als Nächste sprach. »Das erinnert mich an damals … An Elizabeth … Bei ihr war es genauso.«

Als ich meine Lider ein klein wenig hob, sah ich, dass der weißhaarige Dr. Henderly ihr kurz den Rücken tätschelte.

»Mach dich nicht verrückt, Mathilda. Die Kleine hat sich zweimal übergeben und ist ohnmächtig geworden. Das wird schon wieder.« Allerdings wirkte er nicht gänzlich überzeugt von seinen Worten, das spürte ich.

Granny schien es ebenfalls bemerkt zu haben, denn sie flüsterte erregt: »Wenn es nicht besser wird, muss ich sie zurück nach Detroit schicken, dann kann sie nicht hierbleiben.«

Dieser Satz erschreckte mich derartig, dass ich mich verschluckte und zu husten begann. Sofort eilten die beiden an mein Bett. »Liebling, wie geht es dir?«

Grannys Augen waren groß vor Angst und Sorge. Ich sah, dass ihre Hand ein wenig zitterte, als sie nach meiner griff und sie fest umschloss. »Bitte schick mich nicht nach Hause«, flüsterte ich mit gepresster Stimme und versuchte, die aufkommenden Tränen wegzublinzeln.

»Nein, ich möchte dich nicht nach Hause schicken, keinesfalls, aber irgendetwas hier macht dich krank.«

Sie verstummte, blickte hilfesuchend den Arzt an, der sich erneut räusperte, ehe er sich über mich beugte. Er legte mir prüfend seine Finger auf die Stirn, hob kurz meine Augenlider an.

»Öffne bitte deinen Mund.« Gehorsam folgte ich seiner Anweisung, und er bewegte seinen Kopf hin und her, während er mir in Mundhöhle und Rachen spähte.

»Keine Auffälligkeiten zu sehen. Gib ihr viel zu trinken«, sagte er dann zu meiner Großmutter und fuhr, während er seine klugen Augen wieder auf mich richtete, in etwas strengerem Ton fort: »Ich verordne Bettruhe. Du stromerst nicht mehr allein durch das Haus. Stell dir vor, du wirst auf der Treppe ohnmächtig, was …« Er unterbrach seinen Vortrag, weil Granny ihn anfunkelte, nachdem sie ihn unauffällig an den Arm gestupst hatte. Doch ich hatte es gesehen.

»Ruh dich ein wenig aus. Es ist nur ein leichter Infekt«, sagte der Doktor etwas sanfter und griff nach seiner Tasche. Dann wandte er sich an Granny. »Wenn sich ihr Zustand dennoch verschlechtern sollte, ruf mich an. Zu jeder Zeit.«

Damit küsste er meine Großmutter freundschaftlich auf die Wange, ehe er das Zimmer verließ. Sie atmete tief durch und setzte sich neben mich.

»Ach, Schätzchen. Was soll ich nur tun?«

Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen als zu mir. In mir brodelte das Bedürfnis, ihr von den ›seltsamen Filmen‹ zu erzählen, die ich gesehen hatte, bevor ich ohnmächtig geworden war. Ohne nachzudenken, sprudelte ich los, berichtete ich ihr von meinem Ritt auf dem Schaukelpferd. Was daraufhin passiert war und von dem rothaarigen Mädchen. Granny lauschte meinen Worten, ohne mich zu unterbrechen, doch die Besorgnis in ihrem Gesicht wurde immer größer, die Falten auf ihrer Stirn und zwischen ihren Brauen vertieften sich. Als ich ihr von der zweiten Szene mit der Haarbürste, der Frau und den beiden Mädchen erzählte, schlug sie sich die Hand vor den Mund, die Augen geweitet, und ich verstummte.

»Du hast es auch! Wie Elizabeth. Ach, Kind.«

Ihre Stimme war nur ein Wispern. Sie presste die Lippen zusammen, versuchte, Haltung zu wahren. Sie tat mir furchtbar leid, aber ich musste nachbohren, sie schien Bescheid zu wissen.

»Was habe ich? Und wer ist Elizabeth?«

Ihr Gesichtsausdruck verriet Trauer. Widerstreitende Gefühle kämpften in ihr.

Wie um Zeit zu gewinnen, zog sie ein Taschentuch aus ihrem Kleid, schnäuzte sich dezent und zerknüllte es in ihrem Schoß, ehe sie leise antwortete. »Wir beide haben uns versprochen, uns immer die Wahrheit zu sagen, auch wenn es nicht einfach ist. Was ich dir gleich erzähle, wird dich vermutlich erschrecken. Vielleicht wirst du es nicht sofort verstehen …«

Sie zögerte einen Moment, ehe sie fortfuhr: »Die Räume und die Menschen, die du sahst, gibt – oder gab – es wirklich, hier im Haus. Du hast gesehen, wie sie früher, vor vielen Jahren, ausgesehen haben, als ich ein Kind war. Das Mädchen mit dem ›Feuerhaar‹, wie du sagst, war meine ältere Schwester Elizabeth. Ein Wildfang, wie du bereits erkannt hast. Die strenge Frau war unsere Mutter Abigail, nach der deine Mom dich benannt hat. Und das jüngere, etwas stillere Mädchen – das war ich.«

Wieder hielt sie inne, übermannt von ihren Gefühlen. Eine einzelne Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel und bahnte sich einen Weg über ihre Wange. Ich war komplett verwirrt.

»Es tut mir so leid, ich will dich nicht traurig machen. Aber warum sehe ich das alles? Habe ich … Ist es eine schlimme Krankheit?«

Ich fürchtete mich vor ihrer Antwort, denn derart aufgelöst hatte sich meine Großmutter mir nie gezeigt.

»Nein. Es ist keine Krankheit. Jedenfalls heutzutage nicht mehr. Es gibt nur äußerst wenige Menschen auf der Welt, die in die Vergangenheit sehen können, wenn sie bestimmte Gegenstände berühren. Ich vermute, sie vermögen es eher mit alten Dingen. Deshalb meine Sorge. Du bist daheim in eurem modernen Haus garantiert besser aufgehoben als hier in meinem Museum.«

»Fang nicht schon wieder damit an! Ich bleibe bei dir, die ganzen Ferien, wie abgemacht!«

Ein Anflug von Panik schwang in meiner Stimme mit. Granny hob die Hände, stieß dabei einen beschwichtigenden Laut aus.

»Beruhige dich. Ich schicke dich nicht fort, wenn du nicht willst. Aber lass mich bitte zu Ende sprechen. Ich weiß das alles nur, weil meine Schwester dasselbe erlebte wie du. Auch sie fiel in Ohnmacht, klagte zuvor über Schmerzen und Übelkeit. Sie erzählte die seltsamsten Dinge über Orte und Menschen, die sie gesehen hatte. Nur glaubte ihr keiner. Sie schimpften mit ihr, weil sie dachten, sie hätte zu viel Fantasie und wolle sich nur wichtigmachen.«

Granny atmete leise durch, als sähe sie die vergangenen Geschehnisse erneut vor ihrem inneren Auge.

»Sie nannten sie ungehorsam und bestraften sie streng. Als es einmal besonders schlimm war und Elizabeth schrie und sich am ganzen Körper rieb, weil er brannte, rief unser Vater den Arzt, der verschrieb ihr Morphium, ein starkes Schmerz- und Beruhigungsmittel, das sie fast den ganzen Tag vor sich hindämmern ließ. Elizabeth hasste es, betäubt zu werden, wie sie mir anvertraute. Darum erzählte sie niemandem mehr davon, wenn es ihr wieder passiert war – nur noch mir.«

Granny umklammerte ihre Kette, als wäre sie ein Anker, der sie daran hinderte, vollends in der Erinnerung zu versinken. Ich aber war sprachlos, und plötzlich packte mich Entsetzen.

»Ich will kein solches Morfi… wie auch immer. Ich will nicht den ganzen Tag schlafen!«

»Aber nein, keine Angst! Du musst kein Morphium nehmen. Früher wussten es die Menschen nur nicht besser.«

Als ob sie sich einen Ruck gäbe, straffte sie ihren Rücken. Ihre Augen strahlten wieder so liebevoll und zuversichtlich wie sonst, und ihre Stimme klang entschlossen.

»Ich rufe gleich einen Freund an. Wenn es passt, werden wir ihn morgen besuchen. Er wird dir helfen können, da bin ich mir sicher. Ganz ohne Medikamente, versprochen. Ich vertraue ihm.«

Sie drückte meine Hand und lächelte mir zu. »Aber jetzt lass uns von anderem sprechen. Hast du Appetit? Möchtest du etwas essen?«

Ich hatte so viele weitere Fragen, meine Neugier war längst nicht gestillt, doch kannte ich Granny gut genug, um zu wissen, dass sie im Moment nicht mehr darüber reden würde. Außerdem verspürte ich tatsächlich Hunger. Deshalb nickte ich zur Antwort.

»Ruh dich ein wenig aus, Spatz. Ich bereite uns rasch etwas zu. Bin gleich wieder bei dir.«

Und damit erhob sie sich, verließ das Zimmer, und ich blieb für eine Weile mit meinen verwirrten Gefühlen allein.

Plötzlich fielen mir frühere Erlebnisse ein, die ich damals für Einbildung gehalten und verdrängt hatte. Waren das die ersten Anzeichen gewesen? Hatten sie etwas mit meiner Krankheit zu tun? Nein, es war ja keine Krankheit, hatte Granny gesagt. Bereits in den letzten Ferien hier in der Villa hatte ich einmal ein kühles Prickeln in den Fingerspitzen verspürt, als ich mit ihnen über ein Ölgemälde gestrichen hatte. Erschrocken hatte ich die Hand zurückgezogen, erst sie, dann das Bild aus der Nähe betrachtet. Da war nichts Auffälliges gewesen. Neugierig geworden hatte ich meine Finger ein zweites Mal über das Bild gleiten lassen. Doch bei dieser Berührung war nichts passiert, und ich hatte es wieder vergessen.

Dasselbe Ziehen und Kribbeln hatte ich empfunden, als ich Granny auf ihre Bitte hin ihre alten Perlenohrringe aus der Schmuckschale geholt hatte. Ich hatte die Ohrringe in der Hand gehalten, war mit ihnen über den Flur und die Treppe hinabgelaufen. Das heißkalte Prickeln war mit jeder Sekunde stärker geworden, ich hatte es fast wie kleine Stromstöße empfunden, sodass ich die letzten Stufen hinuntergesprungen und in die Küche gerannt war, um den Schmuck rasch loszuwerden. Ich erinnerte mich an weitere, ähnliche Erlebnisse mit Gegenständen, und nicht nur in Oakley Gardens waren sie geschehen. Da gab es einen Vorfall in meinem letzten Jahr an der Grundschule. Wie hatte ich auch den vergessen können?

Unsere Lehrerin, Mrs. Goodall, hatte ein altes, abgegriffenes Buch mitgebracht. Der kleine Lord von Frances Hodgson Burnett. Mit nahezu feierlichem Gesicht hatte sie uns das Bild auf dem Einband gezeigt.

»Dieses Buch hat meiner Großmutter gehört, danach meiner Mutter, und die schenkte es mir, als ich so alt war wie ihr«, hatte Mrs. Goodall gesagt. »Ich finde, es ist eine zeitlose, wunderbare Geschichte, die auch ihr kennen solltet, und daher darf jeden Tag einer von euch ein Stück daraus vorlesen. Wer möchte beginnen?«

Die Finger aller sicheren Leser, auch meiner, waren in die Höhe geschossen. Und sie hatte wirklich mich aufgerufen. Ich war zu ihr vor die Klasse getreten, und sie hatte mir das Buch mit den Worten »Sei bitte vorsichtig damit« überreicht. Ich hatte die erste Seite aufgeschlagen und begonnen, vorzutragen, als meine Stimme zu zittern begann, ich mich nicht mehr auf die Worte vor meinen Augen konzentrieren konnte. Denn erst hatte es sich angefühlt, als ob winzige Insekten durch meine Finger krabbelten, dann war das Buch mit einem Schlag eiskalt geworden, als wäre es mit Raureif überzogen. Ich hatte es fallen gelassen und die Hände erschreckt über mein Tun vor den Mund geschlagen. Mrs. Goodall tadelte mich streng, trotz meiner hervorgestammelten Entschuldigungen, und ich durfte kein weiteres Mal aus Der kleine Lord vorlesen.

Mittlerweile, bei den letzten Vorkommnissen, hatte ich nicht nur etwas Unerklärliches gespürt, sondern zusätzlich auch Dinge gesehen, die früher passiert waren. Was geschah da nur mit mir? Es ängstigte mich, und ich beruhigte mich erst etwas, als Granny mit zwei dampfenden Tellern zu mir zurückkehrte.


2

Carl Jones

 

 

Am nächsten Morgen wirkte Granny ungewohnt rastlos. Ihre Bewegungen waren fahrig, sie zwitscherte ununterbrochen Belangloses vor sich hin, und ich bemerkte, obwohl ich ein Kind war, dass sie nicht nur mich, sondern vor allem sich selbst damit zu beruhigen versuchte.

Hinter ihrem Lächeln sah ich ihre Anspannung. Und auch ich wurde immer aufgeregter, je näher der verabredete Termin mit dem Mann rückte, den Granny am Abend zuvor angerufen hatte.

Während der Autofahrt erzählte sie mir, dass er Carl heiße, blind sei und sie ihn seit Jahren kenne. Mehrmals betonte sie, dass er ein ›reizender Mann‹ wäre und ich ihm vertrauen könnte, dennoch war mir ein wenig mulmig zumute.

Granny parkte den Wagen vor einem Haus in einem recht heruntergekommenen Viertel der Stadt. Am Ende der Straße konnte ich den Hafen, den Port of Charleston, erkennen, ein salziger Geschmack lag in der Luft.

Vor den Nachbarhäusern sah ich einige Afroamerikaner auf ihren Treppenstufen oder auf Stühlen sitzen. Sie beäugten uns, wie ich fand, etwas misstrauisch, als wir das quietschende Tor aufzogen und Carls Grundstück betraten. Granny ließ sich von den Blicken nicht beirren, grüßte freundlich in Richtung der Nachbarn, während sie mit geradem Rücken wie immer auf die Haustür zulief, vor der eine Fliegengittertür angebracht war. Als sie geläutet hatte, lächelte sie mir aufmunternd zu und drückte meine Schulter.

Erst nach einer kleinen Weile – in der ich schon längst ein zweites Mal geklingelt hätte, aber nicht meine Großmutter – hörten wir endlich schlappende Schritte auf die Tür zukommen. Eine beleibte Schwarze mit straff auf dem Kopf geflochtenem Haar öffnete und stand, uns mit unbewegtem Gesicht musternd, im Türrahmen. Ihre Augen wirkten wie schwarze Kiesel. Granny begrüßte die Frau, aber die erwiderte nichts, ihre Züge blieben weiter ausdruckslos wie die einer Statue. Dann winkte sie uns, ihr zu folgen, und schlurfte uns voraus durch einen düsteren Korridor, wobei ihre Flipflops bei jedem Schritt auf die Fliesen klatschten. Vor der Hintertür blieb sie stehen, vollführte eine wedelnde Geste in deren Richtung, ehe sie in einem Nebenzimmer verschwand, wo ein Fernseher in höherer Lautstärke lief.

Wir betraten einen Innenhof, in den nur wenig Sonnenlicht fiel. In seiner Mitte stand einzig ein Plastiktisch, von drei Stühlen umringt. Auf einem davon saß ein schmächtiger Afroamerikaner. Er schien alt zu sein, denn sein krauses Haar hatte die Farbe von Stahlwolle. Entspannt zurückgelehnt hielt er sein Gesicht mit geschlossenen Augen in die spärlichen Sonnenstrahlen, die nackten Füße von sich gestreckt. Ein Lächeln trat auf seine Lippen, als Granny auf ihn zuging und ihn begrüßte.

»Guten Morgen, Carl! Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Danke, dass Sie so schnell Zeit für uns haben!«

Carl lachte ein heiseres Altmännerlachen, erhob sich von seinem Stuhl und streckte ihr beide Hände entgegen, die sie ergriff.

»Ich habe zu danken, Missus. Es ist schön, Besuch zu bekommen, wenn man so ein alter Kauz ist wie ich, schön ist das! Sie wissen ja, wie meine Tochter mich abschirmt. Bewacht mich, als wäre ich das Gold von Fort Knox.«

Diesen letzten Satz sollte ich erst später verstehen. Wieder kicherte er. Dann öffnete er seine Augen, und ich sog scharf den Atem ein, wich einen Schritt von ihm zurück. Sein linkes Auge war milchig weiß, das andere bräunlich-grau mit Schlieren, es sah unheimlich aus. Ich erinnerte mich, dass Granny mir von der Blindheit des Mannes erzählt hatte, schämte mich für mein Erschrecken und hoffte, dass er es nicht bemerkt hatte.

»Wo ist die kleine Wanderer? Komm her zum alten Carl, lass dich anschauen!«

Er schien oft in sich hineinzukichern, es klang ein bisschen wie ein Gackern, jetzt tat er es schon wieder. Dabei wackelte sein Kopf hin und her. Ich hatte nie jemanden getroffen wie ihn, er besaß eine merkwürdige Art. Als ich auf seine Bitte nicht reagierte, warf mir Granny einen auffordernden Blick zu, sodass ich endlich neben sie vor den alten Mann trat.

»Mein Name ist Abigail, nicht Wanderer. Meine Großmutter hat gesagt, Sie sind blind. Wie können Sie mich da angucken?«

»Abby!«, zischte Granny tadelnd, doch Carl klopfte sich auf die Schenkel und lachte herzlich.

»Das ist gut, ja, das ist gut! Nun, kleine Abigail, ich bin wirklich blind, wie man unschwer erkennen kann. Aber es gibt andere Sinne, einen Menschen zu betrachten. Und – Wanderer – ob du vielleicht eine bist, deshalb bist du hier.«

Er drehte den Kopf in Richtung des halb geöffneten Fensters, aus dem das Geräusch des Fernsehers tönte. Seine Stimme klang mit einem Mal erstaunlich volltönend für den schmalen Brustkorb. »Tanya! Sei so gut, bring uns Tee und Cookies.«

Dann wandte er sich wieder an uns. »Kommt, setzt euch, setzt euch. Wir wollen uns erst einmal stärken.«

Wenige Minuten später trat die Frau, die uns eingelassen hatte, mit einem Tablett heraus. Für ihre Körperfülle balancierte sie es äußerst geschickt durch die schmale Hintertür, stellte es dann auf dem Tisch ab. Ihr Gesicht war genauso gelangweilt wie zuvor.

»Danke, Tanya«, rief Carl ihr hinterher, als sie sofort wieder im Haus verschwand. Während er uns den selbstgemachten Tee aus einer Glaskaraffe einschenkte, in dem Eiswürfel und Pfefferminzblätter schwammen, bewunderte ich sein Geschick.

Trotz seiner Blindheit ging kein Tropfen daneben. Nachdem er die Gläser gefüllt hatte, bot er uns riesige Kekse aus einer Schale an.

»Die hat meine Tochter gebacken. Tanya macht die besten Cookies der Straße.«

Ich war überrascht, hätte nicht gedacht, dass dieser wortkarge Berg von Frau die Tochter des redseligen Carls mit den vielen Lachfalten wäre. Beherzt griff ich zu und biss in einen Keks. Carl hatte nicht zu viel versprochen, es war wahrhaftig eine butterig-süße Geschmacksexplosion in meinem Mund, die Schokoladenstückchen schmolzen auf der Zunge. Carl und Granny unterhielten sich, tauschten Neuigkeiten aus, wobei sie mich in ihre Unterhaltung mit einbanden. Sie schienen sich länger nicht getroffen zu haben, das entnahm ich ihrem Gespräch. Nach einer Weile hatte ich keine Scheu mehr vor dem alten Mann. Nein, ich hatte ihn in der kurzen Zeit, die wir uns nun kannten, als durchweg freundlich erlebt.

Daher fragte ich ihn mit der interessierten Unverblümtheit eines Kindes: »Waren deine Augen schon immer kaputt?«

Carl schien es nicht unhöflich zu finden. »Nein, mein Augenlicht verschlechterte sich in meiner Jugend immer mehr, bis ich gar nichts mehr sah. Es ist eine Erbkrankheit mütterlicherseits. Meine Eltern hofften, es möge keines ihrer sechs Kinder treffen, ja, sie hofften. Später waren sie dankbar, dass nur ich die Krankheit bekommen hatte.«

»Und wann ist es dir passiert, dass du Vergangenes gesehen hast?«

»Ich war ein wenig älter als du beim ersten Mal, fast ein Jugendlicher«, antwortete er und mümmelte versonnen an einem der großen Kekse. Es wirkte fast so, als imitierte er ein Kaninchen, und er ließ sich Zeit, mit dem Erzählen fortzufahren.

»Wie hast du es gemerkt? Was war passiert?«, fragte ich daher ungeduldig.

»Abby, lass Carl doch bitte erst aufessen«, wandte Granny ein.

»Nein, nein, ich versteh‘, dass sie neugierig ist, das versteh‘ ich.« Rasch spülte er den Rest des Cookies mit einem Schluck Eistee hinunter.

»Nun, ich war ein Junge von vierzehn Jahren, als ich das erste Mal in die Vergangenheit sehen konnte«, sagte er dann. »Ich half meinem Vater, Waren auszuliefern. Er arbeitete damals in einem kleinen Gemischtwarenladen. Wir bepackten den Lieferwagen mit den Bestellungen, fuhren unsere Runde ab, wie jeden Tag. Vater hielt vor den Häusern, und ich sprang aus dem Auto, nahm die Tüten von der Ladefläche und brachte sie den Kunden, die mir an der Haustür das Geld gaben. Als ich bei Mrs. Anderson, einer alten Lady, läutete, öffnete diese, auf einen Gehstock gestützt. Ich überreichte ihr die Bestellung. Dabei rutschte ihr der Stock weg. Ich bückte mich und hob ihn auf. Da passierte es.«

Ich beugte mich ein wenig vor, als er innehielt, hatte gebannt gelauscht, jetzt wurde es spannend. Aber Carl schwieg, schien zu überlegen.

»Was geschah dann?«, drängte ich.

Granny berührte mich – neuerlich mahnend – am Arm. Sekunden verstrichen, ehe der alte Mann endlich fortfuhr.

»Es erging mir so ähnlich wie dir. Es überrollte mich. Die Vision, die ich hatte, war nicht schön, nein, war sie nicht.« Bedauern und etwas wie Abscheu stand in seinen Zügen, er schüttelte den Kopf. »Mit dem Stock war Gewalt verübt worden. Schlimme Gewalt. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Mir wurde furchtbar schlecht, kalt und heiß zugleich. Ich hatte Angst, bekam die schrecklichen Bilder nicht aus dem Kopf, übergab mich in die Hecke. Mein Vater und die Kundin waren außer sich. Gab Ärger. Kein schöner Nachmittag für mich, nein.«

Sein Gesichtsausdruck veränderte sich. Als ob eine luftige Brise die traurigen Erinnerungen fortwehte, kehrte sein sonniges Gemüt in seine Züge zurück.

»Zum Glück gab‘s meine Großmutter, welch ein Glück! Sie glaubte mir, verstand, was da mit mir passierte, und brachte mich zu einem Mann. Der half mir, so wie ich jetzt versuche, dir zu helfen.«

Ich dachte über seine Worte nach. Es gab noch viele weitere Fragen, doch Granny würde es nicht gutheißen, wenn ich Carl löcherte. Eine Sache interessierte mich jedoch brennend.

»Warum heißen Leute wie wir Wanderer

»Nun, genau weiß ich das nicht. Vielleicht, weil wir durch die Zeit wandern. Otis, der mich damals unterrichtete, hatte den Ausdruck benutzt.«

Später erklärte mir Granny, dass es eine seltene, faszinierende Gabe sei. Deshalb, so sagte sie, hielten Carl und die Tochter seine Fähigkeit geheim. Nur ausgewählte Menschen waren eingeweiht. Vor allem Tanya befürchtete, dass andernfalls ständig Leute, auch üble Personen, vor der Tür des alten Mannes stünden, ihn belagern und an den Rand der Erschöpfung bringen würden, um von seiner Gabe zu profitieren. Oder dass die Medien Wind von ihm bekommen könnten. Daher schützte Tanya ihren gutmütigen, auch etwas naiven Vater wie ein scharfer Wachhund.

Nachdem wir unseren Eistee ausgetrunken hatten, rief Carl wieder nach Tanya, die das Tablett abräumte, und bat mich, meinen Stuhl an seinen heranzuziehen, sodass wir Knie an Knie saßen.

»Darf ich dein Gesicht berühren?«, fragte er. Als ich bejahte, ließ er vorsichtig seine Finger über meine Züge gleiten, und ich begriff, dass er mich auf seine Art betrachtete. Es entlockte ihm ein Lächeln. Dann nahm er meine Hände, umschloss sie, und ich spürte, dass seine warm waren, trocken und rau wie feines Sandpapier. Er wies mich an, die Augen zu schließen, ruhig und gleichmäßig ein- und auszuatmen, was mir überraschenderweise recht schnell gelang, denn er atmete mit mir gemeinsam.

Nach kurzer Zeit fühlte ich eine angenehme Wärme in meine Hände fließen, die von dort über die Arme in meinen gesamten Körper zog.

Es war nicht die schreckliche Hitze, die so geschmerzt hatte, als ich die ›Filme‹ sah, nein, es war ein angenehmes Gefühl. Ich kam zur Ruhe, entspannte mich vollkommen.

Nach einer Weile erst ließ der alte Mann meine Hände los, sodass ich aus diesem dämmrigen Zustand erwachte, die Augen wieder öffnete und etwas verwirrt blinzelte. Er grinste mich breit an. Ich sah zwei Goldzähne in seinem Mund blitzen. »Du bist eine Wanderer, genau wie ich. Deine Großmutter hat mir gesagt, du hast es erst zweimal erfahren und dass es schlimm für dich war. Das ist nicht gut.«

Carl schüttelte bedauernd den Kopf, ehe er wieder lächelte. »Ich kann dir zeigen, wie du es steuerst und dich vor dem Unangenehmen schützt.«

Er brachte sein Gesicht so dicht vor meines, dass ich die winzigen, weißen Bartstoppeln, sogar die schwarzen Poren auf seiner Haut wahrnahm. Aber das war in Ordnung, denn inzwischen hatte ich keinerlei Angst mehr vor den weißen Augen oder vor ihm.

»Abigail, willst du es lernen? Möchtest du die Gabe in dir annehmen?«

Ich nickte nur, derartig hypnotisiert war ich von Carl und seiner Stimme, bis mir einfiel, dass er diese Zustimmung ja nicht sehen konnte. Doch auf welche Weise er meine Reaktion auch wahrgenommen hatte, er nickte ebenfalls. »Gut. Dann lass uns beginnen.«

Eine der ersten Lektionen, die ich lernte, war, niemals zu versuchen, Kontakt mit den Menschen der Vergangenheit aufzunehmen. Als er das sagte, erinnerte ich mich daran, dass ich zweimal in Ohnmacht gefallen war, weil ich genau dies getan hatte. Er zeigte mir ebenfalls, wie ich meine Konzentration erhöhen und dadurch intensiver das Vergangene erfahren konnte, um nicht nur zu sehen, sondern auch die anderen Sinne zu nutzen. Zudem erklärte er mir, dass nicht alle Gegenstände funktionierten. Die Dinge, die einen in die Vergangenheit brachten, waren zumeist alt oder oft berührt und benutzt worden, aber darauf sollte ich mich nicht verlassen. Daher war es so wichtig, dass Wanderer die Fähigkeit erlernten, den Schirm, eine Art gedankliche Barriere, zu bilden, um nicht unvorbereitet oder ungewollt in die Vergangenheit zu stürzen.

Ich war derartig fasziniert von dem alten Mann, der ein begnadeter Erzähler und Lehrer war, dass ich Grannys Anwesenheit nach einer Weile gar nicht mehr wahrnahm. Erst als sie mich ansprach, wandte ich mich ihr wieder zu.

»Ist es für dich in Ordnung, Liebes, wenn ich für eine Stunde gehe? Es gibt hier in der Nähe ein ausgesprochen gut sortiertes Teegeschäft. Da würde ich mich gerne einmal umsehen.« Sie lächelte. »Ihr kommt bestens ohne mich aus, oder?«

»Kein Problem. Ich bleibe bei Carl.«

Sie gab mir einen sachten Kuss auf den Kopf, nahm ihre Handtasche und verließ den Innenhof.

Die nächste halbe Stunde erklärte mir Carl, wie ich mit ›belasteten Dingen‹ umgehen musste, um nicht von deren Geschichte, den gespeicherten negativen Erinnerungen, überwältigt zu werden. Wie ich sie und mich unter Kontrolle halten konnte.

»Hast du alle Schritte verstanden?« Ich bejahte, wiederholte ihm zum Beweis, was ich mir eingeprägt hatte, worauf er anerkennend mit der Zunge schnalzte. »Sehr gut, Abby, sehr gut. Bin gleich zurück.«

Wieder bewegte er sich erstaunlich rasch und sicher durch die Tür und ins Haus. Nach kurzer Zeit kehrte er zurück, in einer Hand hielt er kleinere Gegenstände, mit der anderen tastete er nach dem Stuhl, auf den er sich sinken ließ. Dann legte er einen altmodischen Füllfederhalter, eine Haarschleife aus Samt und einen goldenen Siegelring auf den Tisch.

»Das sind Dinge, an denen du üben kannst. Probier aus, was du eben gelernt hast. Berühr zuerst den Ring.«

Ich betrachtete das Schmuckstück. Es sah alt aus, besaß einen dunkelroten, geschliffenen Stein sowie eine beachtliche Größe.

»Wem hat der Ring gehört?«, fragte ich.

»Meinem Großvater.«

»Was werde ich sehen, wenn ich ihn berühre? Etwas Schlimmes?«

Carl schüttelte den Kopf. »Nicht alles, was wir Erwachsenen ›belastend‹ nennen, ist wirklich furchtbar, ist es nicht. Das können Enttäuschungen sein, verpasste Chancen. Situationen, die einem Kind nicht halb so erschütternd erscheinen. Erwachsenenkram eben. Ich werd‘ dir nichts zeigen, was dich erschreckt. Nein, das tu‘ ich nicht.«

Er gab ein leises Glucksen von sich. »Ich mag diese Erinnerung, jep, ich mag sie. Aber ich werd‘ nix verraten. Du musst deine eigenen Erfahrungen machen. Denk an das, was ich erklärt habe. Wenn dir etwas, was du siehst, zu viel wird, dann …«

Er hielt inne. Das letzte Wort hatte er auffordernd betont. Ich verstand sofort, dass ich den Satz beenden sollte.

»Dann bilde ich den Schirm – die gedankliche Mauer – und ziehe mich zurück. Denke mich an den wohligen, warmen Ort, den ich mir ausgemalt habe, bis ich wieder im Hier und Jetzt bin.«

»Richtig.« Er wies auf den Ring.

Ich schwieg, kaute auf meiner Unterlippe. Im Nachbargarten hörte ich Leute lachen, die penetranten Stimmen der Fernseh-Talkshow dröhnten dagegen an. Ich versuchte, mich nicht ablenken zu lassen, die Geräusche wieder auszublenden. Mein Denken voll auf den Gegenstand vor mir zu konzentrieren. Aber ich traute mich nicht, den klobigen Siegelring anzufassen. Was, wenn Carl es nicht angemessen einschätzte? Wusste er wirklich, was mich ängstigte und was nicht? Würde ich in der Lage sein, das, was er mir erklärt hatte, umzusetzen, oder würde ich scheitern?

»Trau dich, kleine Wanderer, trau dich. Glaub an die Kraft in dir.«

Langsam bewegte ich die rechte Hand auf den Ring zu. Meine Fingerspitzen schwebten vor ihm über der Tischplatte.

»Ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben.«

Einmal tief durchatmend, was er mit einem stummen Lächeln quittierte, legte ich die Kuppen von Zeige- und Mittelfinger entschlossen auf das Schmuckstück.

Zuerst setzte das Flimmern ein, verstärkte sich, dann verschluckte mich die lautlose Dunkelheit. Wenn ich sie beschreiben sollte, würde ich sagen, es war die gedämpfte Schwärze in einem geschlossenen Wandschrank, in dem man sich beim Spielen versteckt. Ich versuchte, Gedanken und Willen allein auf den Ring zu richten, Atmung und Herzschlag auszublenden, wie Carl es mir erläutert hatte. Keine Übelkeit. Keine Schmerzen. Keine Hitze mit gleichzeitigem Frieren. Erleichterung stieg in mir auf. Allmählich kristallisierte sich die Umgebung aus der Finsternis heraus, bis das ›Bild‹ scharf war.

Ich war in einem kleinen Zimmer, allein, wie ich feststellte, als ich mich umblickte. Es schien ein Arbeitszimmer zu sein, denn ich stand neben einem Schreibtisch, an dem jemand gearbeitet hatte. Das zeigten mir die vielen Papiere, allesamt handgeschrieben in einer altmodischen Schrift, die Schreibutensilien, eine lederne Mappe. Eine Petroleumlampe warf ihr Licht auf die Unterlagen. Ich konnte das Datum auf einem Brief entziffern, 1867, sowie die Unterschrift, Joseph William Jones.

Wow, ich war weit in die Vergangenheit zurückgegangen!

Meine Konzentration erhöhend rief ich mir Carls Erklärungen ins Gedächtnis und schärfte meine Sinne. Es funktionierte! Als ob ich den Ton eines Radios lauter stellte, drangen Alltagsgeräusche von draußen herein, sodass ich ans Fenster trat und auf eine Straße hinabsah. Das Arbeitszimmer lag im ersten Stock. Zwei Frauen mit kunstvoll gekringelten Frisuren, schmal geschnürten Taillen und ausladenden Röcken flanierten den Bürgersteig entlang. Die eine lachte auf. Ein Mann in einem gestreiften Anzug kam ihnen entgegen, lüftete grüßend und mit einer angedeuteten Verbeugung seinen Hut vor den Damen, die den Gruß im Weitergehen mit einem Nicken erwiderten. Ein Zweispänner, auf dessen Kutschbock ein dicker Mann mit Backenbart und Zylinder saß, rumpelte vorüber, wirbelte kleine Staubwolken von der Straße auf.

Ein schleifender Laut in meinem Rücken ließ mich herumfahren. Unbemerkt von mir hatte ein bärtiger Afroamerikaner mittleren Alters das Zimmer betreten, schloss die Schublade des Schreibtisches und zog eine weitere auf. Er schien nach etwas zu suchen. Fündig geworden holte er eine kleine Schachtel hervor und ließ sich auf den Stuhl sinken. Sein Gesicht zeigte einen sorgenvollen Ausdruck. War das Carls Großvater?

Jetzt öffnete er das Kästchen und nahm etwas heraus, betrachtete es auf seiner Handfläche. Neugierig schob ich mich näher heran, neben den Schreibtisch, darauf vertrauend, dass der Mann mich weder sehen noch auf andere Art wahrnehmen konnte, wenn ich mich unauffällig verhielt. Dort auf seiner Hand lag der Ring mit dem roten Stein. Erneut öffnete sich die Tür, eine schwarze Frau, zierlich wie ein Mädchen, in einem schlichten, dunklen Kleid kam herein und trat neben den Mann.

»Joseph«, sagte sie leise. So viel schwang in diesem einen Wort mit. Zuneigung. Vertrautheit. Mitgefühl. Eine Aufforderung? Der Mann gab einen Laut des Unmuts von sich, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, wie um die Besorgnis darin wegzuwischen.

»Ich werde ihn verkaufen müssen. Wir sind so gut wie bankrott. Wenn ich die letzten Rechnungen nicht bezahle, kommen die Pfänder. Masterson, der Juwelier in der Forth Street, hat mir einen fairen Preis angeboten.«

»Ach, Liebster. Es tut mir so leid. Ich weiß, was er dir bedeutet.«

»Joseph Junior wird ihn nie tragen. Und das ist meine Schuld.«

»Nicht du bist schuld an der schlechten Wirtschaftslage, der Krieg ist erst zwei Jahre vorbei. Aber der Erlös wird dein Geschäft retten. Und unser Haus. Denke nur daran.«

Sie legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Ohne aufzublicken, umschloss er sie mit seiner.

»Alles wird gut werden«, sagte die Frau.

»Ich liebe dich, Estelle.« Er umfasste ihre schmale Gestalt mit beiden Armen, zog sie auf seinen Schoß und drückte sie fest an sich. Sie legte ihren Kopf an seine Schulter. Ich war so ergriffen und gerührt von dieser innigen Szene, dass mir unbewusst ein lautes Seufzen entfuhr. Sogleich hob der Mann den Kopf, als wäre er aufmerksam geworden, schien mich direkt anzublicken. Erschrocken taumelte ich einen Schritt zurück. Hatte er mich etwa gehört oder meine Anwesenheit bemerkt? Seine Augen tasteten den Raum ab, man sah ihm an, dass er zeitgleich angestrengt lauschte, während er weiter den Rücken der Frau streichelte. Mein Magen sank herab wie die Temperatur im Raum, mein Atem gefror, und mir wurde flau. Nein, nicht der Schwindel und die Übelkeit! Bitte nicht.

Rasch bildete ich den Schirm, zog mich selbst rückwärts aus der Szene zurück, als wäre ich eine Marionette, so wie Carl es mich gelehrt hatte. Die beiden Menschen, das Zimmer, verschwammen, während ich die Schwärze durchquerte und in Carls Hinterhof wieder auftauchte.

Sein freundliches Gesicht hatte eine beruhigende Wirkung. Sofort berichtete ich ihm, was ich gesehen und gehört hatte. Bis ich zu der Stelle kam, als ich das Gefühl hatte, der Mann hätte mich bemerkt.

Carl schnalzte mehrmals tadelnd mit der Zunge, hob seinen Zeigefinger. »Wie heißt Lektion eins?«

»Ich nehme keinerlei Kontakt auf zu den Leuten der Vergangenheit. Ich mache sie nicht auf mich aufmerksam.«

»Richtig. Nicht berühren, nicht ansprechen, rufen, lachen oder eben auch nicht seufzen oder niesen. Wenn die Menschen, die du besuchst, feine Antennen haben, spüren sie sonst deine Anwesenheit. Das darf nicht sein. Nein, darf es nicht.«

Ich war zerknirscht, weil ich diese einfache Lektion nicht eingehalten hatte, mir wieder unwohl geworden war. Auch wenn es glücklicherweise nicht in Erbrechen und Ohnmacht geendet hatte. Carl hingegen hatte mein Fehlverhalten wohl längst abgehakt, denn er wechselte das Thema. »Was hältst du von meinem Großvater?«

»Er schien ein netter Mann gewesen zu sein. Er und seine Frau haben sich geliebt.«

»Ja.« Carl grinste versonnen. »Aber meine Geschwister und ich hatten Angst vor ihm, denn uns gegenüber war er immer äußerst streng und ernst. Deshalb mag ich diese Erinnerung so, jep, ich mag sie. Sie zeigt mir seine liebevolle Seite.«

Ich überlegte. »Dein Großvater sprach davon, den Ring verkaufen zu müssen, und dass sein Sohn ihn nie tragen würde.« Carl nickte ahnungsvoll, und ich fuhr fort. »Aber wieso hast du ihn dann?« 

»Kluge Frage, kluges Kind«, lobte er. »Großvater musste den Ring doch nicht verkaufen. Er fand einen Partner, der Mitbesitzer des Geschäfts wurde und Geld hineinbutterte, eine Menge Geld. Ein Jahr später lief der Laden erfolgreich.«

Mich beschäftigte etwas anderes, was ich von Carl unbedingt erfahren wollte.

»Was passiert eigentlich mit mir hier, wenn ich in die Vergangenheit reise?«

Obwohl ich mich etwas ungenau ausgedrückt hatte, verstand er mich sofort.

»Nun, es kommt einem vor, als ob man minutenlang, manchmal sogar stundenlang fort ist von hier. Aber das stimmt nicht. Als du eben meinen Großvater besucht hast, warst du höchstens eine halbe Minute dort.«

»Und … wie bin ich dann … Wie sehe ich aus?«

Dumme Frage an einen Blinden, dachte ich sofort, aber Carl schmunzelte. »Bestimmt genauso hübsch. Als ob du mit offenen Augen träumst.«

Meine Verlegenheit über das Kompliment überspielend, fragte ich rasch weiter. »Sind es immer die gleichen Dinge, die man erlebt? Ich meine, siehst du dasselbe wie ich, wenn du den Ring berührst?«

Carl zwinkerte, wiegte den Kopf hin und her. »Mal so, mal so. Das, was du beschrieben hast, ist das Gleiche, was ich mit dem Ring erlebt habe. Ich hab‘ aber schon Dinge berührt, da sah ich beim zweiten oder dritten Mal was anderes.«

»Können wir beide zusammen reisen? Wenn wir gleichzeitig etwas berühren?«

»Nein. Das funktioniert nicht. Jeder von uns macht seine Erfahrungen allein.«

Er klopfte sich mit den Handflächen auf die Schenkel, wie um meine Fragerei zu beenden. »So, ein weiterer Ausflug?«

Ich überlegte, horchte in mich hinein. Ich fühlte mich gut. Das hatte Carl mir ebenfalls erklärt: ›Geh nur in die Vergangenheit, wenn du dich fit genug fühlst.‹ Ich sah auf die Haarschleife und den Füllfederhalter, die neben dem Ring in der Mitte des Tisches lagen.

»Was soll ich als Nächstes ausprobieren?«

Er spitzte den Mund, hob die Schultern und die Handflächen nach oben und ließ sie wieder sinken.

»Wonach dir ist.« Er lachte leise in sich hinein. »Beides aufregende Geschichten.«

Irgendwie sprach mich die Schleife aus schwarzem Samt an. Der Ring hatte einem Mann gehört. Das Haarband war garantiert von einem Mädchen. Was hatte es erlebt, was war ihm geschehen?

Carl bemerkte, wie sich meine Finger der Schleife näherten. 

»Greif nicht ein«, glaubte ich noch zu vernehmen, ehe die Umgebung und alle Geräusche um mich herum verblassten und ich in den Tunnel der vollkommenen Dunkelheit eintauchte.

Ich fand mich auf dem Gehweg einer Straße mit zweistöckigen Backsteinhäusern wieder. Die Autos, die am Straßenrand parkten, hatten seltsame Formen, manche eine Art Flosse am Heck. Sie erinnerten mich an die Wagen aus den Fernsehserien, die vor meiner Geburt gedreht worden waren und die Granny so gerne schaute. Mein Blick schweifte weiter. Es schien früher Herbst zu sein, der Himmel war grau, die wenigen Bäume, die ich sah, hatten bereits einiges Laub verloren, das sich stellenweise auf dem Bürgersteig häufte. Eine Windböe ließ die gelben Blätter auffliegen, sie wirbelten kreisförmig über das Pflaster oder verfolgten einander in ziellosem Wettlauf vor dem Schaufenster eines Friseurs. Hinter der Glasfront sah ich eine Dame sitzen, die in einer Zeitschrift blätterte, während ihr Kopf unter einer riesigen Trockenhaube steckte. Sie war die einzige Kundin. Vor dem Geschäft entdeckte ich einen silbernen Zeitungsautomaten und trat vor dessen Glasscheibe.

The Summerville Gazette hieß das Blatt, das mir praktischerweise nicht nur den Ort des Geschehens, sondern auch das genaue Datum verriet: Es war der fünfzehnte Oktober 1963. Der Name der Stadt kam mir bekannt vor. Ich erinnerte mich daran, dass Summerville nicht weit von Charleston lag, und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf die Umgebung.

Nur wenige Menschen waren auf der Straße unterwegs, es wirkte, als wäre es recht früh am Morgen. Drei Mädchen erschienen in meinem Blickfeld. Sie liefen in einem Grüppchen den Bürgersteig entlang, waren etwa im selben Alter wie ich, bekleidet mit Röcken in Bonbonfarben, die knapp über dem Knie endeten, und dazu passenden Strickjacken. Eines der Mädchen trug sein blondes Haar offen, ein Haarband hielt es ihm aus dem Gesicht. Die anderen beiden hatten sich mit großen Schleifen Zöpfe gebunden. Langsam näherte ich mich den Mädchen, betrachtete ihre Hinterköpfe. War eine von ihnen die Besitzerin des schwarzen Samtstücks, das mich hergeführt hatte? Nein, stellte ich nach genauer Betrachtung fest, die Schleifen sahen anders aus. Die Mädchen waren auf dem Weg zur Schule, alle hatten lederne Ranzen auf dem Rücken.

Nun blieben sie vor dem Laden stehen, schienen auf etwas zu warten und unterhielten sich währenddessen, wobei sie immer wieder in albernes Gelächter ausbrachen. Als eine von ihnen in meine Richtung blickte, hielt sie plötzlich inne, stupste ihre Begleiterinnen an und wies auf mich. Alle verstummten, wandten sich wie eine Einheit mir zu. Ihre Mienen hatten sich mit einem Schlag verändert. Da war nichts Albern-Fröhliches mehr, stattdessen zeigten ihre Gesichter Geringschätzigkeit und Verachtung, während sie sich über den Gehweg auf mich zubewegten. Trotz ihres puppenhaften Äußeren strahlten sie etwas Bedrohliches aus.

Ich schluckte, blieb wie erstarrt stehen. Was sollte ich jetzt tun? Wie hatten sie mich wahrgenommen? Absolut geräuschlos hatte ich hier gestanden, mich kaum bewegt, nur beobachtet. Mein Herzschlag beschleunigte sich, während sie sich näherten. Wie in Zeitlupe trat ich einige Schritte zur Seite, auf den Ladeneingang zu, um notfalls darin zu verschwinden. Erst, als sie mich passierten – das blonde Mädchen bewegte sich so nah an mir vorbei, dass ich ihre langen Wimpern erkennen konnte –, wurde mir bewusst, dass sie gar nicht auf mich zustrebten.

Ich wirbelte herum. Einige Meter hinter mir entdeckte ich ein afroamerikanisches Mädchen in einem karierten Mantel, das krause Haar war zu einem straffen, französischen Zopf geflochten. Sie trug die schwarze Samtschleife! Ihre großen, braunen Augen sahen der Mädchenschar, die sie fast erreicht hatte, abwartend entgegen, in ihrer Hand hielt sie eine Schultasche.

»Talisha Freemann.« Die Blonde spuckte den Namen wie eine Beleidigung aus. »Du hast doch wohl nicht vor, gleich denselben Bus zu nehmen wie wir?«

Die drei hatten das Mädchen jetzt erreicht, umringten es. Ich konnte das als Talisha angesprochene Kind kaum sehen, denn sie war kleiner als die anderen, darum reckte ich den Hals.

»Hast du das verstanden? Wir sitzen nicht im Schulbus mit einer wie dir. Entweder nimmst du den nächsten oder du gehst zu Fuß.«

Talisha gab keine Antwort, ihre Miene zeigte Trotz.

»Bist du über Nacht verstummt, Niggermädchen?«, giftete die Blonde weiter, die die Anführerin der Gruppe zu sein schien. Schockiert hielt ich einen Moment den Atem an, biss mir auf die Unterlippe.

Nun antwortete Talisha etwas, jedoch so leise, dass ich es nicht verstehen konnte, weshalb ich mich vorsichtig näher heranschob.

»Wie bitte? Man kann dein jämmerliches Gestammel nicht hören. Oder habt ihr was mitgekriegt?«, wandte sich das blonde Mädchen an ihre Freundinnen.

»Nein. Sprich lauter, wenn du was zu sagen hast«, brachte sich jetzt die mit der blauen Schleife ein.

»Ich habe dasselbe Recht, mit diesem Bus zu fahren, wie ihr. Lasst mich endlich in Ruhe«, erwiderte Talisha.

»Uhh, sie meint, sie hat Rechte!« Die Blonde lachte ätzend, die beiden anderen fielen in das Lachen ein. »Weißt

Impressum

Verlag: Zeilenfluss

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Wolkenart.com – Marie-Katharina Becker, www.wolkenart.com
Cover: ©Shutterstock.com (tomertu, Gyuszko-Photo, Olga_C)
Lektorat: Sabrina Undank/ Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 26.11.2020
ISBN: 978-3-96714-110-8

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