»Bevor du mich verlässt, küss` mich ein letztes Mal, wie du mich nie geküsst hast«, schluchzte Cassandra, die von langen schwarzen Wimpern umrahmten Augen flehten ihn an, ihre vollen Lippen bebten. Brandon schenkte ihr einen tiefen Blick – dann riss er sie an sich, presste seine Lippen leidenschaftlich auf ihre und zerwühlte hungrig ihren Mund …
Elfriede Koslowski saß wie gebannt und stopfte sich Chips in den Mund, immer wieder suchten ihre Finger nach dem Eingang der knisternden Tüte, sie konnte den Blick nicht von der Leinwand abwenden. Dort lief die Spätvorstellung von Für immer und ewig, einer Liebesschmonzette mit ihrem Lieblingsdarsteller Floyd Brennigan - einem Bild von einem Mann! Elfriede vergötterte ihn und guckte jeden seiner Filme sobald er anlief, manchmal sogar mehrmals. Sie liebte es, im dunklen Kinosaal zu sitzen und sich gehen zu lassen. Es war so etwas wie ihr einziges Hobby.
Doch schaute sie sich nur Liebes – und Agentenfilme an, bevorzugt die mit Floyd Brennigan, um für wenige Stunden einen Blick durch die rosarote oder die Agentenbrille werfen zu können und in das Leben einzutauchen, welches ihr in Wirklichkeit versagt war. Dann erlebte sie – wenn auch passiv - das, was sie so schmerzlich vermisste: Liebe, Zärtlichkeit, Flirten, Begehren, Spannung und Aufregung.
Nie würde sie sich ein düsteres Drama oder einen langweiligen Dokumentarfilm anschauen, denn davon wiederum hatte sie in ihrem bisher 60-jährigen Leben genug erlitten: Langeweile und Düsterkeit. Noch nie hatte Elfriede eine Beziehung gehabt. Auf ein einziges Erlebnis mit einem Mann konnte sie zurückblicken. Als sie eine junge Frau gewesen war, hatte sie ein betrunkener Jüngling auf der Kirmes voller Leidenschaft geküsst und ihr verliebte Worte ins Ohr geflüstert. Aufregung hatte sie erfasst, sie hatte so starkes Herzklopfen gehabt und war dabei gewesen, sich in ihn zu verlieben … bis sich im Licht einer Bratwurstbude herausstellte, dass er sie nur mit einer anderen verwechselt hatte und er in die Nacht davon getorkelt war.
Ihr Frauenkränzchen, mit dem sie sich jeden Sonntag zum Bridgespielen traf, überhäufte Elfriede mit Ratschlägen und Tipps und hatte ihr vor Jahren schon geraten, es mit einer Kontaktanzeige zu versuchen, doch daraus war nichts geworden. Hermann, einen Versicherungsvertreter, hatte sie als einzigen getroffen. Ein Fiasko! Bereits nach einer halben Stunde waren sie – beide erleichtert - auseinandergegangen. Schließlich hatte Elfriede, die als Bibliothekarin arbeitete und äußerst belesen war, gewisse Ansprüche.
Inzwischen nannten die anderen sie manchmal „die Übriggebliebene“, was sie sehr verletzte, auch wenn sie sich davon nichts anmerken ließ. (Den fetten Edgar von Annegret würde sie mit der Kneifzange nicht anfassen und Irmelas Hans-Günter war ein unterdrückender Macho und notorischer Fremdgänger.)
Doch immerhin hatten sie alle ihre Erfahrungen gesammelt und zogen Elfriede oft mit ihrer Unberührtheit und Unerfahrenheit in Sachen Männer auf.
»Wenn du nicht so wählerisch sein würdest, meine Liebe, dann wärst du längst unter der Haube! Übrigens köstlich, deine Aprikosentorte!«, hatte Luise beim letzten Bridge-Treffen gestichelt.
»Du solltest auch nicht immer allein im Kino herumsitzen. Geh doch mal zu einer netten Tanzveranstaltung, da lernst du Männer kennen!«, hatte sie Irmela belehrt und Gisela hatte in die Runde hinzugefügt: »Nun ja, sie müsste ein bisschen mehr aus sich machen, die Gute, nicht wahr? Mal zum Friseur gehen, zur Maniküre, vielleicht auch zur Stilberatung. Was meint ihr?«
Elfriede hatte geschwiegen, auch wenn sie innerlich vor Zorn fast geplatzt wäre. Sie war keineswegs hässlicher als ihre Freundinnen, von der verwöhnten Gisela einmal abgesehen, die immer sehr attraktiv und gepflegt aussah. Aber sie, die unscheinbare, mausgraue Elfriede, war es, die die leckersten Torten und Gerichte backte und kochte, auch wenn sie keinen Ehemann damit beeindrucken konnte sondern nur ihr Bridgekränzchen.
Elfriede seufzte und griff sich ans Herz, als Brandon alias Floyd Brennigan sagte: »Ich kann nicht. Ich kann dich einfach nicht verlassen. Doch ich muss zurück nach Miami und es beenden. Willst du mit mir kommen - trotz der Gefahr - und an meiner Seite sein?«
»Ja«, hauchten die Filmschönheit und Elfriede gleichzeitig. Eine Träne rollte über ihre runzelige Wange.
Während der Abspann lief, blieb sie gefangen sitzen. Die Leute drängten an ihr vorbei zum Ausgang, doch sie saß zurückgelehnt mit geschlossenen Lidern und ließ vor ihrem inneren Auge die schönsten Szenen des Films Revue passieren. Ach, was für ein Mann!
Als die Lichter angingen, erhob sich Elfriede endlich und griff nach ihrer Handtasche. Sie war die letzte, die den Kinosaal verließ.
Kalt war es draußen. Elfriede wickelte sich das Halstuch um und setzte ihre Mütze auf. Es hatte schon wieder geschneit, die Autos und die Straßenschilder trugen weiße Hauben. Doch jetzt war die Dezembernacht klar. Bleich und rund stand der Mond am schwarzen Himmel.
Ihre Stiefel knirschten über den Schnee. Sie entschied, den Weg durch den Park zu nehmen, sich ihren Träumen hingeben. Hier auf den Innenstadtfußwegen, wo auch nachts immer Betriebsamkeit herrschte, ging das nicht.
Dunkel gähnte sie der Eingang zum Park zwischen den Bäumen und Büschen an, doch Elfriede hatte keine Angst. Sie wollte jetzt noch nicht nach Hause. Der Film hatte sie aufgewühlt, ihr Herz zum Vibrieren gebracht. Doch sobald sie ihre Wohnung aufschlösse, sie beträte und die Beweise ihrer Einsamkeit und Langeweile sie ansprängen, würde dieses herrlich aufgekratzte Gefühl sofort von ihr abfallen, das wusste sie. Elfriede seufzte.
Bei der ersten schneebedeckten Parkbank blieb sie stehen. Sie war in das schummerige Licht des Mondscheins und einer Parklaterne getaucht, sah irgendwie einladend aus. Es war eine so wunderschöne, frostige Mondscheinnacht – wie gemacht für sich zärtlich aneinander kuschelnde Liebespaare. Mit wenigen Handbewegungen wischte Elfriede den Schnee von der Sitzfläche der Bank und setzte sich, stellte die Handtasche auf ihren Schoß und schloss die Augen.
Manchmal wünschte ich … ja, ich wünschte, etwas wirklich Schönes, etwas Aufregendes, etwas Besonderes würde einmal in meinem Leben passieren, dachte sie voller Inbrunst. Da sie die Augen weiter geschlossen hielt, bemerkte sie nicht die ungewöhnliche Sternschnuppe, die im gleichen Moment in Sekundenschnelle am Himmel aufleuchtete und verglühte, und sie spürte kaum die Kälte, die sie einhüllte und an ihren Beinen empor kroch, ihr Atem entwich als gefrorene Wölkchen ihrem Mund.
Erst nach einer Weile fühlte sie, dass der Frost schon in ihre Knochen zog, ihre Füße waren taub. Sie musste nach Hause. Wieder seufzte Elfriede auf, erhob sich und strich sich hinten über ihren Mantel, er war ganz feucht.
Den Heimweg nahm sie doch lieber durch die Innenstadt. Vor dem Eingang des Mehrfamilienhauses, in dem sie wohnte, kramte sie in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und öffnete die Tür. Plötzlich erfasste sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel, im gleichen Moment prallte von der Seite ein Schatten auf sie. Elfriede schrie auf und ließ die Tasche in den Schnee fallen.
Der Mann stürzte mit ihr in das dunkle Treppenhaus, begrub sie unter seinem schweren Körper, er atmete, als sei er meilenweit gerannt.
»Bitte, seien Sie still!«, keuchte der Mann. Elfriede öffnete den Mund zu einem erneuten Schrei, doch der Fremde presste schnell die Lippen auf ihren Mund und verschloss ihn mit einem verzweifelten Kuss, denn seine Hände waren unter ihrem Körper eingeklemmt.
Oh Gott… Oh mein Gott! Elfriedes Herz raste. Bei jedem Atemzug sog sie den angenehmen Geruch des Mannes durch die Nase ein, fühlte den festen Druck seiner Lippen ... Was passierte da? Es war fremd, zutiefst beängstigend, aber auch … sooo schön!
Das alles war so irreal. Eigentlich sollte sie in Panik geraten, aber sie schloss die Augen und stellte sich vor, es wäre Floyd Brennigan, der auf ihr lag. Ein erstickter Laut kletterte ihre Kehle hoch. Abrupt hob der Mann seinen Kopf und blickte auf sie hinunter, dann gehetzt zur Tür, die zugefallen war. Elfriede überlegte, ein weiteres Mal zu schreien, doch sie konnte nicht – und wollte auch nicht.
»Verzeihen Sie bitte den Überfall. Und seien Sie um Himmels Willen leise!«, wisperte der Mann.
Draußen vernahmen sie Männerstimmen, die hektisch in einer fremden Sprache redeten. Sie schienen direkt vor der Haustür zu sein. Der Mann auf ihr erstarrte.
Meine Handtasche!, durchfuhr es Elfriede. Die lag vor der Tür! Sie musste sie holen, sonst würden die Männer sie entdecken und mitnehmen!
»Hören Sie, meine Tasche - «
»Psst!«, zischte der Mann, zog seine Hände unter ihr hervor, richtete sich auf und lauschte angespannt nach draußen. Elfriede konnte nur sein Profil sehen, es hob sich als Schattenriss gegen das von der Straßenlaterne erleuchtete Fenster der Eingangstür ab. Sie fasste sich ein Herz und schob ihn von sich, stand ächzend auf. Der Fremde trat einige Schritte zurück und raunte: »Bitte – verraten Sie mich nicht!« Er besaß eine kultivierte, angenehme Stimme mit einem leicht amerikanischen Akzent.
Sie zog die Eingangstür auf und blickte direkt in eine grobe Visage mit Schnauzer. Die sah nicht gerade vertrauenserweckend aus. Die Kumpane schienen die Nebeneingänge abzusuchen.
»Hach, Sie haben mich aber erschreckt!«, quiekte Elfriede und hob schnell ihre Tasche auf.
»Ist Mann in Haus?«, fragte der Schwarzhaarige mit starkem Akzent und versuchte, an ihr vorbei ins Treppenhaus zu spähen. Er stank nach Schweiß und etwas Brutales, Gemeines ging von ihm aus.
»Nein, hier ist niemand. Warum, wen suchen Sie denn?«
Der Kerl verzog das Gesicht wie eine Bulldogge, die eine Wespe zerkaut, wollte sich an ihr vorbei drängen, doch Elfriede versperrte ihm den Weg, die Hand fest an den Türrahmen gestemmt. Selbst erstaunt über ihre Kaltblütigkeit fuhr sie ihn mit schneidender Stimme an: »Was erlauben Sie sich! Wenn ich sage, hier ist niemand, dann ist hier auch keiner, verstanden? Gehen Sie, oder ich rufe die Polizei!«
Rasch trat sie einen Schritt zurück und schlug die Tür zu. Vor dem kleinen Fenster in der Tür sah sie den drohend aufragenden Schatten des Mannes.
Nach einer gefühlten Ewigkeit entfernten sich endlich die Stimmen. Elfriede stand im finsteren Treppenhaus, ihr Herz schlug ihr bis in den Hals. Sie konnte den Fremden unter der Treppe, wo die Fahrräder standen, atmen hören.
»Hallo?«, flüsterte sie ins Dunkel. »Die sind weg. Sie können herauskommen.«
Zaghaft und leicht schwankend trat er hervor. Im fahlen Dämmerlicht wirkte sein Gesicht blass – und seltsam vertraut. Elfriede betätigte den Lichtschalter. Der Mann war wirklich erschreckend bleich, aber – was für ein Mann! Er erinnerte sie entfernt an … Floyd Brennigan! Dasselbe volle braune Haar, die gleichen azurblauen Augen, ähnliche Größe und Statur. Aber krank sah er aus, er atmete schwer und stützte sich mit der Hand an der Wand ab.
»Geht es Ihnen nicht gut?«, fragte sie und verfluchte sich sofort. Dumme Frage. Wie sollte es ihm denn gutgehen, wenn er seinen Häschern gerade noch entkommen war.
»Nein, alles okay. Danke, dass Sie mir geholfen haben.« Erschöpft hielt der Mann inne und lehnte sich an die Wand. »Nochmals, sorry, dass ich Sie so überrumpelt und – einfach geküsst habe. Ich hatte Angst, Sie schreien.« Seine blauen Augen blickten sie um Verzeihung bittend an und Elfriede schmolz dahin. Nach wie vor fühlte und schmeckte sie seinen Kuss auf ihren Lippen.
»Es ist in Ordnung. Ich verstehe das und bin nicht böse.«
Der Fremde stieß sich mit einem Ruck von der Wand ab und bewegte sich mit unsicheren Schritten auf die Tür zu. »Ich werde jetzt gehen. Danke. Und – bitte – sollte jemand nach mir fragen - «
»Ich habe Sie nie gesehen, meine Lippen sind versiegelt, versprochen«, fiel Elfriede ihm ins Wort, den Satz hatte sie aus dem letzten Brennigan-Film, er gefiel ihr. In diesem Augenblick sah sie das Blut aus dem Ärmel seiner Jacke tropfen und sog scharf den Atem ein.
»Oh, Sie sind ja verletzt. Was haben die Ihnen angetan?«
»Nicht weiter schlimm, nur ein - wie sagt man hier - Kratzer. Leben Sie wohl.« Er griff nach der Türklinke.
»Halt, so lasse ich Sie nicht gehen. Kommen Sie mit nach oben, ich habe Verbandszeug.« Mit resolutem Griff fasste sie den Mann an seinem gesunden Arm und führte ihn die Treppe hinauf.
»Was waren das für Männer? Warum verfolgen die Sie?«
Elfriede konnte ihre Neugier einfach nicht zurückhalten, während sie den Arm des Fremden untersuchte. Seine Haut fühlte sich heiß an, er schien Fieber zu haben und hatte eine hässliche Fleischwunde davongetragen, die sie nun mit Desinfektionscreme bestrich und mit Mullbinden umwickelte.
»Ich möchte Sie da nicht mit hineinziehen, Frau … «
»Elfriede. Nennen Sie mich Elfriede.«
»Je weniger Sie wissen, desto besser für Sie, Elfriede. Aber es geht um Geld. Um viel Geld. Morgen Vormittag geht mein Flug zurück nach ... egal. Wenn ich erst im Flieger sitze, ist alles gut.« Er sprach ihren Namen seltsam aus, es klang wie Ällfrüde.
Sie machte einen Knoten in die Enden der Mullbinde und reichte dem Mann sein Hemd. Er hatte einen durchtrainierten Körper und roch so gut … fast bereute es Elfriede, jetzt keinen Grund mehr zu haben, dicht bei ihm zu stehen und ihn berühren zu dürfen. Einen Augenblick lang überlegte sie, ihm das Hemd einfach wieder wegzunehmen und zu waschen, dann könnte sie ihn noch länger betrachten, aber der Mann zog es bereits wieder an und setzte sich auf das Sofa. Erschöpfung stand in seinem Gesicht, als er sich zurücklehnte und die Augen schloss.
»Verraten Sie mir, wie Sie heißen?«
»Alexander.« Älläxänder, wiederholte Elfriede im Kopf, um sich die Aussprache genau zu merken.
»Darf ich Ihnen etwas zu Essen und zu Trinken anbieten?«
Der Mann schien mit sich zu ringen, ob er besser sofort gehen oder zum nächtlichen Dinner bleiben sollte.
»Bitte, Sie würden mir eine Freude damit machen.«
Alexander nickte und Elfriede verschwand in der Küche. Innerhalb kürzester Zeit hatte sie ein kleines Festmahl gezaubert, das sie genüsslich verspeisten, mit Freude beobachtete sie, wie sich ihr Gast ausgehungert auf die Steaks, Pilze und die Herzoginkartoffeln stürzte. Nach dem Mahl lehnte er sich zurück. »Das Dinner war exzellent, ich habe lange nicht mehr so gut gegessen.«
»Danke, aber das kommt Ihnen bestimmt nur so vor, weil Sie hungrig waren«, wehrte sie bescheiden ab. Alexander erhob sich. »Nun muss ich aber gehen. Ich will sie nicht länger in Gefahr bringen«
Nein! Er sollte jetzt nicht gehen! Ihr Herz begann zu rasen. »Sie fliegen doch erst morgen. Wollen Sie wirklich wieder dort hinaus? Sie können hier auf meiner Couch schlafen.«
Er zögerte, hatte seit 36 Stunden kein Auge mehr zu gemacht und fühlte sich so unglaublich matt und müde. In das Hotel konnte er nicht zurück. Wieder nickte er ergeben und Elfriede richtete ihm ein Bett auf dem Sofa ein.
Am nächsten Morgen erwachte sie ganz früh und mit klopfendem Herzen. Habe ich das alles nur geträumt?
Sie schlüpfte in Morgenmantel und Hausschuhe, schlich über den Flur und öffnete leise die Tür zum Wohnzimmer. Nein. Da lag er und schlief. Alexander. Eine Strähne des braunen Haares war ihm in die Stirn gefallen, seine Hand lag neben seinem Gesicht und er sah aus wie ein friedlicher, schöner Engel.
Auf leisen Sohlen tappte Elfriede in die Küche und bereitete ein opulentes Frühstück zu, während ihr Herz vor sich hin summte. Bald erfüllten die Gerüche von frischgebackenen Brötchen, Rührei mit Speck und Kaffee die kleine Wohnung und weckten ihren Gast.
Es wurde Zeit für ihn zu gehen, das wusste Elfriede, er musste zum Flughafen. Eine seltsame Traurigkeit befiel sie, obwohl sie sich dafür schalt. Ihr Kummer war töricht. Sie würde ihn nie wieder sehen. Was erhoffte und erwartete sie sich eigentlich?
Alexander schaute sie fast liebevoll über seinen Kaffeebecher an.
»Elfriede, Sie sind eine tolle Frau.« Da war es wieder, sein charmantes Ällfrüde. Sie errötete und schlug die Augen nieder.
»Eine Mutter wie Sie hätte ich gerne.«
Das wiederum versetzte ihr einen Stich, aber nur einen ganz kleinen.
»Mutig. Entschlossen. Liebevoll. Ich danke Ihnen so sehr.«
Das machte alles wieder wett.
»Ich würde mich gerne bei Ihnen - wie sagt man - revanchieren. Brauchen Sie Geld? Ich habe jetzt sehr viel davon, ich kann Ihnen etwas überweisen, wenn ich angekommen bin.«
Elfriede schnaubte entrüstet auf. »Ich komme gut zurecht. Meine Hilfe und Freundschaft kosten nichts!« Schon bereute sie ihren scharfen Ton. Er hatte es doch nicht böse gemeint, zeigte sich zerknirscht.
»Pardon me. Ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich möchte auch Ihnen einen Gefallen tun.«
Sie schwieg. Aber der Funke einer Idee glomm in ihr auf und ihre Augen weiteten sich leicht, begannen plötzlich zu glänzen wie Sterne.
»Ich … ich wüsste da etwas, es würde auch nicht lange dauern. Vielleicht werden Sie es lächerlich finden und ‚nein‘ sagen, aber es wäre …« Sie verstummte, wusste nicht recht, wie sie fortfahren sollte, doch Alexander nickte ihr aufmunternd zu.
Erst zaghaft und verlegen, dann immer rascher und entschlossener legte sie ihm ihren Wunsch dar und Alexander lauschte erst verblüfft, dann belustigt, und am Ende zierte ein verschmitztes Lausbubenlächeln sein Gesicht.
»Nichts lieber als das, my dear! Es ist mir eine Ehre.«
Es klingelte. Ihre Bridgefrauen. Sie kamen immer alle zusammen, weil eine von ihnen fuhr und die anderen abholte. Elfriede öffnete die Tür, woraufhin ihre Freundinnen lachend und schnatternd eintraten und sie nacheinander umarmten.
»Geht doch schon mal rein, ich schneide die Torte an und hol‘ uns den Kaffee!«
Den »Rosenwalzer« vor sich hin summend verschwand Elfriede in der Küche und ihre Freundinnen begaben sich weiter tratschend ins Wohnzimmer.
Während sie mit einem großen Messer die Torte in gleichmäßige Stücke teilte, hörte sie, dass die Frauen leiser wurden und zu flüstern begannen. Sie musste in sich hineingrinsen, griff nach der Kaffeekanne und der Tortenplatte und schlenderte zum Wohnzimmer, setzte einen gefassten Gesichtsausdruck auf. Als sie eintrat, blickten sie alle schweigend an, nur Annegret, die an der Anrichte stand und ein Kärtchen in der Hand hielt, fuhr leicht ertappt herum. Sie hatte eben geschnüffelt, den anderen das gerahmte Foto gezeigt und die Karte vom riesigen Strauß roter Baccara-Rosen vorgelesen: »Liebste Elfriede! Danke für die wundervollen Stunden, die ich immer mit dir erleben darf, dein Alexander«
Annegret errötete, legte das Kärtchen und das Bild mit Alexanders lächelndem Gesicht zurück auf die Anrichte und setzte sich zu den Frauen an den Tisch. Elfriede stellte Kaffee und Torte ab und nahm ebenfalls Platz.
»Wer möchte ein Stück Schwarzwälder Kirsch?«, fragte sie mit unschuldigem Lächeln in die Runde. Irmela presste die Lippen aufeinander, sie sah regelrecht verkniffen aus. Blumen hatte sie von Hans-Günter nie bekommen. Luise konnte ihre Gefühle ebenfalls nicht verbergen, die Neugier und der Neid troffen ihr aus allen Poren. Allein Gisela zeigte ein leicht belustigtes und – ja, anerkennendes Schmunzeln.
»Was ist los? Warum sagt ihr nichts?«, fragte Elfriede und schaffte es, ein freundlich interessiertes Gesicht aufzusetzen und das Kichern zu unterdrücken. Irmela zeigte wortlos auf die Ablage unter dem Glastisch. Dort lag ein brauner Umschlag, aus dem einige Fotos herausgerutscht waren: Alexander umarmt Elfriede, Elfriede küsst Alexander, Alexander massiert Elfriede mit nacktem Oberkörper, Alexander füttert Elfriede mit Weintrauben … Gespielt genervt griff Elfriede nach dem Umschlag, schob die Bilder hinein und gab sich entrüstet.
»Also bitte, was schnüffelt ihr eigentlich hier herum.«
»Was heißt hier schnüffeln – diese Fotos sprangen einem doch so ins Auge.«
Annegret war jetzt puterrot im Gesicht und wandte mit grantiger Miene den Blick ab. Wahrscheinlich verglich sie gerade ihren fetten Edgar mit Elfriedes gutgebautem Liebhaber.
»Elfriede, Elfriede, stille Wasser sind tief … Ich glaube, du hast uns einiges zu erzählen«, sagte Gisela mit breitem Lächeln, zwinkerte ihr über den Tisch hinweg zu und rührte in der Kaffeetasse.
»Nein, hab‘ ich nicht. Eine Dame genießt und schweigt. So – möchte jetzt jemand Schwarzwälder?«
Irmela reichte ihr mit zitternder Hand den Teller. Gisela grinste sie weiter an: »Na, vielleicht packst du irgendwann mal aus. Ich bin so neugierig, wo und wie du den aufgegabelt hast. Also, ich freu mich für dich, was für ein Leckerbissen!«
Abends legte sich Elfriede zufrieden ins Bett. Keine ihrer Bridgedamen würde es mehr wagen, ihr dämliche Ratschläge zu geben oder ihr Äußeres zu kritisieren. Das wusste sie.
Was für aufregende Stunden sie erlebt hatte! Und wenn sie jetzt ins Kino ging, würde sie alles noch intensiver erleben. Elfriede seufzte – aber es war ein glückliches Seufzen.
Ach Alexander, wo du jetzt wohl steckst? Geht es dir auch so gut wie mir? Jeden Monat würde Fleurop ihr einen Blumenstrauß mit Gruß liefern … Das war Alexanders Idee gewesen. Sie selbst hatte sich die Fotos mit ihm gewünscht, die sie - teils herzhaft lachend - mit dem Selbstauslöser aufgenommen hatten.
»Danke, mein Lieber«, hauchte sie, nahm Alexanders Foto vom Nachttisch und küsste sein anziehendes, lächelndes Gesicht. Dann knipste sie die Lampe aus.
Und, was Elfriede zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen konnte: In naher Zukunft würde sie - auch durch ihr gestärktes Selbstbewusstsein - einem gebildeten, älteren Witwer auffallen, der regelmäßig Bücher in der Bibliothek entlieh, und von ihm zum Essen eingeladen werden ...
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2019
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Widmung:
Mein Beitrag zum 133. BX-Wortspiel mit dem Thema: "Manchmal wünschte ich ..."