Gott, war das eine Hitze heute.
Das Thermometer hatte bereits morgens mehr als zwanzig Grad angezeigt, jetzt, am frühen Nachmittag, war es auf über dreißig geklettert. In der Nacht hatte Marianne alle Fenster ihrer Wohnung im zweiten Stock aufgerissen, was aber nicht wirklich lindernde Kühlung gebracht und ihr keinen erholsamen Schlaf beschert hatte.
Stattdessen fühlte sie sich wie zerschlagen, ihr Kreislauf spielte verrückt. Eine Frau in ihrem Alter - letzten Monat war sie 74 Jahre alt geworden - sollte es an einem derart heißen Tag langsam angehen lassen, das wusste sie.
Doch andererseits war sie stolz auf ihre Rüstigkeit und keine Frau, die Verantwortung aus dem Weg ging. Und ihre bestand heute darin, die ewig nörgelnde, vom Leid und Selbstmitleid geplagte Freundin Renate aufzubauen.
Marianne verzog das Gesicht. Lieber würde sie gleich zum nahegelegenen Friedhof spazieren, sich im kühlen Schatten der Eichen mit einem noch kühleren Getränk auf die Bank an Werners Grab setzen und ein Buch lesen, wie sie es öfter sonntags tat. Die gedankliche Nähe und Zwiesprache mit ihrem verstorbenen Mann brachte ihr Ruhe. Sie hatten eine gute Ehe gehabt und sie vermisste ihn, wenngleich sie sich in den drei Jahren seit seinem Tod etwas an die Einsamkeit gewöhnt hatte. Tochter Isabell lebte mit ihrem Mann und den Enkeln in Kanada, sie telefonierten oft, besuchten sich aber nur selten. Manche Tage empfand Marianne trotz der Eintönigkeit als chaotisch, als stapfte sie mit Gummistiefeln durch Treibsand.
Ihre Gedanken wanderten zu ihrer Verabredung heute. Nun gut. Sie kannte Renate seit der Schule und die hatte niemanden mehr außer ihr.
Und daran ist sie selber schuld, flüsterte eine boshafte Stimme in ihrem Kopf. Sie ist nur noch am Jammern, am Lästern und am Schwadronieren, allein mit sich beschäftigt.
Aber sie war nicht immer so, hat es nicht leicht, widersprach eine mildere Stimme. Sie ist erst so geworden, seit ihr Mann die jungen Geliebten hat. Irgendwann wird sie erkennen, dass es so nicht weitergeht.
Marianne warf einen Blick auf ihre Uhr, dann seufzte sie. Sie musste los, zum Bus, der sie in die Innenstadt fuhr. Dort hatten sie sich in einem gutbürgerlichen Café verabredet. Wäre es nach ihr gegangen, hätte sie heute lieber ein Eis im „Alfredo“ gegessen, aber letztendlich bestimmte immer Renate die Orte der Treffen.
Obwohl sie ein luftiges Sommerkleid trug, erreichte Marianne verschwitzt von der stickigen Schwüle im Bus den Marktplatz, wo sie ausstieg. Trotz der Hitze waren an diesem Sonntag viele Menschen unterwegs. Familien mit kleinen Kindern, ältere Leute wie sie, Pärchen.
Auch das Café „Kaiserhof“, in dem sie mit Renate verabredet war, sah gutbesucht aus. Marianne ergatterte einen freien Zweiertisch auf der Straße - leider ohne den schattenspendenden Schutz eines Sonnenschirms - und setzte sich. Die Sonne brannte und sie verspürte Durst, sah sich nach einer Bedienung um.
Jedoch ignorierte die Kellnerin Mariannes Anwesenheit eine Weile, sprach mit einer Tresenkraft. Die Frau zeigte eine säuerliche, lebensüberdrüssige Miene, wie man sie sonst nur auf Fahndungsfotos sieht. Als sie dann endlich heran trottete, um die Bestellung aufzunehmen, wirkte sie so abwesend, als würde sie im Geiste einen Abschiedsbrief für ihren Selbstmord formulieren.
Im gegenüberliegenden Eiscafé sah Marianne den grauhaarigen Alfredo, den Seniorchef, Eiswaffeln an Kinder verkaufen. Er scherzte mit ihnen und sie erinnerte sich, dass auch ihre Isabell als Kind den Italiener sehr gemocht und sie früher immer an der Hand zum Eistresen gezerrt hatte, wenn sie in der Stadt gewesen waren.
Renate ist schon wieder zu spät ... ging es Marianne durch den Kopf, als sie ihr Mineralwasser trank.
Sie wusste, dass die Ehe der Freundin bis ins Mark erschüttert war, doch sie wusste auch, dass Renate an Wilfrieds Seite weiterhumpeln würde wie ein verwundeter Soldat. Nein, der Vergleich hinkte, denn die beiden waren keine Verbündeten mehr, führten eher eine Art Grabenkrieg.
„Wenn der denkt, ich ziehe aus unserem schönen Haus aus, hat er sich geschnitten! Und eine Scheidung käme ihm teuer zu stehen!“, war eine der Standardbemerkungen ihrer Freundin, ehe sie sich weiter über ihren gemeinen Gatten ausließ. Und das tat sie oft, denn zum Ausweinen über ihren treulosen Mann hatte sie nur noch Marianne, die anderen – ja, man konnte sagen: ehemaligen Freundinnen – waren längst auf Distanz gegangen.
Marianne überlegte gerade, aus dem prallen Sonnenschein an den frei gewordenen Tisch unter einem Schirm zu wechseln, als ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Handtasche und las „Renate“ im Display, ehe sie das Gespräch annahm, und ahnte, was sie erwartete. Nicht schon wieder ...
„Du, ich kann unmöglich bei dieser Hitze aus dem Haus. Mein Kreislauf. Meine schweren Beine. Mir geht es einfach nicht gut genug heute ...“
Marianne schloss die Augen und atmete lautlos durch. Das war nun schon wiederholt vorgekommen, dass Renate in letzter Sekunde absagte, als würde ihre Unpässlichkeit sie erst dann anspringen wie eine aggressive Kobra. Dabei klang sie immer recht munter ...
„Also, ich denke, ich setze den Kaffee auf und du besorgst uns jetzt ein paar Stücke Torte, mit einer Extraportion Sahne, und kommst dann zu mir. Aber beeil‘ dich, damit sie nicht zerläuft. Du weißt, ich mag keine matschige Sahne ... Ich erwarte dich in einer halben Stunde.“
Marianne lag eine katzige Antwort auf den Lippen, doch sie presste diese nur zusammen. Unglaublich! Früher hatte Renate immer moralinsauer gegen fettreiche Ernährung gepredigt und ein Eis oder Torte mit Schlagsahne so entsetzt abgelehnt, als hätte man ihr Drogen angeboten. Aber die Zeiten waren vorbei. Seit sie wusste, dass sie gegen Wilfrieds knackig-junge Gespielinnen nicht mehr konkurrieren konnte, stopfte sie nahtlos alles in sich hinein und ging auf wie ein Hefekloß.
„Hallo, hörst du mir überhaupt zu? Mir geht es schlecht. Mehr als das. Da ist es doch nicht zu viel verlangt, meiner Bitte nachzukommen!“ Der nörglerische Ton wurde drängender. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was Wilfried mir vorhin an den Kopf geworfen hat!“
Marianne spürte, wie sich ihre Kehle verengte, dass sich ihre freie Hand in die Tischdecke krampfte. Sie riss sich gerade noch zusammen, keine scharfe Erwiderung von sich zu geben. Anscheinend war Renate heute noch weniger sie selbst als sonst. Sie atmete leise durch.
„Die Hitze macht auch mir zu schaffen, ehrlich gesagt möchte ich nicht mit Torte und Sahne im Bus herumfahren und dann noch zu dir den Berg emporsteigen. Es tut mir leid, dass es dir nicht gut geht, aber lass uns das Treffen bitte verschieben“, brachte sie mit ruhiger Stimme hervor.
Renate seufzte, als hätte sie es mit einem Kleinkind zu tun, das sein Gemüse nicht essen wollte.
„Wie kann man nur so ichbezogen sein, Marianne! Dir ist es zu heiß? Der Weg zu mir zu anstrengend? Du prahlst doch immer damit, wie fit du bist! Und ich dachte, du wärst meine Freundin ... Du bist schließlich kerngesund! Ich muss loswerden, was Wilfried mir heute angetan hat. Ich wünschte, er wäre tot und läge unter der Erde wie dein Mann, du Glückliche!“
Marianne erstarrte. Das war doch wohl ... Nichts hatte sie seit langem so aus der Fassung gebracht wie diese letzte, hingeworfene Bemerkung. Wie kann sie es wagen, derartig über Werner zu sprechen! Bin ich blind, dass ich gar nicht gemerkt habe, wie sie mich ausnutzt?
Die Wut breitete sich in ihr aus, ihr Atem ging so flach, als hätte Renate ihr gerade eine Eisenstange auf die Brust geknallt und mit ihrer Selbstbeherrschung war es dahin.
„Das ist absolut geschmacklos!“, zischte sie ins Telefon. „Mir reicht’s! Du bist eine egoistische Nervensäge geworden, reiß‘ dich zusammen und lass dich endlich scheiden, mach eine Kur! Verdammte Kacke!“ Sie drückte auf den Knopf, der das Gespräch beendete, dann schaltete sie das Handy aus.
Zwei Damen in ihrem Alter am Nachbartisch waren bei ihrem Fluch zusammengefahren, starrten konsterniert zu ihr herüber und Marianne spürte, dass sie errötete, wunderte sich über sich selbst. Lag es an der Hitze oder daran, dass Renate endgültig den Bogen des Anstands überspannt hatte? Vielleicht an beidem. Marianne fluchte nie. Aber anscheinend hatte sie die ganzen Jahre eine Tupperdose fein säuberlich irgendwo in ihrem Kopf verstaut und darin jede Menge ordinäre Ausdrücke gesammelt. Jetzt hatte sie die Dose geöffnet, und die unverbrauchten Worte purzelten mit einem Mal heraus – frisch, knackig und gebrauchsfertig.
Die beiden Frauen am Nachbartisch tuschelten. Ein Kind und seine Mutter starrten sie an. Zeit, zu gehen, dachte Marianne und legte Münzen für das Mineralwasser auf den Tisch. Trotz der Scham wegen ihres Ausbruchs war es, als wäre ihr eine gewisse Last von den Schultern genommen.
Um einen würdevollen Gesichtsausdruck bemüht erhob sie sich und wollte wegeilen, da blieb sie mit dem Absatz ihres linken Pumps im Kopfsteinpflaster hängen, knickte um und wäre fast gestürzt, wenn sie sich nicht am Tisch festgehalten hätte. Zum Glück schmerzte es nicht allzu sehr.
„Mist! Das auch noch!“, entfuhr es ihr. Der Absatz war lose, unmöglich konnte sie auf dem kaputten Schuh den Weg zur Haltestelle zurücklegen. Was war das nur für ein Tag! Marianne schloss kurz die Augen.
Gibt das Leben dir eine Zitrone, mach Zitronenlimonade draus!, leuchtete ein Spruch in ihrem Kopf auf, den sie in einer Zeitschrift entdeckt, für gut befunden und an ihren Kühlschrank geheftet hatte. Erneut wurde ihr gewahr, dass die Leute sie beobachteten und die beiden Frauen über sie redeten, nein, lästerten. Doch irgendwie fühlte sie sich mit einem Mal seltsam losgelöst von allem.
Was würde dir jetzt gut tun, altes Mädchen? Einem Impuls folgend schlüpfte sie aus ihren Pumps, nahm diese in die Hand und ging auf den großen Marktplatz-Brunnen zu. Dort stellte sie das Schuhpaar und ihre Handtasche auf einer Bank ab, hielt erst einen Fuß ins kühle Nass, dann stieg sie ganz hinein. Das Wasser reichte ihr bis kurz unter die Knie – und war unglaublich erfrischend!
Es war ihr egal, dass sie jetzt alle Menschen anstarrten. Zwei Kinder sprangen von ihren Stühlen im Café auf und rannten zum Brunnen, schlüpften aus ihren Sandalen.
„Jacob und Leonie, kommt sofort zurück!“, ertönte die schrille Stimme ihrer Mutter. Doch die Kinder hüpften ebenfalls ins flache Wasser und begannen damit, sich nasszuspritzen und zu lachen. Marianne bekam eiskalte Tropfensalven ab, was sie erst zusammenzucken ließ, dann zum Kichern brachte.
„Jacob und Leonie, raus da, sofort!“, keifte die Mutter der Kinder, die ihrer Aufforderung jedoch nicht nachkamen.
„Ich will auch im Wasser spielen, wie die Oma!“, rief das Mädchen zurück.
Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sich Marianne lebendig, viel jünger, ihr Herz pochte, ihre Sinne waren messerscharf. Die Farben wirkten bunter, heller, die Welt sah anders aus.
Alfredo stand in der Tür seines Eiscafés, winkte ihr zu und schnitt eine lustige Grimasse, die nur für sie sichtbar war, dann stellte er die italienischen Schlager lauter, die er immer laufen ließ und die Musik schallte über den kleinen Marktplatz. Verlieh der Szenerie noch mehr Lebendigkeit. Marianne wiegte sich im Takt des Italoschlagers und musste sich auf die Lippen beißen, um nicht mitzusummen. Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, dass eine der verkniffenen Gleichaltrigen mit dem Finger auf sie zeigte und eine Hinzugekommene einweihte und Marianne fühlte das Hochgefühl, die plötzliche Energie und Lebensfreude wieder schwinden. Was mach' ich hier eigentlich? Ich sollte jetzt endlich gehen ... Und das mit Renate wieder in Ordnung bringen.
Da gesellte sich ein alter Herr mit vielen Lachfalten zu ihr ins kühle Nass, barfuß wie sie, die Hosenbeine hochgekrempelt. Er besaß die Art von wildem weißem Haar, das entweder für Genie oder für Wahnsinn spricht.
„Sie sind ja komplett verrückt!“, sagte er, aber er lächelte dabei übers ganze Gesicht, der Schalk blitzte auch aus seinen Augen. Marianne lachte auf.
„Das sagt genau der Richtige! Keiner ist so verrückt, dass er nicht einen noch Verrückteren fände, der ihn versteht.“
„Ah, Sie zitieren Heine, wunderbar. Wissen Sie, was ich gerade dachte, als ich Sie hier im Brunnen sah?" Er wartete ihre Antwort nicht ab. „Wenn du immer alle Regeln befolgst, verpasst du den ganzen Spaß. Dieser Spruch ist von Katherine Hepburn, und ich finde, sie hatte Recht. Darf ich bitten?“
Der Mann streckte ihr seine Hand entgegen, die sie nach kurzem Zögern ergriff, und sie tanzten durch das eiskalte Nass zu den Klängen von Adriano Celentanos Azzurro, während weitere Kinder neben ihnen im Brunnen zu planschen begannen. Einige Leute hatten ihre Handys gezückt und filmten das Ganze.
Ich hatte ganz vergessen, wie schön es ist, mit jemandem zu tanzen, dachte Marianne.
Eine heisere Stimme ließ sie sich umwenden.
„Prego, bella Signora!“
Alfredo, der unverbesserliche Charmeur, war aus dem Eiscafé herübergekommen. Er hielt ihr schmunzelnd eine Eiswaffel mit ihrer Lieblingssorte Stracciatella und eine Rose hin.
Ihr Tanzpartner sah den alten Italiener regelrecht eifersüchtig an, als Marianne stehenblieb, um das Eis und die Blume mit einem Strahlen entgegenzunehmen, sie neigte den Kopf.
„Grazie, Signor Mancini." Sie war ganz außer Atem, wie sie mit einem Mal bemerkte, aber es fühlte sich gut an.
„Darf ich Sie auf ein kühles Bier im Schatten einladen, liebe Unbekannte?“, fragte der Mann, der ein bisschen aussah wie Albert Einstein und ebenfalls rascher atmete.
„Gerne. Ich heiße Marianne.“
Für einen Moment schloss sie die Augen und hielt die feuchten Blütenblätter an ihr Gesicht. Es war, als atmete sie den Himmel. Und ihr Lächeln breitete sich bis in ihr Herz aus.
Tag der Veröffentlichung: 07.04.2020
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