»Du solltest abwaschen, die Wohnung aufräumen. Sieht schlimm aus hier«, sage ich zu ihr.
Sie zieht ihren verschlissenen Morgenrock über der Brust zusammen, erst nach einer Weile nickt sie. Bleibt stumm vor mir stehen, als wüsste sie nicht, wie man sich in Bewegung setzt.
»Ich helfe dir«, setze ich hinzu, um ihr Antrieb zu geben.
Ihr Mund in dem bleichen Gesicht bewegt sich. Auf und zu, als wäre sie ein Fisch, der auf dem Trockenen liegt. Die Augen mit den schweren Tränensäcken, die eine unendliche Leere offenbaren, starren mich unbewegt an. Stumpf und farblos, wie die eines Kraken. Wenn sie so guckt, hat sie etwas Unheimliches.
Himmel, wie alt und faltig sie geworden ist. Ein Wrack, flüstert eine bösartige Stimme in meinem Kopf.
Es sticht mir ins Herz, innerlich halte ich mir die Ohren zu und wende den Blick ab von ihr. Lasse ihn aus dem Fenster schweifen, hinab in den tristen Innenhof zwischen den Häuserblöcken. Ich will sie lieber in Erinnerung behalten, wie sie früher aussah, bevor ...
Ich schüttele kurz den Kopf, als wollte ich eine Fliege verscheuchen. Denn ich weiß, was ihr widerfahren ist, was ihr derart zugesetzt und sie aus der Bahn geworfen hat.
Aber auch diesen Gedanken kann ich verdrängen.
»Hörst du mich, Moira?«, frage ich, weil sie nicht antwortet. Gleichzeitig geht es mir durch den Sinn: Warum sollte sie abwaschen, aufräumen? Sie bekommt nie Besuch. Außer von mir.
Ich sehe sie wieder an. Oh - habe ich etwa laut gedacht?
Ihr Mund verzieht sich zu einem bitteren Grinsen, das sich plötzlich in ein Lächeln verwandelt und Leben in ihren Blick zaubert. Als ob in düsterer Nacht ein Licht entzündet wird.
Oh doch, scheint es ihr durch den Kopf zu ziehen. Es gibt Menschen, die an mich denken. Ein Muskel zuckt unter ihrem rechten Krakenauge.
Sie tappt los, bewegt sich unsicher durch den Raum, wie jemand, der nach einer Operation das erste Mal wieder aufgestanden ist. In der Küche setzt sie sich auf einen Stuhl, fröstelt.
Angewidert mustere ich das Chaos. Berge von Tellern, Tassen und Töpfen, verkrustete Essensreste, auf denen Schimmel wächst. Es riecht übel. Sie sollte lüften.
Auf dem Linoleumboden liegt ein vertrocknetes Stück Pizza. Mit spitzen Fingern hebe ich es auf, um es in den Müll zu werfen.
Ich spüre mit einem Mal den Keim der Verzweiflung in meinem Bauch, presse beide Hände darauf.
Er darf nicht wachsen, sich nicht ausbreiten.
Ich verleihe meiner Stimme einen munteren Klang, damit sie den aufsteigenden Ekel nicht bemerkt.
»Wir können auch später aufräumen. Zuerst schauen wir, was wir heute Schönes kochen, ja? Und dann gehe ich einkaufen.«
Sie nickt. Greift in ein Regal. Mit ihrem Lieblingsrezepte-Hefter in der Hand schlurft sie durch die totenstille Wohnung. Am Couchtisch blättert sie die Seiten um und entscheidet sich für ein Gericht.
Sorgfältig schreibt sie die Zutaten auf, schiebt den Zettel dann von sich. Ich stecke ihn in meine Tasche, und warte, denn sie ist noch nicht fertig.
Nun nimmt sie die Fernsehzeitung und studiert ausführlich das Programm, kreuzt alles an, was sie am Abend anschauen könnte.
Das Schrillen der Türglocke durchbricht die Stille. Sie zuckt zusammen, erstarrt. Ich höre sie zischend die Atemluft einsaugen, als hätte sie einen jähen körperlichen Schmerz verspürt. Wer ist das?
Sie hat Angst, und sie weiß, dass ich es weiß. Ich kann ihren Schweiß riechen. Meine Güte, es ist vierzehn Uhr, und sie schleicht im Nachthemd herum!
Soll ich öffnen?
»Zieh dir etwas an, vielleicht bekommst du Besuch«, raune ich zur Tür eilend und drücke auf die Gegensprechanlage. »Hallo?«
»Die Post! Ein Päckchen. Können Sie bitte aufmachen?«
Erleichterung durchfließt mich. Keine Gefahr.
»Brauchen Sie eine Unterschrift?«, frage ich.
»Nein, aber ich muss es ausliefern. Kommen Sie runter oder soll ich es hochbringen?«
Das Misstrauen kehrt zurück.
»Von wem ist das Päckchen?«
»Versandhaus Gruber.«
Ja, dort bestellt Moira hin und wieder.
Ich bitte ihn, den Karton unten ins Treppenhaus zu stellen, ich würde ihn holen.
Dann presse ich einen Finger auf den Summer, der die Haustür öffnet. Durch den Hörer vernehme ich, wie er meiner Anweisung folgt, die Tür wieder zufällt.
Ich hänge den Hörer ein, lehne mich an die Wand. Sehe aus dem Augenwinkel Moira neben mir stehen.
Sie lauscht angestrengt. Zittert leicht, ihr Atem geht schwer.
Sie hat sich nicht angezogen.
Himmelherrgott! Wie sie aussieht, sich gehen lässt!
Das macht mich wütend. Sehr wütend.
Reiß dich zusammen! Aber ich drehe mich ihr zu, starre sie an.
Hole aus, schlage ihr die Faust mitten ins Gesicht.
Es zersplittert in hundert Teile. Auf dem Boden verstreut glotzen mich viele Moiras an, voller Entsetzen. Erkennen.
Blut tropft auf einige der Gesichter. Aus dem Schnitt in meiner Hand, bis ich endlich einen Zipfel des Nachthemds darum wickele.
Weitere sieben Jahre Unglück, die Seele zerbrochen, so sagt man doch, oder?
Wir sind wieder eins.
Wenn wir zusammenwachsen, wenn mir klar wird, dass ich diese alternde, einsame Person bin, muss ich mich beruhigen.
Ich lasse die Scherben des ehemaligen Flurspiegels liegen, verarzte meine Hand.
Dann gehe ich zu dem schweren Mahagonischreibtisch und öffne die oberste Schublade. Ziehe behutsam ein schwarzes Heft hervor. Streiche mit den Fingern darüber. Zärtlich.
Hier sind sie. Die Menschen. Meine Menschen.
In deren Gehirne ich mich eingenistet habe.
Angefangen hatte es damit, dass ich auf meinen Spaziergängen wildfremde Leute herzlich grüßte.
»Guten Tag!«, begleitet von einem höflichen Nicken bei den Älteren.
Ein »Hey, hallo, wie geht's?« in Richtung der Jüngeren. Die Angesprochenen grüßten - sichtlich verwirrt - zurück. Ich stellte mir vor, wie sie grübelten, wer ich bin. Vielleicht erzählten sie es
abends ihren Partnern, Eltern oder Freunden: »Heute hat mich eine dunkelhaarige, sympathische Frau gegrüßt. Mir fällt einfach nicht mehr ein, woher ich sie kenne.«
Das war ein befriedigendes Gefühl. Aber es hielt nicht an.
Meine Anwesenheit in diesen Gehirnen währte zu kurz. Das war mir klar. Ich musste einen tieferen Eindruck hinterlassen.
An manchen Tagen ging ich die Straße entlang, stieß irgendjemanden im Vorbeigehen fest in die Rippen oder in den Bauch.
»Aua! Sind Sie verrückt? Was soll das!« Dies und Ähnliches riefen sie dann. Entrüstet stehenbleibend. Oder auf dem Boden liegend, wie die alte Frau vor ein paar Wochen.
Ich drehte mich um, zeigte mein Gesicht und lächelte sie an, ehe ich weiterging.
Diesmal würden sie längere Zeit an mich denken. Ein blauer Fleck in der Seite - von mir. Empörte Gespräche - über mich. Auch in späteren Jahren immer wieder als Anekdote gut.
Ein kleiner, aber bleibender Platz im Bewusstsein dieser Leute war mir gewiss.
Ich bin nicht bedeutungslos und allein - oh, nein! Ich bin unter ihnen, in ihnen.
Aber bei den meisten noch nicht fest eingebrannt. Eingeätzt. Wie ich es mir wünsche …
Dieses Heft habe ich gekauft, um all die Personen festzuhalten, zu deren Leben ich nun gehöre.
Ordentlich notiert, mit Ort, Datum und Uhrzeit, in meiner sauberen Handschrift.
Ich lese weiter, und mein Lächeln wird stärker, das spüre ich in den Wangen.
Benny. Ja, der kleine Benny wird mich nicht vergessen. Nie mehr. Ein Junge mit einem Schulranzen auf dem Rücken, der mir allein entgegenkam. Ich sprach ihn an.
»Hallo Kleiner, du bist auf dem Weg nach Hause, nicht wahr?«
»Ja, warum?«
»Wie heißt du noch?«
Er zögerte. Sprich nicht mit Fremden, sah ich die Eltern mit erhobenem Zeigefinger in seinem Gesicht.
Ich schenkte ihm das Gouvernantenlächeln. Mein Blick eine Mischung aus Güte und Strenge, zu der Kinder wie Alte stets Zutrauen fassen. Auch er hielt mir nicht Stand.
»Benny«, antwortete er leise.
»Ach, ja, Benny. Das hatte ich vergessen.«
»Wieso vergessen? Sie kennen mich doch gar nicht.«
»Doch, ich kenne dich. Gut sogar.«
Nun verlieh ich meinen Zügen einen ernsten Ausdruck, mitleidiges Bedauern – das hatte ich vor dem Spiegel bis zur Perfektion geübt.
»Ich muss dir leider sagen, dass deine Mutter tot ist.«
Wie er die Augen aufriss, sein kleines Gesicht an Farbe verlor! Wie er schrie und weinte.
»Das stimmt nicht! Sie lügen! Mami ist nicht tot. Sie lügen!«
Er wich vor mir zurück, während ich aufstand, ihm rasch übers Haar strich.
Als ich fortging, schluchzte und heulte er immer noch. Ein finaler Schulterblick zeigte mir sein Leid, bevor ich in einer Seitenstraße verschwand. Es scharten sich bereits Leute um ihn.
Nein, Benny wird mich gewiss nicht vergessen. Bei ihm habe ich einen festen Platz im Gehirn.
Auch wenn die Mami gar nicht tot ist.
Den letzten Eintrag lesend breitet sich eine leichte Kälte in meinem Bauch aus. Als hätte jemand Eiswürfel hineingelegt. Meine Eingeweide ziehen sich zusammen, während sie schmelzen.
Ach Gott, daran habe ich ja gar nicht mehr gedacht.
Nein, ich habe natürlich nicht Tanja vergessen, die nette Frau mit dem Kinderwagen.
Ich hatte sie vor drei Tagen angesprochen, nach dem Weg gefragt. Wir kamen ins Gespräch und Tanja meinte schließlich, sie ginge in dieselbe Richtung. Bot an, mich zu dem Café zu begleiten.
Dort angekommen waren wir uns so sympathisch, dass ich sie einlud, mit hineinzukommen.
Ich bestellte Kaffee und Torte, bezahlte sofort.
Einige Zeit später saß das Baby auf meinem Schoß, ein süßer Fratz. Seine junge Mutter suchte die Toilette auf ...
Ich schließe das Heft, dann die Augen, presse einige Sekunden lang meine Fäuste darauf. Lasse die Hände sinken. Atme tief durch, straffe meine Schultern und stehe auf.
Ich gönne mir eine Dusche, ziehe mich an, kämme mein Haar. Kleide mich stadtfein, bevor ich die Abstellkammer öffne.
Auf dem Boden liegt ein Bündel.
Mein Herz klopft schneller, meine Finger zucken.
Ich hebe es auf, schlage die Decke zur Seite, blicke lange in das kleine starre Gesicht.
Bis sich mein Atem und mein Herzschlag beruhigt haben.
Dann reiße ich den Klebestreifen von dem winzigen, kalten Mund.
»Komm, wir beide gehen jetzt ein bisschen spazieren.«
Es wird wieder Zeit.
Mich jemandem für den Rest seines Lebens in die Seele zu stanzen.
Es gibt Menschen, in deren Gehirnen ich festsitze wie eine Zecke.
Nein, der Vergleich mit dem Kraken gefällt mir besser.
Denn ich habe überall Arme, die ich nach ihnen ausstrecke, tastend, sie berührend, umschlingend.
Manche Seelen packe ich und verleibe sie mir ein.
Sie denken an mich. Ich bin immer unter ihnen. In ihnen.
Nicht nur in Tanja, die mich niemals vergessen wird.
Nein, ich bin in vielen Menschen.
Und es werden mehr.
Heute noch.
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2019
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