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Das frühmorgendliche Zwitschern der Vögel weckte sie. Allzu rasch glitt Frieda aus dem Traum, die Bilder zogen fort, lösten sich auf, ließen sie mit einem Kloß in der Kehle zurück.

Noch einen Moment blieb sie mit geschlossenen Augen liegen. Ruhig ging ihr Atem, obwohl ihr Rücken wieder schmerzte, wie so oft morgens. Frostig war es in ihrem Schlafzimmer. Frieda schalt sich. Hatte sie doch gestern Abend vergessen, das Fenster zu schließen, und nun zog die Kälte des anbrechenden Märzmorgens über ihr Gesicht und ihre Arme hinweg. Sie wollte die Wärme des Bettes nicht verlassen, aber sie musste, ihre Mohrle brauchte Futter, frisches Wasser.

Sie schlug die Decke zurück, schob mit einem Ächzen ihre Beine aus dem Bett, blieb einen Moment auf der Kante sitzen. Sofort sprang die Kälte sie an, durchdrang ihr Nachthemd und ließ sie frösteln. Mit schmerzverzerrtem Gesicht erhob sie sich, schlüpfte in ihre Hausschuhe, die vor dem Bett standen und griff nach ihrem Hausmantel, der auf dem Stuhl lag. Darunter warteten fein säuberlich gestapelt die Kleidungsstücke, die sie abends immer für den nächsten Tag zurecht legte.
Sie zog den Gürtel des Hausmantels zu, schloss das Fenster und blickte hinaus in den trüben, grauen Morgen, der den Hinterhof des Mehrfamilienhauses noch trister wirken ließ. Mit einem Ruck zog sie die Gardine vor und schlurfte zum Bad.

„Guten Morgen, liebe Mohrle“, begrüßte Frieda ihre Katze und trat an das Waschbecken ihres kleinen, fensterlosen Badezimmers. Obwohl sie es üblicherweise vermied, war ihr Blick in den Spiegel gefallen, hatte sie für einen kurzen Moment ihr verhärmtes Gesicht angestarrt, von Haar umrahmt, das in grauen Strähnen von ihrem Kopf abstand. Ich sollte zum Friseur gehen … dachte sie, um kurz darauf den Kopf zu schütteln. Wozu? Sie verließ ihre Wohnung nur zum Einkaufen. Oder wenn sie es aus einem anderen Grund musste. Dann band sie sich ein Kopftuch um. Was sollte sie beim Friseur?

Frieda tappte über den noch dunklen Flur zur Küche. „Jetzt bekommst du erst mal dein Frühstück“, sagte sie und lächelte zu ihrer Katze herab. Als sie sich nach den Näpfen bückte, fuhr ein stechender Schmerz durch ihren Rücken, ließ sie aufstöhnen. Heute war es wirklich besonders schlimm. Doch sie biss die Zähne zusammen und richtete sich wieder auf. Ihre Augen wanderten über das Küchenregal, in dem ordentlich aufgereiht die Futterdosen standen.

„Worauf hast du Appetit? Fisch? Ja? Sollst du haben.“

Sie griff nach der Dose, zog die metallene Lasche auf, füllte das Futter in den Napf und ließ den zweiten mit Wasser volllaufen. Diesmal dachte sie daran, in die Hocke zu gehen, sich langsam zu bewegen, als sie die Näpfe auf den Boden stellte.

Sie setzte sich einen Kaffee auf, nahm am Küchentisch Platz, faltete ihre Hände. Die Kaffeemaschine plätscherte und zischte, die Küchenuhr tickte an der Wand über ihrem Kopf, sonst war es still. Friedas Mundwinkel verzogen sich nach unten. Heute musste sie zum Supermarkt gehen. Sie brauchte Milch und Brot, auch das Trockenfutter für Mohrle war alle. Sie seufzte. Mochte es nicht, das Haus zu verlassen. Manchmal machte sie ihr Angst, die hektische, fremde Welt dort draußen. Die vielen Menschen, der Verkehr, der Lärm. Gespräche.

Nachdem sie ihre morgendliche Scheibe Brot mit Marmelade gegessen und ihre Tasse Kaffee getrunken hatte, kleidete sie sich an. Zog den warmen Mantel über, schlüpfte in ihre braunen Halbschuhe und band das Kopftuch um. Griff nach ihrer Handtasche. Langsam stieg sie die Stufen im dämmerigen Treppenhaus hinab und atmete tief durch, bevor sie die Haustür aufzog.

Der Himmel war wolkenverhangen, es sah nach Regen aus. Ein scharfer Wind schlug ihr entgegen. Frieda zog den Kopf zwischen die Schultern und stapfte los. Genau 325 Schritte waren es bis zum Supermarkt, wie immer begann sie zu zählen, den Blick auf die Betonplatten gerichtet. Aus dem Nachbarhaus betrat eine lärmende Familie den Gehweg. Frieda nahm sie nur aus dem Augenwinkel wahr. Eine junge Frau, die ein Kleinkind in einer Karre schob, drei weitere Kinder unterschiedlichen Alters, die um sie herumsprangen, kreischten und sich schubsten. Ein kleines Mädchen fiel ihr fast vor die Füße und zwang sie, auszuweichen. Frieda zog den Kopf noch weiter ein. Gerne wäre sie an der Schar vorbeigeeilt, aber heute war sie nicht gut zu Fuß. So musste sie wohl oder übel hinter der Familie her trotten. 

Sie presste die Lippen zusammen. Jetzt hatte sie vergessen, bei welchem Schritt sie gewesen war. Das ärgerte sie, brachte sie aus ihrem Rhythmus. Der Lärm der Kinder machte sie nervös. Und nun begann die Mutter auch noch mit schriller Stimme zu schimpfen, weil eins das andere gehauen hatte, ein Mädchen heulte wie eine Sirene.

An der Ampel blieben sie stehen. Frieda stellte sich an die vielbefahrene Straße. Die Autos rasten an ihr vorbei, ein vorüber rumpelnder LKW brachte ihr Kopftuch zum Flattern. Frieda sog zischend die Luft ein. Gerade wollte sie einen Schritt zurücktreten, da nahm sie eine rasche Bewegung neben sich wahr, einer der Jungen stolperte an ihr vorbei, stürzte direkt auf die Straße, ein Auto hupte, Reifen quietschten … In einem Reflex sprang Frieda vor, ergriff den Arm des Kindes und zerrte es zurück auf den Fußweg.

Ahh, ihr Rücken! Sie ließ das Kind los, es fiel auf die Betonplatten.

Das Auto war mit einer Vollbremsung zum Stehen gekommen, direkt an der Stelle, wo sich vor Sekunden noch der Junge befunden hatte.

„Passt auf eure verdammte Brut auf, asoziales Pack!“, schimpfte der Fahrer aus der offenen Scheibe und ballte eine Faust in ihre Richtung. Dann fuhr er weiter.

„Marvin! Du kannst Phillip doch nicht auf die Straße schubsen, bist du verrückt!“, brüllte die Mutter, Panik schwang in ihrer Stimme mit. Frieda presste eine Hand in ihr Kreuz, versuchte flach zu atmen, ihr Herz raste. Das war alles zu viel für sie. Die junge Frau scheuchte die Kinder zurück, keifte sie an, endlich ruhig stehen bleiben. Dann fasste sie Frieda am Arm.

„Danke. Ich danke Ihnen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn …“

Sie verstummte, legte eine Hand vor den Mund, Tränen quollen aus ihren Augen.

Frieda entwand sich dem Griff, wollte ihrem Ärger Luft lassen, der Frau sagen, sie solle ihre Kinder besser erziehen. Doch als sie in das blasse Gesicht mit den dunklen Schatten unter Augen sah, regte sich etwas in ihr, und sie schluckte die bösen Worte hinunter.

„Schon gut. Geben Sie halt besser acht.“ Sie richtete ihren Blick wieder auf die Ampel. Schon wieder rot, aber endlich waren die Kinder still. Vielleicht war ihnen der Beinahe-Unfall eine Lehre.

Die junge Mutter neben ihr weinte weiter.

„Ich kann nicht mehr. So kann es nicht weitergehen“, schluchzte sie, mehr zu sich selbst, aber Frieda hörte sich fragen: „Was kann nicht so weitergehen?“

Sie erschrak. Warum sprach sie mit dieser wildfremden Person?

„Mein Freund ist abgehauen, ich bin immer allein mit den Kindern. Ständig komme ich zu spät zur Arbeit, bekomme kaum Schlaf. Meine Chefin will mich entlassen, wenn ich noch einmal fehle. Und Montag beginnen die Osterferien, ich weiß nicht, wo ich Phillip, meinen Ältesten, lassen soll, ich kann ihn doch nicht mitnehmen in den Blumenladen.“

Sie verstummte, wischte sich über die Nase. Die kindliche Geste ließ sie noch jünger wirken.

„Sorry. Ich sollte Sie nicht mit meinen Problemen vollquatschen. Kommt, Kinder, es ist grün.“

Sie schob los mit der Karre. Frieda und die Familie überquerten die Straße. Die junge Frau wollte auch in den Supermarkt, strebte auf die Einkaufswagen zu, wühlte in ihrer Tasche.

„Verdammt, ich hab' das Portemonnaie zu Hause liegen lassen. Geht denn alles schief!“

Wieder rannen ihr die Tränen über die Wangen, ihre Schultern bebten, die Kinder umstanden sie mit betretenen Gesichtern.

Die ist ja vollkommen überfordert, dachte Frieda und ging auf die Eingangstüren zu. Blieb stehen. Kehrte wieder um.

„Wir kennen uns nicht. Aber wenn es sein muss, kann ich auf Ihren Jungen aufpassen, am Montag.“

Ihr eigenes Verhalten erstaunte sie immer mehr. Was war nur los mit ihr heute? Innerlich schüttelte sie den Kopf über sich.

Die junge Mutter hielt inne, betrachtete forschend Friedas Gesicht. „Würden Sie das wirklich tun?“

„Ja. Außer, Sie finden noch jemand anderen. Ich dränge mich nicht auf.“

„Das ist sehr nett. Danke."

Frieda fühlte einen gewissen Unwillen in sich aufsteigen, ihre Stimme klang barsch, als sie fortfuhr: „Montag. Ab 7.00 Uhr. Ich wohne in der 74. Bei Schneider klingeln.“

Damit drehte sie sich endgültig um und betrat den Supermarkt.

Das ganze Wochenende rang sie mit sich. Konnte sie ihr Angebot noch zurücknehmen? Was hatte sie nur geritten, überhaupt den Vorschlag zu machen? Sie hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern und die der Nachbarin waren auch noch so lebhaft … um es nett auszudrücken. Was konnte da alles passieren.
Sie war doch nicht verantwortlich … der Bengel würde wahrscheinlich ihre ganze Wohnung auf den Kopf stellen, überall herumturnen, ihre Katze jagen.

Hatte die junge Frau denn keine Familie, die helfen konnte? Friedas Kehle zog sich zusammen. Nein. Wahrscheinlich nicht. Sonst würde sie wohl kaum die Hilfe einer fremden, alten Nachbarin annehmen. Sie selbst hatte ja auch niemanden.

Nun, sie musste zu dem stehen, was sie versprochen hatte.

Auch wenn es dumm gewesen war.

Am Montagmorgen erwachte Frieda mit einem mulmigen Gefühl, ließ ihren Blick zur Schlafzimmerdecke schweifen. Wieder hatte der Vogelgesang sie geweckt. Worauf hatte sie sich da eingelassen. Aber vielleicht brachte die Frau den Jungen – wie hieß er noch … Phillip, vielleicht brachte sie ihn ja gar nicht. Wäre ihr Recht. Sie stand auf, begrüßte und fütterte ihre Katze und spulte ihre morgendlichen Rituale ab.

Um Punkt sieben saß sie angekleidet mit einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Die Uhr tickte. Nichts geschah. Es wurde halb acht. Tja, das war's dann wohl, dachte Frieda und Erleichterung stieg in ihr auf. Da läutete es.

Phillip stand vor der Tür. Jetzt, ohne seine jüngeren Geschwister, sah er viel kleiner aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Ganz verloren wirkte er dort im Treppenhaus, mit seinem Kinder-Rucksack in der Hand.

„Mama hat verschlafen. Ich hab mich ganz allein angezogen und bin rübergegangen“, sagte der Junge mit einem gewissen Stolz und trat ein.

„Ist deine Mutter bei der Arbeit?“ fragte Frieda mit grimmigem Unterton. Sie würde bestimmt nicht auf den Bengel aufpassen, wenn die Frau nur ausschlafen wollte.

„Ja, wir mussten uns alle beeilen, dann ist sie mit den Kleinen los zum Kindergarten. Was wollen wir spielen?“

Phillip sah sich neugierig um, betrachtete das gerahmte Foto von Mohrle auf der Kommode.

„Oh, du hast eine Katze“, stellte er fest und streckte die Hand nach dem Bild aus. Frieda kam ihm zuvor und schob das Foto aus seiner Reichweite.

„Das ist meine Mohrle. Und nun zieh deine Schuhe aus. Und deine Jacke.“

Gehorsam folgte er ihrer Anweisung, er trug noch sein Schlafanzugoberteil, es war voller Flecken. Überhaupt machte er einen etwas verwahrlosten Eindruck. Frieda kniff die Lippen zusammen.

„Hier wird nicht getobt, ist das klar? Und auch nix angefasst.“ Nun schaute Phillip etwas ängstlich zu ihr hoch und nickte. Frieda entspannte sich ein wenig.

„Ich muss jetzt Gemüse schälen. Du kannst dich im Wohnzimmer an den Tisch setzen und was malen … oder so.“ Phillip guckte enttäuscht, muckte aber nicht auf.

Als Frieda sich auf den Weg in die Küche machte, stand er noch immer wie angewurzelt da.

„Was ist?“, fragte sie gereizt.

„Ich hab' nix zum Malen.“

„Dann spiel' was anderes. Du hast doch bestimmt was da drin.“ Sie zeigte auf seinen Rucksack.

Endlich ging Phillip ins Wohnzimmer, setzte sich an den Tisch. Frieda nickte. „Da bleibst du sitzen. Und sei leise.“

In der Küche begann sie das Gemüse zu bearbeiten, mit einem Ohr horchte sie immer wieder zum Wohnzimmer. Eigentlich war der Junge ganz brav, dachte sie und schabte weiter die Möhren. Da hörte sie ein leises Rumpeln, stand auf und eilte hinüber.

„Was machst du denn da?“, herrschte sie Phillip an. Der lag auf dem Boden, halb unter dem Sofa. Jetzt zog er seinen Kopf wieder hervor.

„Ich hab geguckt, ob deine Katze da unten ist. Ich mag Katzen, aber Mama will kein Haustier.“ Nun traf sie ein trauriger Blick aus seinen großen Augen, und Friedas Zorn verrauchte.

„Lass die Mohrle bitte in Ruhe, sie ist alt. Und mag keinen Lärm. Genauso wenig wie ich.“

Betreten stand Phillip da. „Und wenn ich ganz leise bin, darf ich sie dann suchen und streicheln? Bitte“, fragte er zaghaft.

Friedas Miene wurde verschlossen. Seine zarte Kinderstimme hatte eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, die sie nicht hören wollte.

„Nein. Darfst du nicht. Komm mit in die Küche, kannst mir kochen helfen.“

Er lächelte wieder. „Mama helf ' ich auch oft.“

Frieda gab ihm ein Brettchen und ein Messer und während sie schälte, beobachtete sie das Kind, wie es mit rausgestreckter Zungenspitze die Kartoffeln schnitt.

Stellt sich gar nicht so dumm an, dachte sie.

In der Zeit, in der das Essen im Topf vor sich hin köchelte, las ihr Phillip mit stockender Stimme die Titel ihrer Kochbücher im Regal vor. Frieda verstand kaum ein Wort, aber der Junge war sehr stolz, das merkte sie.

„Ich bin in der ersten Klasse, aber ich kann schon schwierige Wörter lesen!“ Er strahlte. „Liest du mir jetzt was vor?" Er zog ein Kinderbuch aus seinem Rucksack und hielt es ihr hin. Frieda zögerte. Dann nahm sie das Buch und räusperte sich, ehe sie mit ihrer Altfrauenstimme leise vorzulesen begann. Phillip legte seine Arme auf den Tisch, stützte das Kinn darauf und lauschte.

Später aßen sie gemeinsam die Suppe. Der Junge schlürfte derart entsetzlich, dass Frieda ihn mehrmals ermahnen musste. Während er noch einen weiteren Teller verdrückte, fiel ihr ein, dass sie Mohrle ihr Trockenfutter geben musste. Sie streute es in den Napf und machte einen Schnurz-Laut mit den Lippen, um sie zu rufen.

Phillip beobachtete eine Weile gespannt die Tür.

„Die Katze kommt nicht“, stellte er dann fest und schob sich einen Löffel Suppe in den Mund.

„Sie ist Fremde in der Wohnung nicht gewöhnt“, gab Frieda zurück.

In dem Moment klingelte es an der Tür.

„Pack' deine Sachen ein und zieh' dich an, deine Mutter ist da.“

Der Junge sprang auf und eilte in den Flur. Während er seine Schuhe anzog, öffnete Frieda die Tür.

Phillips Mutter. Sie hielt ihr einen kleinen Blumenstrauß entgegen.

„Der ist für Sie. Vielen Dank für Ihre Hilfe.“ Sie beugte sich hinunter und umarmte ihren Sohn. „Hast du dich gut benommen?“

Frieda stand hilflos mit den Blumen, wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte noch nie welche geschenkt bekommen.

„Kann ich morgen wiederkommen?“, fragte Phillip und schaute sie an.

Sekundenlanges Schweigen. Seine Mutter blickte verlegen zu Boden. „Nun, es wird sich schon was finden. Komm' …“

Sie schob ihren Sohn ins Treppenhaus.

„Ja“, antwortete Frieda leise. „Du kannst morgen wiederkommen“ und schloss die Tür.

Am nächsten Tag klingelte Phillip pünktlich um kurz nach sieben. Diesmal betrat er die Wohnung etwas mutiger, zog sofort seine Schuhe aus und legte seine Jacke ab. Dann wühlte er in seinem Rucksack und zog ein Wollknäuel heraus.

„Mama hat gesagt, Katzen spielen gerne Faden verfolgen. Mag das deine Mohrle auch?“

Erwartungsvoll leuchteten seine Augen. Frieda presste die Kiefer aufeinander. „Ich habe dir doch gesagt, dass meine Katze sehr alt ist. Die rennt nicht mehr durch die Wohnung. Hast du schon gefrühstückt?“ Sie wandte sich ab und ging in die Küche. Der Junge folgte ihr.

„Ich brauche ja nicht so wild mit ihr spielen -“ Er sah ihren finsteren Blick und verstummte.

„Darf ich sie denn heute mal streicheln? Ich bin auch ganz vorsichtig“, setzte er leise nach.

Frieda sank auf den Küchenstuhl. Die Brust tat ihr plötzlich so weh, sie schluckte.

Phillip, dadurch ermuntert, dass sie kein Verbot ausgesprochen hatte, begann mit heller Stimme zu rufen: „Mohrle! Mohrle! Komm! Jetzt kennst du mich doch, ich war doch gestern schon da … Mooohrle!“

„Sei still!“, fuhr ihn Frieda an, ihr ganzer Brustkorb war wie zugeschnürt, sie bekam kaum Luft. „Sei doch still …“, ächzte sie und sank auf dem Stuhl zusammen, ihre Finger zitterten.

Phillip blickte sie erschrocken an und sah, dass Tränen aus ihren Augen zu laufen begannen, immer mehr Bahnen zogen sich über die runzeligen Wangen und ein unterdrücktes Schluchzen drang aus Friedas Kehle.

„Was ist mit dir?“ Was hatte er falsch gemacht? Er war besorgt, trat zu der alten Frau und legte seine Hand auf ihre, wie er es bei Mama tat, wenn sie traurig war.

„Ach, Bub, ich …“ Frieda konnte ihn nicht anschauen, senkte den Kopf. „Ich bin so schrecklich traurig. Die Mohrle … sie ist - “ Die Stimme versagte ihr, sie hielt den Atem an. Phillip streichelte ihre Hand. „Sie ist tot, nicht?“

Es war, als ob ein Damm in ihr bräche, die lang aufgestauten Tränen platzten alle auf einmal aus ihr heraus, der tiefe Schmerz bahnte sich in einem Klagelaut unaufhaltsam seinen Weg aus ihrer Kehle. „Ich vermisse sie so. Fast zwanzig Jahre war sie bei mir, dann fand ich sie morgens. Und jetzt liegt sie hinten, im Garten.“ Der Junge umfasste ihre Hand, hielt sie ganz fest.

„Manchmal träume ich von ihr“, flüsterte Frieda.

„Ich war auch so traurig, als die Omi gestorben ist“, flüsterte Phillip zurück, auch er hatte jetzt Tränen in den Augen.

Frieda rang um Fassung, zog ihre Hand weg und wischte sich mit einer harschen Bewegung über die Augen. Dann nestelte sie in ihrer Schürze nach einem Taschentuch, schnäuzte sich. Straffte ihr Schultern. Ihr Gesicht bekam wieder seinen grantigen Ausdruck.

„Du denkst, ich bin eine dumme alte Frau, die mit einer Katze spricht, die es längst nicht mehr gibt.“

Phillip schüttelte leicht den Kopf. „Nein, du bist nicht dumm, du bist traurig. Ich hab' auch mit Omi gesprochen, an ihrem Grab. Wir haben ihr oft Blumen gebracht, weißt du?“

Friedas Züge wurden wieder weicher. „Du bist ein lieber Junge.“ Sie hob ihre Hand, zögerte kurz, und strich ihm dann sachte über die Wange.

„Warum holst du dir keine neue Katze?"

„Ich bin zu alt. Was würde aus ihr werden, wenn ich sterbe?"

„Dann hol' dir eben eine Katze, die auch schon so alt ist, aus dem Tierheim. Unsere Lehrerin hat gesagt, die Tiere dort brauchen auch Menschen, die sich um sie kümmern." Frieda verzog die Lippen zu einem traurigen Lächeln. „Scheint eine nette Frau zu sein, deine Lehrerin." Phillip nickte eifrig. „Ich komm' mit und helf' dir aussuchen, ja?"' Sie sah in sein offenes Gesicht und schwieg.

„Nun, ich werde drüber nachdenken, Bub."

„Und jetzt bringen wir Mohrle die Blumen von Mama und legen sie ihr aufs Grab. Darüber freut sie sich, bestimmt.“

Wieder griff er nach ihrer Hand, zog an ihr. „Nun komm schon.“

Langsam stand Frieda auf, nahm den Blumenstrauß aus der Vase und folgte Phillip zur Tür. Der war schon in seine Turnschuhe geschlüpft. Bei ihr dauerte es etwas länger, bis sie Schuhe und Mantel angezogen hatte. Als sie das Treppenhaus in den Hinterhof verließen, fiel die Tür hinter ihnen zu, aber sie bemerkten es nicht.

Phillip zog sie weiter, warm und klein lag seine Hand in ihrer.

Ein lang vermisstes Gefühl, etwas wie Wärme und Zuneigung, breitete sich in Frieda aus, als sie zu Mohrles Grab schritten.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay/ bild von conger design
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2020

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