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Luise von Ahsen saß zurückgelehnt auf ihrem Sessel vor dem Kamin, die Lider geschlossen.
Ihr Gesicht spiegelte die Empfindungen wider, die die ergreifenden Klänge von »La Traviata« in ihr hervorriefen. Wie immer versetzte die gewaltige Stimme der Callas ihr Herz, ihre ganze Seele, in erregende, wohlige Schwingungen.
Als ihre Lieblingsarie vorüber war, schlug sie die Augen auf und blickte ins Kaminfeuer, das seine Wärme auf sie abstrahlte. Heute hatte sie zum ersten Mal in diesem Jahr ein Feuer entzündet, es wurde Herbst.
Früher hatte das immer ihr Werner gemacht, doch seit dessen Tod vor fünf Jahren musste sie alle Entscheidungen allein treffen. Sie vermisste ihn.
Einen Blick auf sein gerahmtes Foto auf dem Kamin werfend griff sie nach ihrem Glas Rotwein und nippte daran, als Cassy, ihre Pekinesenhündin, sich vom Perserteppich erhob, zu fiepen begann und sie mit einem bettelnden Blick bedachte. »Schätzchen, musst du raus?«, flötete ihr Frauchen und strich ihr zärtlich über den Kopf. Cassy stieß ihr hohes Kläffen aus und trippelte in Richtung Eingangshalle. Seufzend stand auch die Hausherrin auf, streckte ihren Rücken durch, spürte ihre Knochen ächzen. Sie stellte die Musik aus. Schlagartig wurde es so still in ihrem Wohnzimmer, dass sie allein das Knacken der brennenden Holzscheite vernahm.
Na, dann würden sie mal ihren abendlichen Gang machen.
Sie folgte ihrer Hündin zur Haustür, legte sich ihr Kaschmircape um die Schulter und öffnete die Tür, Cassy flitzte sofort hinaus. Auch Luise trat in die kühle, frische Abendluft, nahm einen tiefen Atemzug und spazierte los.

 

Es war bereits dunkel. Das Licht der Straßenlaternen beleuchtete die gepflegte Hecke, an der sie vorüberschritt, doch die Villa ihrer Nachbarn lag im Dämmerlicht.
Ja, es wurde wirklich Herbst, dachte sie, als eine kalte Bö über sie hinweg fuhr und sie ihr Cape enger um Schultern und Hals schlingen ließ.
Cassy taperte am Boden schnuppernd vor ihr entlang. Plötzlich spitzte die Hündin die Ohren, dann kläffte sie zweimal und schoss durch die Buchsbaumhecke.
So folgsam die Pekinesendame sonst auch war, wenn sie eine interessante Witterung aufnahm, war sie nicht zu halten.
»Cassy!«, rief Luise. »Cassy, komm zurück!« Doch das Tier war auf dem Nachbargrundstück verschwunden. Luise wartete einen Moment, rief noch einmal. Etwas ungehalten zögerte sie vor der Pforte, dann gab sie sich einen Ruck und betrat das Anwesen von Dr. Fischer und seiner Familie. Wieder rief sie - möglichst leise - ihre Hündin, nun schwang schon mehr Ärger in ihrer Stimme mit. Die Fischers waren erst vor ein paar Monaten in diese ruhige Straße in Berlin-Grunewald gezogen.
Sie hatten sich bei allen Nachbarn mit ihren beiden Töchtern vorgestellt, auch bei Luise. Dr. Carsten Fischer arbeitete als Oberarzt in der Charité, seine Frau Anja war Psychologin. Eine nette Familie, wie sie fand, doch sie kannte sie natürlich noch nicht gut genug, als dass sie es für angebracht hielt, jetzt ungebeten auf deren Grundstück herumzuschleichen. Die beiden Lampen vor der Haustür verströmten nur wenig Licht. Die Vorhänge hinter der einen Spalt geöffneten Schiebetür zur Terrasse waren zugezogen, dahinter war der Raum erleuchtet.   
Luise blieb stehen, kniff die Augen zusammen. Sie glaubte, das weiß-braune Fell ihrer Cassy in der dunklen Blumenrabatte auszumachen und näherte sich. Hoffentlich buddelte sie nicht gerade ein Loch im Beet. »Cassy, hierher!«, flüsterte sie energisch. Endlich folgte ihre Hündin ihrem Befehl. In diesem Moment hörte Luise es. Und es ließ sie innerlich wie äußerlich versteifen.

 

»Drecksack, verdammter!«, hörte sie Frau Fischer keifen. »Du kotzt mich an!«

»Was?!«

»Du kotzt mich an!« Weiter stritt das Ehepaar hinter der Fensterfront. Luise, als ungewollte Zeugin dieser Auseinandersetzung, stand fassungslos und unfähig, sich zu bewegen. Nun tauchten zwei schwarze Silhouetten hinter dem Vorhang auf. Nicht nur die Stimmen waren von einer bedrohlichen Heftigkeit, auch ihre Bewegungen zeugten davon. Der größere Schatten, Dr. Fischer, beugte sich dem Kleineren wutentbrannt entgegen. Luise konnte geballte Fäuste erkennen.
»Du Schlappschwanz!« Anja Fischer ließ ein höhnisches Lachen erklingen, woraufhin ihr Mann sie an den Schultern packte und zu schütteln begann. Dann zerrte er die Aufschreiende am Handgelenk aus dem Sichtfeld. Schlug er sie etwa? Es klirrte, als wäre etwas zu Bruch gegangen, während sich das Paar mit Ausdrücken anging, die an Unflätigkeit zunahmen. Luise legte sich die Hand vor den Mund, ihr Herz schlug schneller und schneller – wie ein Frachtzug, der führerlos die Schienen entlang raste. Eiseskälte griff mit unsichtbaren dürren Fingern nach ihr.
Sie spürte einen Stich in ihrer Brust und es fühlte sich an, als hätte sie jemand von hinten überfallen und drückte ihr die Kehle zu. Ganz gleich, wie sehr sie versuchte, die Erinnerungen fernzuhalten – die Geister der Vergangenheit klopften an die Tür. Forderten Einlass.
Luise keuchte. Langsam bewegte sie sich rückwärts, dann drehte sie sich endlich um. »Komm, Cassy!«, wisperte sie mit einer Stimme, die ihr kaum gehorchen wollte, und hastete zurück auf die Straße, zu ihrem Haus. Erst nach dem dritten Anlauf brachte sie mit zitternden Fingern den Schlüssel ins Schloss und flüchtete in ihr Heim, lehnte sich mit geschlossenen Augen, noch immer heftig atmend, an die Tür.
Konnte das denn möglich sein? Hier, in diesem friedlichen Viertel, in ihrer beschaulichen Straße? Gewalt? Und diese vulgären Worte! Nie hätte sie ein derart ordinäres Verhalten, solch ein emotionales Entgleisen diesem adretten Paar zugetraut. Aber lauerten Gewalt und Böses nicht überall, auch hinter den gediegendsten Fassaden?
Oh Gott, die Kinder. Ihre armen, armen Kinder. Sie wusste, dass die ältere Tochter Caroline hieß und sechzehn war.
Und die jüngere, Victoria, war gerade in die fünfte Klasse gekommen. Ob der Vater auch die beiden misshandelte? Ob sie diesen fürchterlichen Streit gerade mitbekamen? Sie lagen bestimmt in ihren Betten, es war Sonntag, fast 22 Uhr, sie mussten beide Morgen früh raus zur Schule. Fürchteten sich die Mädchen gerade? Oder waren sie abgestumpft, war dieses schockierende Verhalten ihrer Eltern vielleicht gar nichts Neues für sie?
Luise rang ihre Hände und bewegte sich wie in Trance in ihr Wohnzimmer. Cassy begleitete sie, begann neuerlich zu fiepen, spürte die innerliche Aufregung ihres Frauchens. Die alte Dame ließ sich auf ihren Sessel sinken, legte eine Hand auf ihr Herz. Die grauenhaften Erinnerungen stoben nun durcheinander wie aufgescheuchte Fledermäuse. Die Geister hatten die Tür wieder aufgestoßen.
Damals hatte sie als Zehnjährige beim Abendbrot mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester gesessen. Still war es gewesen, denn ihre strenge Mutter legte Wert auf gute Manieren und Schweigsamkeit bei den Mahlzeiten.
Doch die Stille war immer wieder von schrecklichen Geräuschen und Gebrüll aus der Nachbarwohnung durchbrochen worden. Es war die mächtige Stimme ihres Nachbarn, Herrn Kessler, gewesen, der seine Frau jedoch nicht nur anschrie. Deutlich waren das Rumpeln und ihr jämmerliches Klagen und Schreien durch die Wand zu vernehmen gewesen.
Luises Mutter hingegen hatte so getan, als würde das alles nicht stattfinden.
Während sich die Geschwister angstvolle Blicke über den Tisch zugeworfen hatten, wenn wieder ein Möbelstück - oder Frau Kessler? - dumpf gegen die Wand krachte. Es war keine einmalige Ruhestörung gewesen, fast jeden Abend war das so gegangen.
Luise erinnerte sich genau daran, wie sich ihre Brust zusammengezogen und sie vor Furcht und Mitleid kaum einen Bissen hinunterbekommen hatte. Wie das Bild des Mannes in ihr aufgestiegen war, der dort nebenan tobte, und das seiner Frau, die so oft Blessuren im Gesicht trug.
Eines Abends war es derart schlimm gewesen, dass sie ihr Besteck niedergelegt und ihre Mutter voller Furcht angestarrt hatte. Als diese nicht darauf reagierte, hatte sie all ihren Mut zusammengenommen und mit klopfendem Herzen geflüstert: »Bitte, tu etwas. Er bringt sie um!« Ein mahnender Blick aus kühlen Augen hatte sie getroffen. »Schweig, Kind. Das geht uns nichts an. Verschließe deine Ohren und iss.«
Von Scham erfüllt hatte Luise den Blick auf ihren Teller gesenkt.
Nur wenige Wochen später war die Nachbarin tot gewesen. Sie wäre die Treppen hinabgestürzt, hatte es geheißen, doch Luise hatte es besser gewusst, heimlich geweint und sich noch mehr geschämt, hatte Schmerz in ihren Eingeweiden gespürt, als ob ein dürrer, langer Hexenfinger sich voller Grausamkeit in sie gebohrt hätte.

Ob ihr Vater, wenn er damals noch gelebt hätte, eingeschritten wäre?, hatte sie sich oft gefragt.

    Dieses furchtbare Erlebnis hatte ihr Leben geprägt. Heute war ihr bewusst, dass sie als Kind nichts hatte tun können. Doch nie wieder, so hatte sie sich geschworen, wollte sie dieses Gefühl von Schuld und Feigheit, von ohnmächtiger Hilflosigkeit verspüren. Wie auch immer, sie würde handeln, zumindest versuchen, einzugreifen. Und diesem Vorsatz war sie, vor allem später als selbstbestimmte Erwachsene, treu geblieben.
Oft hatte sie sich in ihrem Leben in Auseinandersetzungen eingemischt, einmal eine Mutter, die ihr Kleinkind auf offener Straße schlug, zurechtgewiesen.
Einen Teil ihres Vermögens, das sie und Mann ihr eigen nannten, hatten sie auf ihr Drängen hin dem Kinderschutzbund und Frauenhäusern gespendet.
Doch was sollte sie jetzt tun? Die Polizei rufen? Was, wenn die Fischers die Tür öffneten und alles abstritten? Auch sie hatte sie zuerst für nette Menschen mit Anstand und Manieren gehalten. Unglaublich! Die Polizisten würden die Nachbarn darüber aufklären, von wem sie den Hinweis erhalten hätten. Und dann? Oh Gott. Sie würde als Denunziantin dastehen. Und was, wenn es nur ein einmaliger Streit war? Wirkten die Fischers - nach außen hin - nicht immer wie eine harmonische Familie? War das heute Abend nur ein »Ausrutscher« gewesen?
Luise hob die Hände an die Wangen, unbewusst entfloh ihrer Kehle ein Wimmern. Cassy sprang auf ihren Schoß und leckte ihr über das Gesicht, seelenvoll blickten die braunen Augen ihrer Hündin sie an.
»Oh, meine Liebe, was soll ich nur tun?«
Sie musste herausfinden, was dort drüben wirklich los war, auch wenn es ihr widerstrebte, denn sie hielt sich keineswegs für eine Schnüfflerin.  

    Am nächsten Morgen fühlte sich Luise wie zerschlagen. Sie hatte schlecht geschlafen, war von Albträumen heimgesucht worden. Dennoch stand sie wie jeden Tag um sieben Uhr auf.
Beim Frühstück ließ sie ihre Eindrücke Revue passieren. Reagierte sie vielleicht über?
Nein, sie hatte den Hass gespürt, der von dem Paar ausgegangen war. Sie musste sich noch einmal ein Bild von der Familie machen. Vielleicht traf sie auf die Fischers, wenn sie jetzt gleich mit Cassy spazieren ging. Wochentags verließen sie meist alle zur selben Zeit morgens das Haus. So stellte sie ihre Tasse Kaffee auf den Tisch, schlüpfte in ihren Mantel und leinte die Hündin an.
Als sie an der Einfahrt der Nachbarn vorüberschritt, fuhr der Doktor gerade mit seinem Wagen hinaus. Er hob grüßend die Hand, als er sie passierte. Luise stand wie erstarrt, blickte seinem Mercedes nach.
Das elektrische Tor der leeren Doppelgarage schloss sich. Frau Fischer hatte sich also schon vor ihrem Mann auf den Weg gemacht.
In diesem Moment öffnete sich die Haustür und die ältere Tochter trat heraus. Sie hatte einen Schulrucksack geschultert und blickte recht missmutig, als sie sich auf ihre Vespa zubewegte, mit der sie täglich zur Schule fuhr. Luise fasste sich ein Herz und trat ein paar Schritte auf das Mädchen zu.
»Guten Morgen, Caroline«, sagte sie. Cassy zog schwanzwedelnd an der Leine.
»Guten Morgen, Frau von Ahsen«, antwortete das Mädchen, ohne sie anzusehen, während es auf seinen Roller stieg und seinen Helm ergriff.
»Du ... sag mal ...«, druckste Luise herum. Endlich wandte sich die Jugendliche ihr zu.
»Es war gestern so ... wie soll ich sagen ... so laut bei euch. Ist ... Haben deine Eltern ... «
Sie verstummte, als sie sah, wie sich Carolines Gesicht verhärtete, spürte, wie sie unter dem Blick des Mädchens errötete und trat ein paar Schritte zurück.
»Verzeihung. Ich wollte nicht neugierig erscheinen.«
»Nein, sicher wollten Sie das nicht«, erwiderte Caroline, obwohl ihr Gesichtsausdruck das Gegenteil aussagte. Der alten Dame noch einmal kühl zunickend setzte sie ihren Helm auf und brauste davon.
Luises Wangen brannten. Das hatte sie dumm angefangen.
Über sich selbst den Kopf schüttelnd setzte sie ihren Weg mit Cassy fort.

Nachmittags harkte Luise im Garten Laub zusammen. Noch immer kreisten ihre Gedanken um die Nachbarn. Und gerade, als sie an die jüngere Tochter, Victoria, dachte, ging diese vor ihrer Hecke vorbei. Luise zuckte zusammen, als sie dem Kind ins Gesicht blickte. Ein blaugrünes Hämatom zog sich über ihren linken Wangenknochen. Das Mädchen hielt die Augen auf den Gehweg gerichtet, als es vorbeitrottete. Luise schluckte. Hob an, etwas zu sagen. Erinnerte sich an ihr ungeschicktes Vorgehen bei der Schwester am Morgen und zögerte. Zu lange. Schon war das Mädchen an ihrem Garten vorbei und verschwand in seiner Einfahrt.
Luise ballte ihre Hände zu Fäusten, presste die Lippen zusammen. Ein Cocktail aus Wut und Trauer stieg in ihr auf, füllte ihre Brust fast zum Zerbersten, sie spürte, wie sich ihre Haut vor Zorn zusammenzog. Ihr war es nicht vergönnt gewesen, Kinder zu bekommen, obwohl Werner und sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatten. Und andere Menschen, denen dieses Geschenk zuteilwurde, wussten es nicht zu schätzen, behandelten ihre Kinder schlecht. Welch unnötige Gewalt, anstatt jeden Tag dankbar zu sein.
Sie musste handeln!

    Luise konnte ihre Unruhe nicht niederkämpfen. Statt es sich, wie sonst abends, in ihrem Wohnzimmer gemütlich zu machen, tigerte sie dort hin und her, auch ihre Musik hatte sie nicht beruhigen können. Plötzlich blieb sie stehen, atmete einmal tief durch und machte sich auf den Weg.
Sie tat etwas, was sie in ihrem 75-jährigen Leben noch nie getan hatte: Sie spionierte. Pirschte sich wie eine Jägerin an die Terrasse der Fischers heran. Der angrenzende Raum war wie am Abend zuvor hinter den zugezogenen Vorhängen erleuchtet. Ganz nah schob sie sich an das Fenster heran und lauschte mit klopfendem Herzen. Wartete. Ein Schatten bewegte sich hinter dem Store, Luise zuckte ein wenig zurück. Horchte weiter.
Da! Schon wieder! Selbst durch die diesmal geschlossene Schiebetür vernahm sie zwar gedämpft, doch nicht minder bedrohlich, dass sich die Eheleute erneut stritten. Luise fröstelte nicht nur wegen der herbstlichen Witterung. Jetzt lachte Frau Fischer wieder ihr herabsetzendes Lachen. Warum provozierte sie ihren Mann nur so? Würde er gleich wieder die Beherrschung verlieren?
Himmel! Was Luise jetzt sah, ließ ihren Atem stocken und ihren Magen zu Eis werden. Sie erkannte, was Dr. Fischer in seiner Hand hielt, einen Knüppel oder ein Gewehr!

    Sie wirbelte auf dem Absatz herum und hastete zur Haustür. Ihr Herz schlug Salti in ihrem Körper, das Blut rauschte in ihren Ohren. Mit bebenden Fingern drückte sie auf den Klingelknopf. Während sie versuchte, ruhig und flach zu atmen, zählte sie. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs ...
Die Tür wurde geöffnet. Carsten Fischer stand im Türrahmen, eine Strähne seines sonst akkurat frisierten Haares war ihm ins Gesicht gefallen. Genau wie sie versuchte er, seinen beschleunigten Atem zu unterdrücken.
»Ja, bitte?«, fragte er und sah Luise abwartend an. Die sprudelte los:
»Dr. Fischer, bitte, hören Sie mich an: Sie und Ihre Frau, Sie haben sich doch sicherlich einmal sehr geliebt. Und Sie lieben doch Ihre Kinder! Ich bin zufällig Zeugin Ihrer ... Ihrer Auseinandersetzungen geworden. Und heute Nachmittag, da sah ich Ihre Victoria, das arme Kind! Schlagen ist strafbar. Gewalt ist kein Mittel! Holen Sie sich Hilfe, bitte!«
Heftig atmend verstummte sie, wappnete sich, straffte ihre Schultern. Sie würde sich seiner Wut oder seinen Lügen, je nachdem, entgegenstellen. Nicht zurückweichen. Sie bohrte ihre Augen in seine und - sah ihn vollkommen überrascht, nahezu fassungslos. Sein Mund stand offen.
»Aber Frau von Ahsen ... wie kommen Sie darauf, dass wir unsere Kinder schlagen?«
Im Hintergrund tauchte seine Frau auf, stellte sich neben ihren Mann. »Guten Abend. Carsten, warum bittest du unsere Nachbarin nicht herein?«
Verwirrt blickte Luise vom einen zum anderen. Waren sie so brillante Schauspieler? Oder war ihr Verhalten für sie schon normal, dass sie sich derart abgebrüht verhielten?
Der Doktor ergriff wieder das Wort, er schien sich ein wenig gesammelt zu haben.
»Oh, ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen, herrje. Kommen Sie bitte, treten Sie ein. Wir werden es Ihnen erklären. Es ist nicht so, wie Sie denken, wirklich nicht.«
Luise zögerte, doch die Gesichter des Paares wirkten freundlich. Unsicher betrat sie die Diele, doch setzen wollte sie sich nicht. Erst, als Doktor Fischer ihr erklärte, dass er und seine Frau sich als gemeinsames Hobby einer Laienspielgruppe angeschlossen hatten und momentan Auszüge aus dem Stück „Wer hat Angst vor Virginia Woolfe?“ probten, bekam Luise plötzlich weiche Knie.
»Ich glaube, ich muss mich doch setzen.«
Frau Fischer führte sie ins Wohnzimmer, in dem wirklich ein Gewehr an einem Flügel lehnte. Eine Requisite, wie sich Luise erinnerte, die die Verfilmung des Psychodramas mit Liz Taylor und Richard Burton kannte. Auch die vulgären Wortwechsel kamen ihr plötzlich bekannt vor.
»Ach, und das Hämatom auf Vickys Wange: Das hat sie sich beim Hockey geholt. Sie spielt in der Schulmannschaft und hat aus Versehen von einer Gegnerin den Schläger abgekriegt. Ganz schön ruppiger Sport, doch unsere Kleine ist trotz ihrer Zierlichkeit nicht davon abzubringen.« Frau Fischer lächelte mit einem gewissen Stolz.
»Gestern und heute schläft Vicky übrigens bei Ihrer Oma. Sie muss nicht mitbekommen, dass wir uns hier, wenn auch nur gespielt, so angiften. Meine Mutter bringt sie morgens zur Schule. Die Große findet unser Hobby eher peinlich, wenn wir proben, steckt sie sich ihre Knöpfe ins Ohr und blendet uns einfach aus«, ergänzte Dr. Fischer.
Luises Wangen brannten vor Scham. »Was denken Sie jetzt nur von mir! Wie eine schlechte Miss Marple-Kopie bin ich heute Abend durch Ihren Garten geschlichen und habe gelauscht. Ich schäme mich. Auch Ihre ältere Tochter habe ich heute Morgen angesprochen, vielleicht hat Sie es Ihnen erzählt? Sie müssen mich für ein schrecklich neugieriges, impertinentes altes Weib halten.«
Luise machte Anstalten, sich zu erheben, wich den Blicken aus. »Ich gehe jetzt besser. Doch zuvor möchte ich Sie aufrichtig um Verzeihung bitten und Ihnen versichern, dass ich mich in Zukunft von Ihnen fernhalten werde.«
Frau Fischer legte Luise ihre Hand auf den Arm und drückte sie sanft zurück auf das Sofa.
»Nein, bitte, bleiben Sie. Ehrlich gesagt: Ich finde Sie ausgesprochen couragiert. Unsere vermeintliche Streiterei und Gewalt, das lädierte Kind. Ihr Verdacht war gerechtfertigt! Doch nicht jeder hätte den Mut besessen, bei uns zu klingeln und uns zur Rede zu stellen.«
»Anja hat Recht. Wissen Sie, als Sie da vor der Tür losgelegt haben, hatte ich sogar ein wenig Angst vor Ihnen. Sie blitzten wie eine rächende Nemesis.«
Er hielt inne, als sich Luises Wangen wieder dunkel färbten.
»Oh, so war das nicht gemeint. Was ich eigentlich sagen wollte: Ich bewundere solches Engagement, wirklich. Es gibt zuwenig Menschen mit Zivilcourage. Darf ich Ihnen etwas zu Trinken anbieten? Wir möchten mit Ihnen auf gute Nachbarschaft anstoßen.«
Und nun sagte Luise etwas, was sie in ihrem Leben ebenfalls noch nie geäußert hatte: »Ich glaube, ich brauche jetzt etwas Starkes! Besser gleich einen Doppelten.«

 

 Nachdem sie die alte Nachbarin eine Stunde später an der Tür verabschiedet hatten, kehrte das Paar ins Wohnzimmer zurück.
»Glaubst du, die alte Schachtel hat's uns abgekauft?«, fragte Carsten Fischer mit nachdenklichem Gesichtsausdruck. »Hab‘ keine Lust, dass wir schon wieder umziehen müssen.«
»Denke schon, aber wir müssen die Mädchen einnorden«, erwiderte seine Frau, nun ebenfalls in gänzlich anderem Ton, um sich ihm dann zuzuwenden. In ihre Augen trat ein starrer Glanz.
»Sie blitzten wie eine rächende Nemesis ... oh, ich bewundere solches Engagement, es gibt zuwenig Menschen mit Zivilcourage!«, äffte sie ihn nach, die Verachtung in ihrer Stimme war dunkel und beißend wie Teer. Dann stieß sie ein kehliges, hartes Lachen aus. »Nun, wenn du willst, kannst du wirklich perfekt den harmlosen Schlappschwanz geben!« Sie streckte die Brust raus, leckte sich provokant über die Lippen. »Los, zeig mir, wie du wirklich bist!« Mit wenigen Schritten war er bei ihr, packte hart ihr Kinn und brachte sein Gesicht direkt vor ihres. In seinen wie auch ihren Augen loderte das irre, grausame Verlangen, das sie immer ergriff, wenn sie so miteinander sprachen. »Ja, zeig’s mir, Drecksack, oder hast du keine Eier ... « Er riss ihren Kopf an den Haaren nach hinten ...








 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.01.2020

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb Januar 2020 mit dem Thema "Unnötige Gewalt"

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