Vier Uhr in der Frühe. Der Horizont hatte die Farbe eines glühenden Holzkohlestücks in warmer Asche angenommen.
Strahlendes Frühlingswetter würde heute der größtenteils noch schlafenden Bevölkerung von Ebersdorf den Sonntag versüßen, doch jetzt war die Luft nächtlich frisch.
Die Vögel schmetterten ihre Morgenlieder, wurden jedoch mühelos von der kleinen Gruppe übertönt, die die menschenleere Hauptstraße entlangflanierte. Das Klackern ihrer Absätze hallte von den Fassaden der Häuser wider, wie ihr Lachen und gelegentliches Grölen. Alle hatten sie die Dreißig längst überschritten, benahmen sich allerdings wie Teenager, die das erste Mal einen Rausch erlebten.
»Was für ein gottverlassenes Kaff!«
Ralf drehte sich einmal um die eigene Achse, während er die Schachtel Zigaretten aus der Innentasche seines Armani-Sakkos zog. Um einiges lauter rief er zu den dunklen Fenstern hinauf: »Hört ihr? Was für ein dämliches Kaff ist das hier?!«
Eine gewisse Aggressivität schwang in seiner Stimme mit. Sandra kannte das von ihm, wenn er getrunken hatte, beobachtete, wie er sich die Zigarette ansteckte und tief inhalierte.
»Psst, nicht so laut«, zischte Julia. Aber ihr halbherzig vorgebrachter Einwand hielt ihren Freund Michael nicht davon ab, es Ralf gleich zu tun, wobei er weitaus stärker lallte. »Ihr klappt wohl am Wochenende die Bürgersteige um 19 Uhr hoch! Ihr Landeier!«
Hinter ihnen her schwankte Thorben, dessen Ehefrau sich schon vor Stunden auf das Hotelzimmer zurückgezogen hatte. Er stolperte, prallte gegen einen Baum. Das, sowie sein meckerndes Gelächter, in das Michael einfiel, ließ ein paar Tauben aufflattern.
Die beiden Frauen fröstelten in ihren dünnen, kurzen Kleidern, der über den Abend reichlich konsumierte Alkohol konnte die Kälte nicht ausblenden.
Nun blieb auch noch Julias rechter Absatz im Kopfsteinpflaster stecken und sie knickte mit dem Fuß um, an dem sich sowieso schon schmerzhafte Blasen befanden. »Au!«
Einen Fluch unterdrückend blieb sie stehen, fasste nach ihrem Knöchel. Da Michael nicht wartete, humpelte sie mit zusammengebissenen Zähnen weiter vorwärts, schloss wieder zur Gruppe auf. Fragte sich, wie Sandra - die einige Champagnercocktails mehr intus hatte - es schaffte, auf ihren mörderisch hohen Manolo Blahniks mit der Grazie eines Models zu laufen.
Innerlich seufzte Julia. Um wie viel lieber läge sie jetzt im Hotelbett, statt auf dieser verlassenen kalten Straße zu frieren. Sie war hundemüde, aber sie hatte Michael nicht allein weiterziehen lassen wollen. Er wurde unberechenbar, wenn er diesen Pegel hatte. Manchmal geriet er in Schwierigkeiten ...
Die Fünf waren befreundet, Arbeitskollegen des Brautpaares und am gestrigen Nachmittag gemeinsam aus dem hundert Kilometer entfernten Köln angereist. Nun bildeten sie den Rest der Hochzeitsgesellschaft, die sich vor einer halben Stunde aufgelöst hatte. Die Feier hatte im Schloss-Hotel Ebersdorf stattgefunden. Ein stilvoller, fast dekadenter Rahmen.
Der Ort selbst hingegen hatte - wie die feierhungrige Gruppe rasch feststellte – nicht viel zu bieten. Ein typisches Dorf eben.
Nichtsdestotrotz, vor allem die drei Männer wollten noch nicht ins Hotel zurückkehren. Aber wo bekam man in dem armseligen, spießigen Nest jetzt ein paar Absacker?
Ihr Blick fiel auf eine Leuchtreklame über einem Eingang. »Bei Harry«. Eine Kneipe.
»Was für eine miese Pinte«, spuckte Sandra verächtlich hervor, als die Männer auf die Tür zusteuerten.
»Ja, aber als einzige noch geöffnet. Hab' dich nicht so, Lady Chatterly«, neckte Ralf und legte ihr den Arm um die Schulter. Mit der anderen Hand tätschelte er ihren Hintern unter dem Rock.
»Lass das!«, quiekte sie und schlug seine Hand fort, doch ihre Stimme klang eher erregt. Sie hatte vorhin auf der Marmorablage im Damen WC eine Linie Koks geschnupft, und das Zeug machte sie immer scharf.
Michael betrat als Erster den schummerigen Schankraum, in dem es wie in allen Kneipen roch: muffig, nach jahrelang verschüttetem Alkohol, Zigarettenrauch. Schlager-Musik rieselte aus den Boxen.
An der Theke hing der typische Trinker auf einem Hocker. Sein Kopf ruhte auf dem Tresen, neben ihm qualmte der Rest einer Kippe im Aschenbecher. In der Spelunke wurde geraucht, wie vor Jahren. Überhaupt verbreitete die Einrichtung den fragwürdigen »Charme« der 80er.
Ein dicker Wirt polierte Gläser. Sandra blickte sich angeekelt um, auf dem Tresen prangten Bierränder und Pfützen, den Zustand der Toiletten wollte sie sich nicht ausmalen.
Missbilligend beobachtete sie, wie Michael sich auf einen Hocker gleiten ließ und die Unterarme auf der Theke mitten auf einer Lache ablegte, ein bierseliges Grinsen im Gesicht.
»Hi, Chef, hier gibt’s sicher noch was?«, fragte Ralf in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete, und inspizierte den Sitz neben dem Freund, bevor er sich darauf niederließ. Der Wirt stellte das Glas ins Regal, dann stützte er seine Pranken auf den Tresen und nickte.
»Ah, nicht sonderlich gesprächig, der Gute«, wandte sich Ralf an die anderen. »Was wollt ihr trinken?«
»Champagnercocktails wird’s hier kaum geben«, sagte Sandra in affektiertem Tonfall, bevor sie sich eine Zigarette anzündete.
»Doch, die gibt’s. Fünf?«, war zum ersten Mal die Stimme des bulligen Kneipiers zu vernehmen.
Sandra blickte überrascht auf, Ralf schnalzte anerkennend mit der Zunge.
»Wer hätte das gedacht ... Jep, fünf Champagnercocktails für die erste Runde. Bin heute in Spendierlaune, Mädels! Vorab eine Flasche weißen Tequila, hombre!«
Während sich der Wirt an die Arbeit machte, setzte sich auch Thorben. Er schielte schon leicht.
Nur die beiden Frauen blieben stehen. Sandra strahlte Gereiztheit aus, Julia wirkte eher verloren.
»Na, auf die Cocktails bin ich aber gespannt ... Harry. Du bist doch Harry, oder?«, frotzelte Michael, als der Wirt die Flasche und die Schnapsgläser mit Zubehör vor ihnen auf die Theke stellte.
Ohne zu antworten mixte er mit ausdruckslosem Gesicht die Cocktails. Seine Gäste sahen, dass er tatsächlich Champagner und keinen Hausmarke-Sekt verarbeitete.
Ralf schenkte ihnen Tequila ein, Thorben bediente sich an Zitrone und Salz.
Michael ließ seinen Blick durch den Raum schweifen, hielt inne und begann glucksend zu kichern.
»Was ist das denn?«
Er stieß Ralf an. Alle wandten sich um.
»Ich glaub’s nicht, eine waschechte Tunte! Und das in diesem Spießernest!« Mit einer ironischen Verbeugung prostete er zum Ecktisch.
Dort saß eine auf den ersten Blick weibliche Person, die eine Bienenkorbfrisur trug. Sie rauchte eine Zigarette in einer Spitze. Unter dem Minirock schauten ein paar lange, überschlagene Beine hervor. Die Füße in den roten Plateauschuhen wippten zum Takt von Marianne Rosenbergs »Er gehört zu mir.«
Beim zweiten Hinsehen erkannte man den männlichen Torso und Hals, die maskulinen Gesichtszüge unter der Schminke. Die tätowierten Oberarme sahen ebenfalls nicht nach einer Lady aus und das aufgetürmte, schwarze Haar war eindeutig eine Perücke. Letzte Gewissheit gab die tiefe Stimme, die nun geziert zu ihnen sprach, schleppend, als hätte der Gast schon einige Drinks intus.
»Aber, aber Herzchen! Tunte - was für ein böser Ausdruck. Passt nicht zum Repertoire eines Mannes, der der Oberschicht angehören will! Jedes Wort ist ein Vorurteil. «
Der Transvestit neigte kokett den Kopf zur Seite, hauchte aus roten Lippen einen Rauchkringel in ihre Richtung, dann zwinkerte er Ralf zu. »Ich heiße Apollonia.«
Michael kippte den Tequila hinunter, wackelte vergnügt mit den Brauen und sah seinen Freund über den Rand des Glases hinweg feixend an.
»Scheinst einen neuen Fan zu haben, und hey, sie ... er ist deine Kragenweite, gebildet, zitiert Nietzsche.«
Er schien nicht zu bemerken - im Gegensatz zu Julia, die sich innerlich versteifte - dass seine Worte Ralf beleidigten, zu einer heftigen Reaktion reizten. Aber in diesem Moment servierte der Wirt die Getränke und das lenkte ihn ab.
»Oh, Champagnercocktails, wie edel. Hab' ich noch nie getrunken«, flötete Apollonia aus der Ecke und schenkte ihnen ein aufmunterndes Lächeln. Sie ließ ihre Finger demonstrativ neben ihrem leeren Glas auf der Tischplatte trommeln.
Michael grinste. »Ich geb' dir einen aus, Tausendschön, wenn du uns dein Höschen zeigst.«
Die Männer lachten dreckig. Sandra kniff die Lippen zusammen und ihre Augen verengten sich. Es missfiel ihr, wie sich die Situation entwickelte, dass nicht sie im Mittelpunkt stand. Julia spürte den heraufziehenden Ärger.
Apollonia kicherte. »Wie wär's, wenn zuerst du uns mit dem Anblick deines ausgefallenen Schlüpfers erfreust?«
Sie zog an der Zigarettenspitze, blies den Rauch Richtung Decke, bevor sie fortfuhr: »Wer trägt unter einem Bogner-Anzug schon eine Südstaaten-Flagge.«
Michael sah überrascht an sich hinunter. Sein Reißverschluss war zu, nichts schaute oben aus dem Hosenbund. Julia erstarrte. Woher wusste dieser Kerl, wie Michaels Boxershorts aussahen?
»Und die Dame in dem umwerfenden Prada-Kleid, die trägt überhaupt kein Höschen mehr. Das ist auf einer der Herrentoiletten im Schloss geblieben, nicht?«
Sandra knallte heftig ihr Glas neben dem schlafenden Trinker auf den Tresen, der zuckte nicht einmal. Ihr hübsches Gesicht war zur Fratze verzerrt vor Wut.
»Erzähl' keinen Scheiß und kümmer' dich um deinen eigenen Dreck!«, keifte sie in Richtung des Ecktisches, die langen roten Nägel in ihre Handflächen gebohrt. Ralf sah sie nachdenklich an, nippte an seinem Cocktail. Dann wandte er sich an Apollonia.
»Erstaunlich. Was weißt du noch über uns?«
Die Angesprochene ließ ihren Zeigefinger über den Rand des leeren Glases kreisen, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen. Ralf verstand die wortlose Aufforderung.
»Harry, einen Cocktail für unsere Freundin hier«, rief er in Richtung des Wirts, ohne den Blick von der Person am Ecktisch abzuwenden.
»Oh, merci. Und einen Wodka-O, bitte. Wann bekommt man schon mal was spendiert ...«, raunte die und gab ein kehliges Lachen von sich.
Im Handumdrehen standen die Gläser vor ihr, an denen sie genüsslich zu nippen begann. Minuten verstrichen, in denen Nino de Angelo sein »Jenseits von Eden« sang.
Julia legte Michael die Hand auf die Schulter, er schüttelte sie ab, redete weiter mit Thorben.
»Wir warten auf deine Enthüllungen«, sagte Ralf nach einer Weile.
Sein reges Interesse an dieser schrägen Person passte nicht zu ihm, ging es Sandra durch den Kopf. Thorben und Michael hatten es jedenfalls verloren, waren inzwischen in ein Gespräch vertieft, während Ralf den Transvestiten weiterhin fixierte wie eine Schlange das Kaninchen. Die kicherte wieder.
»Nicht so eilig, Schätzchen. Muss erst in Stimmung kommen, weißt du.« Auf sehr männliche Art kippte sie den Wodka-Mix in einem Zug hinunter.
»Apropos Stimmung, für uns eine zweite Runde Cocktails«, wies Sandra den Wirt an.
»Nein, danke, für mich nichts mehr«, wisperte Julia und ließ sich endlich auf einen Stuhl sinken, ihre Füße brachten sie um.
Apollonia versenkte ihren Blick in Ralfs.
»Nun, was ist jetzt mit den spannenden Offenbarungen?«, sagte der eine Spur zu laut, sodass sich auch Thorben und Michael wieder umwandten.
Stille. Nur die Schlagermusik plätscherte vor sich hin. Das grell geschminkte Gesicht wurde ernst.
»Normalerweise macht es mir Spaß, den Leuten was zu erzählen, aber in eurem Fall ... Du öffnest eine Tür, die geschlossen bleiben sollte. Lass die Finger davon, zu deinem, zu eurem eigenen Besten.«
»Uh! Jetzt hab' ich aber Angst!« Thorbens Stimme triefte vor Sarkasmus, er wedelte mit den Händen.
»Ich weiß nicht nur, was für Unterwäsche ihr tragt oder mit wem ihr euch in welcher Besenkammer vergnügt habt. Ich kenne auch eure Zukunft, und die sieht alles andere als rosig aus.«
»Oha!« Michael pfiff durch die Zähne, ließ sein meckerndes Lachen verlauten.
»Na, dann lass mal hören, Kassandra«, spottete Ralf.
Apollonia seufzte. »Was mögen deine Freunde dazu sagen, dass der Millionen-Deal, mit dem du dich den ganzen Abend über gebrüstet hast, für den du dich so ausgiebig feiern lässt, geplatzt ist? Euer Chef wird es Mittwoch erfahren und ausflippen, dir eine weitere Sprosse der Karriere-Leiter absägen.«
Ralfs Gesicht nahm eine bedrohliche Färbung an und seine Züge entgleisten, ehe er mit der Faust auf die Theke schlug, sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.
»Schnauze, elende Transe, nichts weißt du! Stocherst auf gut Glück herum! Alles Lügen, um dir Getränke zu schnorren!«
Alle starrten ihn an, und da seine Freunde ihn kannten, bemerkten sie die Nervosität hinter seinem wütenden Gebaren. Neugier kämpfte gegen Angst. Er leckte sich hektisch die Lippen.
Eiseskälte breitete sich in dem rauchgeschwängerten Raum aus, griff mit unsichtbaren dürren Fingern nach ihnen. Allerdings spürte es nicht jeder.
Michaels Augen glitzerten in Erwartung dessen, was jetzt passierte. Julia hoffte, dass der seltsame Typ die Männer nicht noch weiter reizen würde, zu seinem eigenen Besten.
»Wenn du nichts Wahres zu berichten hast, du armselige Tunte, gehst du jetzt besser.«
Apollonias Mund bekam einen grausamen Zug. »Oh, es wird doch gerade erst interessant.« Der Frost klirrte in ihren Worten.
Ralf hasste Widerworte, sie machten ihn aggressiv.
Er versuchte, bedrohlich auf sie zuzuschreiten, doch der Alkohol hatte ihn zu fest im Griff, ließ ihn schwanken. Dennoch war er rasch an ihrem Tisch.
Sie erhob sich ihrerseits in einer fließenden Bewegung. Wirkte mit einem Mal vollkommen nüchtern und trat ihm graziös auf den hohen Absätzen entgegen. Sie überragte ihn um einiges, blickte auf ihn hinunter.
Der Schlag kam überraschend, ließ ihren Kopf zurückfliegen. Ralf schnaufte, Sandra schaute ihm über die Schulter und grinste.
»Raus hier, zieh Leine! Oder soll ich dir richtig die Fresse polieren? Dir zeigen, was für eine jämmerliche Witzfigur du bist?«
Wie in Zeitlupe wandte sich Apollonia ihnen wieder zu, wischte sich das Blut von der aufgeplatzten Lippe. Ihre Miene war nichtssagend, die Gedanken unerforschlich.
»Das reicht, oder ich ruf' die Bullen.« Die Stimme des Wirts durchbrach die Spannung, ließ Ralfs Mund schmal werden.
Als wäre nichts geschehen, zog Apollonia an der Zigarettenspitze, blies ihm den Rauch entgegen und lachte leise. Nicht mehr kokett. Das Lachen klang kalt, freudlos, bis es erstarb.
»Es war dein ausdrücklicher Wille, dass ich euch berichte. Dann ertrage auch, was du hörst.«
Trotz ihres Aufzugs strahlte sie mit einem Mal die Würde einer altertümlichen Hohepriesterin aus und Julia hielt unbewusst den Atem an.
»Sollte es dieser Egoistin - » Apollonia wies mit der Zigarettenspitze auf Sandra. »je gelingen, zwei Dinge gleichzeitig zu denken, könnte man das Scheppern der Gedanken in ihrem leeren Schädel sicher überdeutlich hören. Andererseits besitzt sie eine gewisse Raffinesse. Versucht seit Jahren mit mäßigem Erfolg, ihre Position in der Firma durch Intrigen und Herumspionieren auf den Schreibtischen der Kollegen - auch den euren - zu verbessern. Jetzt verlegt sie sich aufs Hochschlafen. Heute Abend hat sie den Junior-Chef rangelassen. Allerdings wird es ihr außer dem Ruf der Firmenschlampe nichts einbringen.«
Sandra kreischte wütend auf, holte mit der Hand zum Schlag aus, doch Ralf packte ihren Arm und quetschte ihn, bis sie verstummte, sich aufschluchzend von ihm losmachte.
»Und du - « Jetzt wandte sich Apollonia an Thorben, der zurückzuckte. »bist in Wirklichkeit schwul, darf nur keiner wissen. Könnte dich deine Karriere kosten, wirklich traurig, in der heutigen, aufgeklärteren Zeit. Die Scheinehe, die Heteromaske. Deine Frau ist heute Abend mal wieder richtig auf ihre Kosten gekommen, mit dem jungen Kellner. Deshalb war sie so rasch auf dem Zimmer verschwunden. Ihr ist es egal, was du mit den Kerlen treibst, solange die Kreditkarte gedeckt ist, nicht?«
Thorben erblasste und klammerte sich am Tresen fest. Seine Angst konnte sich nirgendwo verbergen. Fassungsloses Schweigen.
Michael musterte erst den Transvestiten, dann den Freund, sein Ausdruck wechselte von ungläubig zu angeekelt.
»Ich muss spucken«, entfuhr es ihm.
»Aber bevor du zum Klo schwankst, um dort das Bœuf bourguignon des Sternekochs loszuwerden, nimm einen Rat von mir: Begib dich bald zur Polizei und zeige dich wegen der jahrelangen Veruntreuung der Firmengelder an. Es wird in ein paar Wochen herauskommen, besser gesagt: Der Bräutigam wird es herausfinden und der Chefetage melden. Wenn du ihm mit deiner Selbstanzeige zuvorkommst, ersparst du dir ein bis zwei Jahre Knast.«
Julia entfuhr ein Entsetzenslaut. Michael würgte im gleichen Moment, presste sich eine Hand vor den Mund und torkelte auf die WC-Tür zu. Apollonia sah seine Freundin an und ihr Ausdruck wurde weicher. »Julia - ach, Julia. Allein unter Haien. Du solltest das brutale, niveaulose Großmaul verlassen. Er tut dir nicht gut.«
Etwas wie Mitleid glänzte in ihren Augen, als sie der jungen Frau sachte über die Wange strich.
»Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. Spürst du es?«
Wie hypnotisiert hing ihr Julia an den Lippen. In Sekundenschnelle erinnerte sie sich an all die widerlichen Dinge, die Michael ihr im Laufe ihrer Beziehung abverlangt hatte. Ihre devote Abhängigkeit von ihm. Die Erniedrigungen, die Gewalt, gegen die sie hatte abstumpfen wollen, was ihr jedoch nicht gelungen war.
Dann nickte sie, schluckte, und eine Träne bahnte sich einen Weg über ihre Wange, denselben, wie zuvor Apollonias Berührung.
Die fuhr zu den beiden verbliebenen Männern herum, bohrte ihren dunklen Blick in Ralfs.
»Du nennst mich jämmerlich? In dieser Gesellschaft? Mit dem, was du an Schuld auf dich geladen hast? Besitzt du überhaupt ein Gewissen? Erinnerst du dich an die Nacht letzten November? Als du volltrunken in deinem Cabrio die Landstraße entlangrastest? Die ...«
Ralf war mit einem Mal erblasst. »Nein!«, schrie er auf. »Das war ein Unfall! Plötzlich war sie da, ich - «
»Schweig!«, fiel sie ihm ins Wort. »Es war ein Unfall, der nicht hatte passieren müssen. Wenn du nüchtern gewesen wärst und dich an das Tempolimit gehalten hättest. Aber Fahrerflucht?«
Nun erhob sie erstmals wirklich die Stimme, sie klang gewaltig in dem kleinen Raum.
»Ja, die alte Frau wäre auf jeden Fall ihren Verletzungen erlegen. Doch weil du abgehauen bist, Feigling, starb sie allein und verängstigt auf der dunklen Straße. Vielleicht meldet sich doch noch jemand, der sich dein Kennzeichen gemerkt hat?«
Ralf stöhnte auf und vergrub sein Gesicht in den Händen, seine Schultern begannen zu zucken. Sandra rückte ein Stück von ihm ab, biss in ihren Fingerknöchel.
Apollonias Stimme wurde zu einem eisigen Flüstern. »Oh, er hat doch ein Gewissen. Und, wer ist von allen hier der Jämmerlichste?«
Ihre Worte hingen wie Schwerter in der Luft, in der Atmosphäre des Misstrauens und Entsetzens, die sich gebildet hatte. Sekundenlanges Schweigen.
Dann stöckelte sie zur Theke, nahm vom Wirt einen Schein entgegen, den sie sich in den Ausschnitt steckte.
»Nächsten Freitag kommt gegen zwei noch eine Reisegruppe aus Tirol. Sie werden vor allem Tequila Sunrise und Mojitos trinken. Bis dann!«
Harry nickte ihr zu, sah der hochgewachsenen Gestalt wie die anderen nach, wie sie kerzengerade auf die Tür zuschritt, mit einer eleganten Bewegung die Perücke abnahm, ehe sie die Tür aufzog. Kurzes, braunes Haar kam zum Vorschein. Die Show war vorbei.
»Wer sind Sie?«, hauchte Julia. Beim letzten Wort versagte ihre Stimme. Sie atmete flach und wirkte so zerbrechlich wie ein kleiner Vogel, der aus dem Nest gefallen war.
Ralfs Brust bebte noch immer, Sandra starrte mit zusammengepressten Lippen zu Boden. Thorben öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch es kam nichts heraus.
Als die Tür hinter Apollonia zuklappte, löste sich Julias Erstarrung.
Sie rannte los, hinaus auf die Straße. Nichts, leer und still lag sie vor ihr. Der Mann war fort. Sie schauderte.
Auch wenn sie draußen an der frühlingsfrischen Luft in der grellen Morgensonne stand, fühlte sie sich mit einem Mal leer - und schmutzig. Als wäre sie soeben einem Bad mit dem Teufel entstiegen.
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2019
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb Dezember 2019,
Thema: "Jeder ist ein Mond und hat eine dunkle Seite, die er niemandem zeigt." (Mark Twain)