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Vorwort

 

Liebe Leserin, lieber Leser,

 

hören Menschen den Namen meiner ehemaligen Heimatstadt Bremen, denken viele als Erstes an Werder Bremen und an die Bremer Stadtmusikanten. Anderen kommen vielleicht auch etwas zurückhaltende, schnodderige Bremer in den Sinn, die im kleinsten Bundesland im Norden leben, der Ritter Roland oder die winterlichen Kohl-und-Pinkel-Essen.

Aber -  es gibt auch Engel in Bremen. Das wusstest du nicht? Sie haben sogar einen Namen: „Bremer Engel“ – und es sind ganz besondere Frauen. Therapeutinnen und Krankenschwestern, die Tag und Nacht bereitstehen für Familien, in denen ein schwerstkrankes Kind lebt, das vielleicht sterben muss.

 

Ich durfte vor zwei Jahren einen dieser Engel kennenlernen, im Rahmen meiner Arbeit als Grundschullehrerin. Ich hatte mit meiner Klasse eine Tombola veranstaltet. Den Erlös daraus spendeten wir der Erika Müller Stiftung für ihr Projekt BREMER ENGEL.

Kinder spielen und lachen, sie lernen, wachsen und haben eine Zukunft. Leiden und Tod sollten nicht in das Leben von Kindern gehören. Sie sollten nicht vor ihren Eltern die Welt verlassen müssen. Dagegen sträubt sich alles in mir, als Mutter und als Lehrerin.

Doch manchmal hat das Schicksal einen anderen Plan. Dann müssen die kleinen Menschen mit schweren Krankheiten fertig werden, manche schaffen es, andere leider nicht. Unvorstellbar, wie Großeltern, Eltern und Geschwister den Schmerz und den Verlust verkraften, wie es möglich ist, damit weiterzuleben. Wer sind sie, diese helfenden Engel, die diesen Familien in der schweren Zeit zur Seite stehen?

Im Jahr 2003 errichtete die gebürtige Bremerin Erika Müller eine gemeinnützige Stiftung, die seit 2005 das Projekt BREMER ENGEL betreut. Im Juli 2019 starb Frau Müller nach einem erfüllten Leben im Alter von 103 Jahren.

 

Die Initiative BREMER ENGEL der Erika Müller Stiftung sind eine mobile Familienhilfe für schwerstkranke Kinder und ihre Angehörigen: Acht Kinderkrankenschwestern und zwei Therapeutinnen sind in Bremen, Bremerhaven und der Nordwestregion unterwegs, um ihre Patienten aus dem Krankenhaus Zuhause weiter zu betreuen. Mit dieser Unterstützung in vertrauter Umgebung schließen die BREMER ENGEL eine Versorgungslücke und ermöglichen es, dass betroffene Kinder schneller aus der Klinik entlassen werden können.

Auf der Homepage der Stiftung findet sich u.a. folgendes Zitat:

 

„Engel sind Freunde, die uns wieder auf die Beine helfen, wenn unsere Flügel vergessen haben wie man fliegt.“

 

Und auch wir wollen einen kleinen Beitrag leisten und helfen. Mit diesem Buch. Darin finden sich 20 Geschichten von 7 Autorinnen und Autoren: Sie sind traurig, spannend, berührend, nachdenklich oder Mut machend, teils auch zum Schmunzeln anregend, sie sind so bunt wie das Leben es auch ist. Jeder Text steht für sich, die Geschichten sind innerhalb eines Jahres in monatlichen Schreibwettbewerben in unserer Schreibgruppe auf der Autoren-Plattform BookRix zu diversen Themenvorgaben entstanden. Jedoch mit dem gemeinsamen Ziel aller Mitwirkenden, mit dem Erlös aus dem Buchverkauf zu unterstützen.

Ich möchte der Anthologie-Gruppe mein herzliches Dankeschön aussprechen. Für ihre Kreativität, für das nette Miteinander, für das Schreiben wunderbarer Texte, für das Lesen, Bewerten und Abstimmen. Ich freue mich schon auf unser nächstes gemeinsames Jahr für den guten Zweck!

Abschließend: Mit dem Kauf dieses Buchs hast auch du etwas beigesteuert, damit die BREMER ENGEL weiterhin helfen können, da, wo sie gebraucht werden. Dafür danken wir dir ganz herzlich.

Und nun wünschen wir dir gute Unterhaltung und eine angenehme Zeit mit unseren Geschichten.

 

Ursula Kollasch und die Autorinnen und Autoren der BookRix-Anthologiegruppe.

 

1. Träumerin und Mondprinz

 von Tess M. Heingand

 

Ali beobachtete den Wind, der sich in kräuselnden Wellen auf dem Wasser abzeichnete. Er spielte mit ihm, ließ immer neue Muster entstehen, als wäre er ein kleines Kind, das einfach nicht zugeben konnte, wenn es müde wurde.

Bo saß still neben ihr, so aufgedreht er sonst auch war, wenn sie in den Park gingen. Es war, als ahnte er, wie dringend sie ihren pelzigen Freund gerade an ihrer Seite brauchte. Nicht einmal die Enten auf der anderen Uferseite interessierten ihn.

Wusste er, dass heute alles genauso war wie immer und doch vollkommen anders?

Heute war ihre Mutter endgültig zu weit gegangen.

Letztes Mal, als sie genauso hier gesessen hatte, hatte Ali sich selbst das Versprechen gegeben, es durchzuziehen, sollte sich weiterhin nichts ändern. Und sie hielt ihre Versprechen.

Also war es jetzt so weit. Es machte ihr Angst.

Ali zog den olivgrünen Parka enger um ihre Schultern, versuchte so, der herbstlichen Kälte zu trotzen, die aufdringlicher wurde, je tiefer die Sonne sank.

Noch einmal sah sie die Rauchwolke vor sich, die aus dem offenen Küchenfenster gekommen war und sie mit kräuselnden Armen empfangen hatte.

 

Ma“, schrie sie und kramte in fliegender Hast in ihrer Tasche nach dem Schlüssel, während sie durch den gepflegten Vorgarten rannte.

Der schuppige Paillettenkörper der Meerjungfrau schmiegte sich in ihre Hand und sie riss daran, stopfte den Schlüssel ins Schloss.

Angst schnürte ihr mit unsichtbaren Fingern die Kehle zu, als sie durch den Flur stürzte und die Tür zur Küche aufriss. Gerade noch konnte sie ihren Schwung am Türrahmen abfangen, bevor sie über ihre eigenen Füße stolperte.

Sie begegnete dem Blick ihrer Mutter, die mit in die Hüften gestemmten Armen dastand. Missbilligend.

Sie hätte es besser wissen müssen. Ihre Mutter vergaß nichts auf dem Herd.

Was rennst du so?“, wurde sie empfangen. „Und eine Begrüßung habe ich auch nicht gehört!“

Hallo Ma“, seufzte Ali.

Aus dem größten Suppentopf den sie hatten, wurden immer noch Rauchzeichen ins Freie entsandt. Ihre Mutter hatte ihn aufs Fensterbrett gestellt und davor einen Tischventilator platziert, der dem Qualm keine Möglichkeit ließ, in der Küche zu verweilen.

Ali deutete darauf. „Was wird das?“

Die gezupften Augenbrauen ihrer Mutter wurden von einer steilen Falte geteilt. Ihre dunkelrot geschminkten Lippen pressten sich zusammen und ein Kopfnicken signalisierte Ali nachzusehen.

Misstrauisch behielt Ali ihre Mutter im Blick, die ihr Platz machte, während sie auf den Suppentopf zuging.

Die Hände auf die Arbeitsplatte gestützt spähte sie hinein.

Ma!“, schrie sie.

Ihre Finger wollten nach dem roten Einband greifen, doch die Flammen leckten gierig daran, bis sie sie fluchend zurückzog.

Was habe ich dir über Schimpfwörter gesagt?“

Ma ...“, schluchzte Ali nur, sah zu, wie die goldenen Verzierungen sich langsam schwarz färbten und all die Buchstaben sich in Asche verwandelten.

Sie war wie in Trance, konnte den Blick nicht abwenden, bis nur noch sanftes Glimmen die federleichten Papierreste umspielte.

Warum?“, hauchte sie schließlich und suchte durch den Tränenschleier hindurch den Blick ihrer Mutter.

Diese trat auf sie zu.

Weißt du, was hier drin ist?“, fragte sie und tippte Ali mit dem manikürten Zeigefinger an die Stirn. „Nichts als Flausen und Spinnereien. Und das da“, sie zeigte auf den Suppentopf, „macht es nicht besser.“

Wut und Enttäuschung bildeten ein Knäul in Alis Magen.

Was willst du denn noch, Mutter?“ Sie hatte keine Kraft mehr um zu schreien, also flüsterte sie nur. „Ich studiere, habe einen Job um …“

Ihre Mutter schnaubte und Ali ließ die Schultern sinken.

Einen Job in der Tankstelle, bei dem du deinen Kopf die ganze Nacht über mit noch mehr Spinnereien füllen kannst!“

Ali biss sich auf die Lippe und starrte auf den makellos weißen Fliesenboden, denn es stimmte, was ihre Mutter sagte.

Nachts war in Sam´s Tanke nicht viel los und so konnte sie die meiste Zeit hinter der Kasse sitzen und lesen.

Träume sind etwas für Versager ...“, hallte die Stimme ihrer Mutter in ihrem Kopf wider. Weder boshaft, noch enttäuscht, sondern einfach nur kalt. Emotionslos.

Für Ali fühlte es sich so an, als hätte sie treue Freunde verloren. Das waren nicht einfach nur Bücher, bedrucktes Papier.

Das Märchenbuch beispielsweise hatte sie schon seit ihrer Kindheit begleitet. Hatte es geduldig ertragen, wenn Ali den Prinzessinnen, genauso wie den Prinzen, Blumen ins Haar gemalt oder dem Drachen dunkelroten Lippenstift verpasst hatte. Hatte ihre Tränen aufgesaugt, wenn wieder einmal nichts gut genug gewesen war.

Wie konnte es sein, dass sie sich jetzt so allein fühlte?

Ali schlang den Arm um Bo, schmiegte ihren Kopf an den seinen, ließ salzige Perlen in sein Fell kullern. Er hielt still. War einfach für sie da.

Als ihre Tränen versiegten, war die Sonne schon beinahe im See versunken, verwandelte ihn in flüssiges Gold, das von rubinrotem Schilf umrahmt wurde.

„Komm“, sagte Ali und stand auf.

Einmal noch musste sie zurück.


Bo schmiegte sich an ihre Beine, als wolle er sie stützen. In ihrer Hand zerquetschte sie beinahe die Meerjungfrau. Ali lauschte. Es war still. Ihre Mutter ging früh ins Bett. Schlaf war wichtig, sagte sie immer. Ihr war es recht, denn so hatte sie wenigstens Ruhe, wenn sie sich die Decke über den Kopf zog und mit ihrer Taschenlampe Seite für Seite verschlang. Zumindest bis zum nächsten Morgen, wenn sie nicht hochkam, ihre Mutter die Augenringe bemerkte und die dunkelrot geschminkten Lippen zusammenpresste.

Als sie sich endlich überwand und den Schlüssel ins Schloss steckte, kam es ihr so vor, als wäre sie nun einer der Ritter aus dem Märchenbuch.

„Sitz“, flüsterte sie Bo zu, schlich sich dann die Treppe hinauf, vorbei an der Höhle des Drachen.

In ihrem Zimmer angekommen, stand sie eine Weile vor dem leeren Regal, bis sie sich dazu aufraffen konnte, alles Nötige in ihren Rucksack zu stopfen.

Ali lauschte erneut, doch es blieb still.

Die Haustür schloss sich mit einem Klacken hinter ihr und das Triumphgefühl, das ein Ritter jetzt bestimmt empfunden hätte, blieb aus. Vielmehr griff Unsicherheit nach ihr. Die Worte ihrer Mutter drehten sich in ihrem Kopf wie ein Kettenkarussell. Träumerin. Versagerin.

Nein! Ali schüttelte den Kopf.

Das war nur das Bild, das ihre Mutter von ihr hatte, als blicke sie in einen Zerrspiegel, ohne die Möglichkeit, ihre Tochter wirklich zu sehen.

Bo stupste ihr zustimmend in die Kniekehle und Ali ging, ließ den gepflegten Vorgarten hinter sich.


Sam hatte den Rucksack sofort entdeckt. Der alte Mann, dem die Tankstelle ihren Namen verdankte, redete nicht viel. Aber er sah alles.

„Brauch ich nicht“, hatte er gemurmelt, einen Schlüssel aus der Hosentasche gezogen und in ihr vor die Nase gehalten. Für das kleine Zimmer über der Tankstelle. Wie einen Preis für die absolvierte Heldenreise.

Zwei Monate war das jetzt her.

„Aber …“, hatte sie gemurmelt.

„Schreib“, meinte er nur. „Schreib das da drinnen auf.“

Sein runzliger Finger hatte ein warmes Gefühl hinterlassen, als er ihr gegen die Stirn getippt hatte.

„Schenk anderen Träume, die selbst keine haben.“

Und Ali hatte geschrieben, Bo neben ihren Füßen.

Mit einem alten Füller, weshalb jetzt ständig ihre Finger blau waren. Dunkelblau, wie der Nachthimmel, von dem sie gerade den Mondprinzen herabsteigen ließ.

Winzig klein war er, wie der Mond nun mal von der Erde aus aussah, und aus tausenden Lichtpunkten bestand er.

Er setzte sich auf das Fensterbrett, vor das kleine Mädchen, dessen große Augen er zum Glitzern brachte.

„Willst du mitkommen?“, ließ sie ihn fragen.

In ihrem Märchen suchte der Mondprinz nicht nach einer Prinzessin. Nein, Ali war eine bodenständige Träumerin.

Er suchte jemanden, der ihm dabei half, die Sterne jede Nacht zum Strahlen zu bringen. Das war harte Arbeit und versprach wunde Finger, von all dem Schrubben, doch immerhin war man ganz weit weg und der Sternenstaub verfing sich in den eigenen Haaren, bis man irgendwann genauso glitzerte wie der Mondprinz.

 

2. Auroras Tagebuch

von Ursula Kollasch

 

Es ist still im Haus. Allein der nächtliche Ostwind heult um die alte Villa, immer wieder prallt er gegen die Scheiben, rüttelt an den Fensterläden. Die anderen schlafen, während meine Sorge mich nicht zur Ruhe kommen lässt. Im Schein meiner Schreibtischlampe verfasse ich einen Eintrag in mein Tagebuch.

 

5. September 1980

 

Heute habe ich sie kaum zu Gesicht bekommen, sie hielt sich fast die ganze Zeit in ihrem Zimmer auf. Ich muss sie im Auge behalten, weiß nicht, was sie als Nächstes im Schilde führt. Das macht mich nervös …

 

Ich halte beim Schreiben inne, lausche. Habe ich nicht soeben das leise Klappen einer Tür vernommen? Meine Augen schließend balle ich meine linke Hand, um mich besser auf Geräusche konzentrieren zu können, und mir ist, als ob etwas Dunkles, Kaltes durch die Ritzen der Tür hereinweht. Das Böse kriecht durch die Wolle meiner Strickjacke, lässt mich frösteln. Ich kann ihre Nähe spüren. Oder - sind nur meine Nerven überreizt? Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich halte den Atem an, horche weiter.

Knarren auf dem Korridor nicht leise die Holzdielen, als ob jemand darüber schleicht? Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, rieselt, einer Schar langbeiniger Spinnen gleich, meine Wirbelsäule hinab.

Rasch erhebe ich mich von meinem Schreibtisch und hinke, so schnell es mir mein alter Körper erlaubt, zur Tür, ziehe sie einen Spalt auf und spähe hinaus auf den nur von wenigen Nachtlichtern erhellten Flur.

Dort ist niemand, nur ein einzelner, kalter Hauch Zugluft streicht über mein Gesicht.

Vorsichtig gehe ich den Korridor entlang, lausche vor den Zimmern. Nichts.

Vor dem Turmzimmer ganz am Ende des Flures, ihrem Zimmer, bleibe ich stehen und halte wieder den Atem an. Stelle mir vor, wie sie gerade mit funkelnden Augen auf der anderen Seite der Tür steht und mich lautlos auslacht, zwischen uns nur die wenigen Zentimeter Holz. Ja, ich glaube sie zu spüren, es lässt meinen Magen zu Eis werden, zurückweichen und umkehren.

Mit jedem Meter, den ich zwischen uns bringe, schwindet der Druck von meiner Brust.  Wenn sie es soeben gewesen ist, die sich verstohlen auf dem Korridor entlang bewegte – wem hat sie heute Nacht einen unheilvollen Besuch abgestattet? Mein Herz zieht sich zusammen vor Kummer. Ich schließe die Tür zu meinem Zimmer und wünsche mir zum wiederholten Mal, ich könnte sie zusperren. Allerdings besitzt keine von uns einen Schlüssel, zu unserer eigenen Sicherheit, wie Mrs. Fuller erklärt hat. Wenn sie wüsste ...

Wie in Trance lasse ich mich vor meinem Sekretär auf den Stuhl sinken.

Die Kälte, die mich umfangen hielt, ist fort. Meine Hand greift wie von selbst nach dem Füller:

 

Ich muss handeln!! Drei hat sie bereits auf dem Gewissen. Hat sie es auf noch jemanden abgesehen? Wenn - auf wen? Ich muss es herausfinden! Und ich muss ihr endlich Einhalt gebieten. Bevor eine weitere von uns ihr zum Opfer fällt.

 

Ich überlege. Vielleicht sollte ich meine Tagebucheinträge noch einmal von Anfang an lesen, um Klarheit zu bekommen. Um vielleicht etwas zu entdecken oder zusammenzubringen, was ich bisher übersehen habe. Ich schlage das Buch beim ersten Eintrag auf …

 

10. Oktober 1978

 

Seit einer Woche lebe ich nun im „Rosewood Stift“, einem kleinen, privaten Altenheim in der Nähe von St. Catherine an der kanadischen Grenze. Nach dem Tod von Paul, meinem Mann, erkannte ich, dass ich nicht mehr allein wohnen konnte, und es zog mich in meine alte Heimat zurück, in der ich als Kind so glückliche Zeiten verlebte.

Ich fühle mich wohl hier und bin froh, auf diese Einrichtung gestoßen zu sein. Einige Heime hatte ich mir angesehen, doch meine Entscheidung fiel rasch, nach meinen ganz eigenen Kriterien.

Ich habe wahrgenommen, wer die Leiterinnen und Pflegerinnen hinter ihren allseits höflichen Fassaden wirklich sind. Bei manchen sprang mich violette Profitgier, graue Gleichgültigkeit oder schwarzgesprenkelte, eisblaue Gefühlskälte an. Nicht so bei Mrs. Fuller, der Leiterin von Rosewood. Sie ist von einem warmen Braun umgeben, das mir ihre Güte und Zuverlässigkeit verrät. Auch die ihr unterstellten Pflegerinnen sind angenehme Personen.

Nun, dazu muss ich etwas erklären, offenbaren, aber nur dir, meinem Tagebuch. Denn es ist mein Geheimnis, die anderen würden mich für verrückt halten. Zu schmerzlich sind meine Erfahrungen, die ich diesbezüglich im Laufe meines Lebens machen musste. Ich bin anders. Seit meiner frühesten Kindheit kann ich die Auren der Menschen wahrnehmen, sozusagen ihre Seele sehen. Sie zeigen sich mir in Farben und intensiven Sinneseindrücken.

Bevor ich mich damals in Paul als Mann verliebte, verlor ich mein Herz an seine reine Aura, wir waren ein gutes Paar. Sein Tod vor fünf Jahren traf mich zutiefst, ich fiel wie halbiert in ein einsames, schwarzes Loch, vermisse ihn noch immer.

Aber hier in Rosewood bin ich nicht allein, hoffe, bald Freundschaften zu knüpfen. Oh, Schwester Annie geht mit der Glocke über den Flur. Es ist Zeit, mich zum Abendessen in den Speiseraum zu begeben.

 

12. Oktober 1978

 

Heute will ich dir meine ersten Eindrücke von den Mitbewohnerinnen schildern.

Da ist Olga. Obwohl sie vor langer Zeit in die USA eingewandert ist, besitzt ihr Englisch noch immer einen stark russischen Akzent. Sie spricht nur das Nötigste, ist nicht sonderlich beliebt, wegen ihrer knurrigen Art, aber ich mag sie, irgendwie. Ihre Aura gleicht einem verhangenen Novembertag, doch strahlen aus dem Nebel winzige silberne Lichter, wie ferne Sterne. Es sind die wenigen schönen Erfahrungen, die sie in ihrem harten Leben machen durfte, die Erinnerungen daran wahrt sie tief in ihrem Herzen wie einen Schatz.

Dann ist da Claire, zierlich wie ein Vögelchen, eine Wolke weißen Haares umgibt ihren Kopf. Ihre Demenz schreitet voran, oft versinkt sie in ihrer eigenen Welt, ihren Erinnerungen, lächelt nur still vor sich hin, während die Gegenwart ihr nur noch als eine Anhäufung verwirrender Fragmente erscheint. Ihre Aura ist zart und rosig wie die Morgendämmerung, spiegelt ihr kindliches Gemüt wider. Sie träumt von ihrem vor zwanzig Jahren verstorbenen Mann, unterhält sich mit ihm auf zärtliche Weise.

Gerade spielt Olivia Klavier. Die Klänge von Chopin dringen durch die Wand.
Sie war früher eine recht bekannte Pianistin und ihre Aura ist typisch für eine Künstlerin, quecksilbrig schillernd und selbstverliebt, doch zugleich von löchriger Unsicherheit geprägt. In ihrem Zimmer hängen alte Schwarzweiß-Fotografien von ihr und Prominenten. Sie ist höflich, aber reserviert, bleibt meist für sich. Wenn sie einen guten Tag hat, so wie heute, spielt sie nachmittags im Gemeinschaftszimmer für alle, die ihr lauschen wollen.

 

Die Zeilen verschwimmen vor meinen Augen, als ich an die drei Frauen denke, die meine Freundinnen geworden waren.

Ein gequälter Laut entfährt mir. Mit einem Kloß im Hals wische ich die Tränen fort und überblättere die Beschreibungen der weiteren Mitbewohnerinnen, auch die Seiten, auf denen ich die ersten zarten Freundschaftsbande notiert habe. Erst als ich zu dem gewissen Datum komme, halte ich inne. Erkenne allein an meiner hektischen Schrift, wie aufgewühlt und zutiefst verstört ich damals nach der ersten Begegnung mit Martha gewesen war ...

 

20. März 1980

 

Heute haben wir einen Neuzugang bekommen. Als wir wie üblich zur Teezeit im Gemeinschaftssalon versammelt waren, erschien Mrs. Fuller. An ihrer Seite stand eine hochgewachsene Frau mit eisengrauem, streng frisiertem Haar.

„Darf ich vorstellen, Mrs. Martha Lowenstein. Sie zieht heute ein.“

Sobald ich die Neue ansah, die uns milde anlächelte, breitete sich Eiseskälte in mir aus, zog bis in meine Finger- und Fußspitzen und sandte ein schmerzhaftes Prickeln wie von tausend Nadelstichen über meinen Leib.

Mrs. Fullers Stimme, die uns der Reihe nach vorstellte, verblasste an meinem Gehör zu einem dumpfen, entfernten Gemurmel, ich hörte allein meinen Puls pochen, während ich den Blick nicht von Martha Lowenstein abwenden konnte. Selbst im Sonnenlicht dieses strahlenden Märztages war ihre Aura schwarz wie Tinte. Die Dunkelheit umzüngelte sie, während sie da mitten im Raum stand, kerzengerade auf ihren Gehstock gestützt wie ein General auf sein Schwert und ihr Lächeln erschien mir plötzlich wie ein Zähneblecken, ihre Augen reptilienhaft kalt.

Als Mrs. Fuller am Ende der Vorstellungsrunde angekommen war, sagte sie zu Martha: „Niemand erwartet, dass Sie sich die zwölf Namen sogleich merken können. Aber alle werden Ihnen herzlich begegnen, es ist eine sehr nette Gemeinschaft hier bei uns.“

Nun nickte die Lowenstein langsam mit dem Kopf, als sie ihren Blick über uns wandern ließ. Auf mir blieben ihre Augen hängen und verengten sich kurz, dann hob sie ein wenig ihre schmale Oberlippe an, glich einem Raubtier, das Beute wittert. Erneut erschauerte ich. Sie hat mich als das erkannt, was ich bin - so wie ich sie erkannt habe!, durchfuhr es mich.

Bei Gott, wie sehr ich mir wünsche, dass ich mich irre. Doch ich glaube, nie eine schwärzere Seele als ihre gesehen zu haben.

 

22. März 1980

 

Heute hörte ich die Neue zum ersten Mal sprechen. Beim Mittagessen wandte sie sich plötzlich an Olivia, ihre Stimme erklang in liebenswürdigem Tonfall in das Klappern der Bestecke.

„Mrs. Foster, ich möchte Sie bitten, Ihr Klavierspiel am Nachmittag und frühen Abend zu unterlassen. Ich fühle mich gestört.“

Einige blickten von ihren Tellern auf, auch die Angesprochene.

„Weshalb sollten Sie mir Vorschriften machen können?“, erwiderte Olivia scharf, ich sah, dass sie beleidigt war. Doch die Lowenstein lächelte nur und entgegnete: „Ich mache keine Vorschriften, ich äußere lediglich eine Bitte.“

Nun atmete Olivia tief ein und legte ihr Besteck weg. In ihrer Stimme lag unterdrückter Zorn.

„Ich weiß nicht, warum Sie mich hier vor allen angreifen, aber es gefällt mir nicht.“

Damit erhob sie sich und verließ den Raum, während wir anderen in betretenem Schweigen verharrten.

„Wie Sie meinen“, murmelte die Neue, weiter in sich hinein lächelnd, doch in ihren Augen lag ein seltsam starrer Glanz.

 

 

2. April 1980

 

Ich bin so traurig. Heute Morgen herrschte große Aufregung auf dem Flur. Ich wurde geweckt durch eilige Schritte, die erregten Stimmen von Mrs. Fuller und Schwester Grace.

Beim Frühstück eröffnete uns die Leiterin mit traurigem Gesicht, dass Olivia diese Nacht verstorben sei. Wahrscheinlich ein Herzinfarkt. Unfassbar, sie hatte so fit für ihr Alter gewirkt. Wir alle waren schockiert ob des plötzlichen Todesfalls, Schluchzen kam auf.

Martha wandte sich an Mrs. Fuller: „Ein trauriger Tag. Aber - da das Turmzimmer jetzt frei ist: Ich würde gerne dort einziehen.“

Unsere Leiterin gab keine Antwort. Doch nachmittags sah ich die Neue mit Schwester Annie ihre Sachen in das Turmzimmer bringen.

War Olivias Tod ein Zufall? Oder steckt SIE dahinter?

Ich habe Angst. Schreckliche Angst.

 

Meine Augen überfliegen die Einträge, in denen über einen gewissen Zeitraum nichts Besonderes geschah, ich blättere weiter.

 

5. Mai 1980

 

Heute habe ich eine besorgniserregende Beobachtung gemacht. Ich ging über den Flur, um Claire einen Besuch abzustatten. An ihrer offenen Zimmertür blieb ich abrupt stehen.

Meine Freundin saß in ihrem Schaukelstuhl, wippte langsam vor und zurück, vor ihr stand Martha, die mir den Rücken zuwandte. Ich hörte sie sagen: „Oh, wie ich diesen Stuhl bewundere. Er ist wunderschön. Ein Erbstück, nicht?“

Claire nickte wie ein Kind und lächelte. Ich denke, sie hatte sie gar nicht richtig verstanden.

„Was tun Sie da?“, entfuhr es mir scharf.

Die Lowenstein wandte sich um und blitzte mich an, in ihrer Aura sprühten kurz blutrote Funken, bevor sie sich wieder im Griff hatte und lächelte.

„Ich plaudere mit Claire. Sie ist so liebenswürdig, nicht? Bis später, meine Liebe.“

Damit verließ Martha an mir vorbei das Zimmer, ihre Aura streifte mich wie ein frostiger Wind.

Ich mache mir Sorgen um Claire. Was hat Martha vor?? Ich muss auf der Hut sein, sie beobachten. Vor allem nachts auf Bewegungen im Haus achten.

 

11. Mai 1980

 

Ich bin zutiefst erschüttert. Mache mir große Vorwürfe, denn ich habe die letzten Nächte nicht mehr gewacht. Heute Nacht wurden wir alle von Claires Kreischen geweckt. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib.

Als ich über den Korridor zu ihrem Zimmer eilte, glaube ich gesehen zu haben, wie sich die Tür zum Turmzimmer schloss, während einige andere Damen die ihren öffneten und sich mir anschlossen. Schwester Annie war als erste am Zimmer, sie rüttelte an der Klinke und drückte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, doch sie ließ nicht öffnen.

„Robert!“, hörten wir Claire drinnen immer wieder voller Verzweiflung den Namen ihres toten Mannes rufen, gefangen in ihrem Wahn. Es war furchtbar! Dann war plötzlich Ruhe. Kälte wehte unter der Tür heraus, um meine nackten Füße.

Endlich erschien auch Mrs. Fuller. Mit vereinten Kräften schafften es die Schwester und die Leiterin, die Tür aufzudrücken, eine Kommode war von innen vorgeschoben. Das Zimmerfenster stand offen, die Vorhänge blähten sich im kühlen Nachtwind. Meine schlimmste Befürchtung wurde wahr.

Claire ist tot, aus dem zweiten Stock in die Tiefe gestürzt - gesprungen? - direkt auf die dolchartigen Spitzen des schmiedeeisernen Zaunes.

Was hat SIE nur mit der armen Claire gemacht, dass diese derart in Panik ausbrach??

 

7. Juni 1980

 

Merkt denn keiner außer mir, wer oder was Martha ist? Nein, sie verstellt sich zu gut, agiert zu geschickt.

Heute, nach dem Essen, als die meisten ihren Mittagsschlaf hielten, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und ging zum Turmzimmer, um sie zur Rede zu stellen. Die Tür stand einen Spalt offen.

Als ich Martha sah, setzte mein Herz einen Schlag aus, um danach heftig zu klopfen. Sie saß in Claires Schaukelstuhl - sie hat ihn sich wirklich geholt! - die Hände um die Lehnen gekrallt, und lachte vor sich hin, ohne dass ein Ton ihren Lippen entwich.

Dann

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ursula Kollasch, Tess M. Heingand, Karin Hufnagel, Brigitte Voß, Ralf von der Brelie, Matthias März und Bert Rieser
Bildmaterialien: Manuela Schauten
Cover: Manuela Schauten
Lektorat: Michaela Haidenthaller / Andreas Jurat/ Sissi Kaiserlos/ U. Kollasch
Satz: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 06.11.2020
ISBN: 978-3-7487-6364-2

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