Cover

.

Tief sog ich die frische Luft ein, die nach feuchtem Herbstlaub, Erde und Moos duftete. Und nach dem dunklen Wasser des Sees, der wie ein riesiger, schwarzer Spiegel vor mir lag.

Kälte kroch durch meine dünne Windjacke, ließ mich frösteln. Doch ein herrlicher Oktobertag dämmerte herauf und ich dachte, dass es sich gelohnt hatte, heute mit dem ersten Hahnenschrei aufzustehen.

Noch hing der frühmorgendliche Nebel über dem Gewässer, der sich jedoch in ein bis zwei Stunden aufgelöst haben würde, das wusste ich aus Erfahrung.

Ich stellte meine Angelausrüstung neben ein paar Baumstümpfen ab und ließ meinen Blick über das Wasser wandern. Hinüber zum Ufer auf der anderen Seite, über die teils rotgelb belaubten Baumkronen und den zartgrauen Himmel. Still war es hier. Absolut friedlich. Die Stille war ein Zustand, an den ich mich als Großstädter nach all der Alltags-Hektik immer erst wieder gewöhnen musste. Aber sie tat unglaublich gut.

Allein eine Vielzahl Vogelstimmen war zu vernehmen, die den anbrechenden Tag begrüßten. Ich sah Ringe auf der Wasseroberfläche, verursacht von den Fischen, die heute gut anbeißen würden. Mein Freund Manfred und ich waren für eine Woche zum Angeln gefahren, so wie wir es seit zwanzig Jahren, stets im Oktober, taten. Der »goldene« Herbst galt dafür als die beste Zeit!

Diesmal hatten wir uns ein Zimmer in der kleinen, hauptsächlich von Anglern, Radlern und Wanderfreunden frequentierten »Pension am See« im Mecklenburgischen gebucht. Im Moment waren nicht viele Urlauber anwesend. Außer Manfred und mir saßen stets nur zwei ältere Paare morgens im Frühstücksraum.

Heute war der letzte Tag unserer Männer-Reise. Morgen ging es wieder heim, zu unseren Ehefrauen. Daher hatten wir uns gestern im Schankraum einige Biere und Schnäpschen einverleibt, auch das war Tradition, am vorletzten Abend. Wir hatten wohl ein paar zu viel gehoben, denn Manfred lag in Essig im Bett und hatte nur gestöhnt, als ich ihn zum Früh-Angeln wecken wollte. Auch mir brummte der Schädel, doch ich hatte mich aufgerafft, im Bewusstsein, dass frische Luft und Bewegung halfen, den Kater loszuwerden, der seine schmerzenden Krallen in meinen Kopf versenkte.

Jetzt machte ich mich daran, meine Angelruten vorzubereiten, stellte sie auf und nahm auf dem Campingstuhl Platz. Mein Blick glitt erneut über den See, der Nebel begann bereits sich zu lichten. Außer mir war niemand hier. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie der letzte Mensch auf Erden.

Mal sehen, ob ich heute etwas Größeres fange, was uns die freundliche Wirtin zum Mittag zubereiten könnte. Mmh, mit Bratkartoffeln ... Eventuell hat sie auch ein Aspirin für Manfreds Schädel …

Ich lächelte in mich hinein, als meine Gedanken zu Esther wanderten. Meiner klugen, schlagfertigen und manchmal etwas spitzzüngigen Frau, die die weltbesten Bratkartoffeln zaubern konnte. Ob sie noch schlief? Wie immer auf dem Bauch? Träumte sie vielleicht gerade und verzog dabei die Augenbrauen wie ein knurriger Jagdhund, wie sie es häufig tat? Oder trank sie, Frühaufsteherin wie ich, schon ihren ersten Becher Kaffee mit viel Milch, und las die Zeitung?

Ich vermisste sie und freute mich darauf, sie Morgen wieder in die Arme zu schließen.

In der Ruhe wäre ich beinahe eingedöst, als ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt wahrnahm. Ich wandte den Kopf. Auf dem Steg saß ein kleiner Junge. Seine Beine hingen reglos herab, während er in das dunkle Wasser zu seinen Füßen hinab starrte, in dem sich die Bäume und Sträucher rundherum widerspiegelten. Traurig sah der Junge aus, den ich auf höchstens acht Jahre schätzte. Sicherlich hatte er Kummer.

Ich beobachtete ihn unauffällig, mit dem Impuls ringend, zu fragen, was ihn bedrücke. Aber war das eine gute Idee? Schließlich war ich nur ein unbekannter, älterer Mann für ihn. Bestimmt hatten seine Eltern ihn vor Fremden, die einen ansprachen, gewarnt. Vielleicht würde er schreiend davonrennen ... Aber andererseits: Vielleicht konnte ich ihm helfen.

Mir einen Ruck gebend erhob ich mich und ging langsam auf den Steg zu. Der Junge schien mein Kommen nicht zu bemerken, daher rief ich ihm ein freundliches »Guten Morgen« zu, damit er sich nicht erschreckte.

»Ich heiße Dieter. Ich bin mit meinem Freund zum Angeln hier«, sagte ich zu ihm, als ich ihn erreichte. Einen Moment zog ich in Erwägung, neben ihm in die Hocke zu gehen, blieb aber stehen. »Manfred schläft noch. Und was machst du so früh hier am See?«

Um ihn nicht anzustarren, blickte ich wie er auf das Wasser, beobachtete ihn aber insgeheim wieder aus dem Augenwinkel. Er sah gepflegt aus, trug ein Hemd und eine Jeans, aber keine Jacke.

Er war mit seinen Gedanken sehr weit weg, beachtete mich gar nicht. Darum vermutete ich, er habe kein Interesse an einer Unterhaltung und wollte mich gerade mit einem »Na, dann ...« zurückziehen, da meinte er, als ob er meine Unsicherheit gespürt hätte: »Sie können sich ruhig setzen, wenn Sie möchten, es stört mich nicht!«

Ich folgte seiner Einladung, nahm neben ihm auf dem Steg Platz und eine kleine Weile sagten wir beide nichts. Endlich hob er den Kopf, ich konnte sein feingeschnittenes Profil sehen, als die zuvor ins Gesicht hängenden Haarsträhnen zurückfielen. Doch noch immer schaute er mich nicht an.

»Schöne Landschaft«, sagte ich, um das Gespräch in Gang zu bringen. »Ich war mit Manfred schon an vielen Orten zum Angeln, aber dieser See gefällt uns besonders gut. Mit wem bist du denn hier?«

Ich bekam keine Antwort, aber ich bemerkte, dass sich die Züge des Jungen verschlossen wie ein Eisentor. Ob er wohl Ärger mit seinen Eltern hatte? Bei den Mahlzeiten hatte ich keine Familie in der Pension gesehen. Oder war er aus dem nahen Dorf hergekommen, um allein mit seiner Trauer - oder Wut - zu sein?

Ich dachte an meine Kindheit, als ich, wann immer ich aufgewühlt gewesen war, so gerne an unserem Fluss in einem Boot gesessen hatte, das damals irgendjemand am Ufer befestigt hatte. Und das sich, solange ich denken konnte, stets am selben Platz befunden hatte. Auch ich hatte dann ins Wasser gestarrt, allein sein wollen mit meinen düsteren Gedanken.

Ich weiß nicht, wie lange wir stumm nebeneinandersaßen, als das Kind die Stille unterbrach.

»Haben Sie noch einen Großvater?«

Etwas an der Art, wie der Junge die Frage stellte, schoss direkt in mein Herz und traf es voll.

Ah, dachte ich, er vermisst seinen Großvater. Vielleicht ist der vor Kurzem gestorben, das täte mir leid.

Warme Erinnerungen an meine Kinderzeit schwirrten durch meinen Kopf und plötzlich stand mein Großvater im Geiste vor mir, ich hätte die Hand nach ihm ausstrecken können.

»Nein, ich habe keinen Großvater mehr. Er ist vor vielen Jahren gestorben. Ich bin ja selbst schon ein Großvater. Aber ich hatte ihn sehr gern und ich wäre froh, er wäre hin und wieder noch für mich da. Mit ihm habe ich als kleiner Junge viel unternommen und er hat mir eine Menge beigebracht, mir viele tolle Dinge gezeigt. Ja, aber weißt du, ich habe ihn eigentlich immer noch, tief in meinem Herzen. Da wird er ewig sein. Wenn man so viele schöne Erinnerungen an einen Menschen hat, dann ist er nie ganz weg!«

Der Junge senkte den Kopf und ich sah Tränen auf seinen Wangen glänzen. Zaghaft begann er zu erzählen, fast wispernd, sodass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. »Mein Opa ist tot. Weil er sich so aufgeregt hat. Über mich. Er konnte überhaupt nicht mehr mit mir sprechen, nur noch ganz zart meine Hand drücken.«

Ich verspürte einen Stich des tiefsten Bedauerns in meiner Brust. Ach Gott, das arme Kind, dachte ich.

Der Großvater hatte wohl einen Schlaganfall oder Herzinfarkt gehabt und der Junge - war der etwa dabei gewesen?

Meine tröstenden Worte sprudelten sanft und tief aus meinem Herzen aus mir heraus. »Das tut mir sehr leid für deinen Großvater und natürlich auch für dich. Du hast deinen Opa bestimmt sehr lieb gehabt.«

Ich sah, wie sich die Finger des Jungen um die Holzplanken des Stegs krampften und fuhr leise fort: »Aber weißt du, das Leben deines Großvaters war wahrscheinlich am Ende angelangt, es ist nicht deine Schuld! Bestimmt nicht. Und du musst ganz fest daran glauben, dass es deinem Opa dort, wo er jetzt ist, gut geht, dass er keine Schmerzen mehr hat. Man sagt, Menschen, die sterben, ziehen einfach um in ein anderes, schöneres Zuhause.«

Ich hörte mich reden und dachte dabei, dass ich damals, als ich meinen Großvater verloren hatte, schon fast erwachsen gewesen war. Der Schmerz, den ich empfunden hatte, war mindestens so groß gewesen wie der des kleinen Jungen. Aber die Dankbarkeit, ihn gehabt zu haben, war von Jahr zu Jahr gewachsen. Diese Erfahrung würde er auch machen, irgendwann!

So saßen wir nebeneinander und ich hätte gerne seine Hand genommen. Aber dafür kannten wir uns nicht gut genug. Ganz still war es wieder, der Nebel fast fort. Die Dämmerung neigte sich ihrem Ende zu.

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte ich.

»Alexander«, war die Antwort. »Mein Opa hieß auch Alexander, wie ich.«

Grübelnd, wie ich den Jungen aufheitern oder von seinem Kummer ablenken konnte, bemerkte ich plötzlich, dass an einer meiner Angeln etwas angebissen hatte. Reflexartig sprang ich auf.

»Oh, sieh mal, ich hab' was gefangen! Scheint ein ziemlich großer Fisch zu sein! Komm, wir holen ihn raus!«

Ich eilte vom Steg, hinüber zu meinen Angeln, packte die Rute und begann die Schnur einzuholen. Beifall heischend wandte ich den Kopf, um Alexanders Reaktion zu sehen, doch der Junge war nicht mehr da.

Da, ein Rascheln im Schilf.

»Alexander?«

Ich blickte mich um, konnte ihn nirgends entdecken. Er war fort. Hatte ich ihn erschreckt? Das hatte ich nicht gewollt. Fand er es grausam, dass ich Fische aus dem Wasser zog, um sie zu töten und zu essen? Vielleicht saß er jetzt versteckt irgendwo im Gebüsch und beobachtete mich entsetzt. Obwohl ich mir ein wenig albern vorkam, griff ich nach der Leine und löste - mit einigem Bedauern - den zappelnden Fisch vom Haken. Warf ihn zurück in den See, wo er eilig in den dunklen Tiefen verschwand.

»Ich hab' ihn schwimmen lassen. Komm' doch wieder her, bitte«, rief ich halbherzig in die Stille. Aber das Kind blieb fort.

 

Nach Alexanders Verschwinden verspürte ich mit einem Mal keine Lust mehr auf Angeln, immer wieder schweiften meine Gedanken zu dem Jungen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es fast sieben war und somit die Frühstückszeit begann. Vielleicht konnte mir die Wirtin Auskunft über Alexander und dessen Familie geben. Rasch packte ich meine Ausrüstung ein und machte mich auf den Rückweg zur Pension.

Manfred schlief immer noch und schnarchte, als ich meine Sachen aufs Zimmer brachte. Somit begab ich mich ohne ihn zum Frühstücksraum. Außer mir war anscheinend noch kein weiterer Gast auf, denn ich traf Frau Wendler allein an, die gerade den letzten Tisch eindeckte.

»Guten Morgen!«, sagte ich, als ich eintrat und Platz nahm.

»Guten Morgen, Herr Friedrich. Na, schon beim Angeln gewesen? Heute ohne Herrn Ostmann?«, antwortete sie freundlich und zwinkerte mir schelmisch zu, als sie mit der Kaffeekanne an den Tisch trat. Sie schien genau zu ahnen, wie verkatert Manfred heute war. »Kaffee?«

Ich nickte und sie schenkte mir ein.

»Mein Freund schläft noch, ich war allein am See. Hatte auch einen dicken Fang gemacht, aber den habe ich wegen dieses kleinen Jungen wieder ins Wasser geworfen. Sagen Sie, macht hier auch eine Familie mit einem Sohn namens Alexander Urlaub?«

Frau Wendler erstarrte, die Kanne in der Hand. Ihr Gesicht erblasste. »Sie haben Alexander gesehen?«, flüsterte sie.

»Ja, einen Jungen, vielleicht acht oder neun Jahre alt, dunkles, längeres Haar, hellblaues Hemd und Jeans. Er schien sehr traurig zu sein. Wegen seines Großvaters. Als ich ihm meinen Fang zeigen wollte, war er verschwunden. Kennen Sie ihn?«

Die Wirtin wich zwei Schritte zurück, stellte abwesend die Kanne auf dem Buffet ab. Trauer - oder Sorge? - überschatteten mit einem Mal ihre sonst so strahlenden Züge. Entgegen ihrer energiegeladenen Art ließ sich auf einen Stuhl am Nachbartisch sinken und legte sich kurz die Hand vor den Mund, ehe sie wieder zu sprechen begann.

»Herr Friedrich, was ich Ihnen jetzt erzähle, wird Ihnen unglaublich erscheinen. Bitte halten Sie mich nicht für verrückt.« Sie räusperte sich, während ich sie gespannt anblickte. »Im Jahr 1977 machte ein älterer Herr mit seinem Enkel hier Urlaub. Meine Eltern führten damals die Pension, ich war ein Teenager, half aber schon aus. Herr Adler war ein pensionierter Arzt, ein netter Mann, und seinem Enkel Alexander sehr zugetan. Sie verbrachten wohl jeden Sommer einige Ferienwochen zusammen, wenn ich mich recht erinnere. Und in diesem August bei uns. Und dann ... dann passierte dieses schreckliche Unglück.«

Frau Wendler hielt kurz inne, ihre Züge spiegelten ihre Traurigkeit, die Erinnerung schien sie heimzusuchen und ich schluckte, lauschte wie gebannt.

»Herr Adler muss nachmittags eingeschlafen sein, so haben wir später gedacht. Auf jeden Fall ist der Junge an den Steg gegangen, obwohl er dort allein nicht hindurfte, denn er konnte nicht schwimmen. Und er ist ins Wasser gefallen und schrie wie am Spieß. Meine Mutter und ich rannten aus dem Haus, doch der alte Herr war schneller am Steg. Er sprang zu seinem Enkel ins Wasser, es war ein heißer Tag, das Wasser aber ist immer eiskalt. Er hat ihn noch ans Ufer gezogen, aber einen schweren Herzinfarkt erlitten und ist wenig später im Krankenhaus gestorben.«

Sie schloss kurz die Augen, und auch mir zog sich die Brust zusammen. »Der Junge hat die ganze Zeit geweint und gesagt, es sei alles seine Schuld", fuhr Frau Wendler fort. »Er wollte nicht berührt und nicht getröstet werden. Die Polizei kam, meine Mutter musste Fragen beantworten. Sie wies mich an, dass ich, wenn der Junge sich etwas beruhigt hätte, ins Haus gehen und seine Eltern anrufen sollte. Als ich drinnen war, ist er fortgelaufen. Wahrscheinlich wollte er dem Krankenwagen hinterher, er ist ... er ist auf der Landstraße vor ein Auto gerannt. War sofort tot. Wäre ich doch nur bei ihm geblieben ...«

Sie verstummte, presste ihre zitternden Lippen zusammen. Obwohl die Tragödie Jahrzehnte her war, schienen die Erinnerungen daran immer noch zu brennen und zu schmerzen. Bisher hatte ich nicht gewagt, sie zu unterbrechen, nun sagte ich: »Frau Wendler, Sie waren selbst fast noch ein Kind. Sie sind der Anweisung Ihrer Mutter gefolgt und Sie konnten doch nicht ahnen, was passieren würde. Was für eine tragische Geschichte.«

Mir wurde kalt, als mir aufging, dass ich ... einen Geist getroffen hatte. Die Wirtin deutete meinen Gesichtsausdruck richtig.

»Ja, manchmal erscheint Alexander bestimmten Menschen, immer in der Dämmerung, immer am Steg. In den vergangenen Jahrzehnten haben einige Leute ihn gesehen. Und ... ich weiß nicht, wie ich es sagen soll ...« Ich nickte ihr aufmunternd zu. »Hören Sie, sein Geist ist immer nur denen erschienen, die kurz darauf einen geliebten Menschen verloren. Als ich das erkannte, habe ich mir angewöhnt, diese zu warnen. Auch auf die Gefahr hin, dass man mich für verrückt erklärt und nie wieder in unser Haus kommt. Ist jemand in Ihrer Familie sehr krank?«

Ich betrachtete ihr gütiges, trauriges Gesicht und unterdrückte meinen Unglauben. Schließlich hatte ich den Jungen gesehen, mit ihm gesprochen, und die Frau erweckte keinesfalls den Eindruck, als würde sie sich gerade einen schlechten Scherz auf meine Kosten erlauben.

»Nein ...«, stammelte ich. »Unser Sohn und unsere Schwiegertochter sind kerngesund. Unsere Enkel sind auch nicht krank, auch nicht meine Frau ...« Ich hielt inne. Esther war allein zu Hause. Was, wenn doch etwas passiert war? Ich verspürte den Drang, sie sofort anzurufen. Zog mein Handy hervor und drückte eine Taste. Ließ es klingeln. Und klingeln. Schlief sie noch? Ich wählte die Nummer ihres Handys, das sie abends immer neben das Bett legte. Nichts. Keine Reaktion.

Die Angst saß plötzlich wie ein Eisblock in meiner Brust, raubte mir fast den Atem. Ich kämpfte meine Panik nieder, als ich Frau Wendlers sorgenvolles Gesicht sah. Ich musste jetzt die Nerven bewahren. Entschlossen drückte ich eine weitere eingespeicherte Nummer, die unserer Nachbarin Heide. Sie war nach dem vierten Läuten dran.

»Guten Morgen, hier spricht Dieter. Entschuldige die frühe Störung, aber könntest du bitte kurz nach Esther sehen? Sie nimmt nicht ab, ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Aber es ist erst kurz nach sieben, bestimmt schläft sie noch.«

»Bitte geh' rüber und sieh nach. Und nimm den Schlüssel mit, den wir dir gegeben haben, ja? Das geht auf meine Kappe, falls Esther nur schläft und sauer ist.«

Als Heide eingewilligt hatte, trennte ich die Verbindung. Banges Warten folgte. Die Zeit schien sich wie zähes Kaugummi dahinzuziehen. Frau Wendler sah genauso angespannt und nervös aus, wie ich mich fühlte.

»Warum dauert das so lange? Sie hätte doch längst zurückrufen müssen ...«, murmelte ich, den Tränen nahe und die Wirtin legte ihre Hand auf meine.

Als mein Handy endlich läutete, zuckte ich zusammen.

»Ja?«

Heides Stimme überschlug sich fast. »Oh, Dieter, woher wusstest du das ... Esther lag auf dem Boden in der Küche, bewusstlos. Ich hab' sofort den Krankenwagen gerufen, sie haben sie stabilisiert und mitgenommen. Was Genaues weiß ich nicht, aber sie haben gesagt, sie wird höchstwahrscheinlich durchkommen, weil sie früh genug gefunden wurde ... Du sollst kommen, sie ist im Rot-Kreuz-Krankenhaus ... Ich bin ganz fertig.«

Ich dankte unserer Nachbarin und legte auf. Mir war schlecht. Mein Herz raste. »Ich danke auch Ihnen, Frau Wendler, so sehr. Meine Frau wird es wahrscheinlich schaffen, sie ist jetzt in der Klinik. Ich kann das alles nicht fassen, aber ich muss jetzt los, meinen Freund wecken. Bitte machen Sie unsere Rechnung fertig.« Damit stürmte ich hinaus.

 

Manfred war mit einem Schlag hellwach, als ich ihm die schlechte Nachricht mitteilte. Er wollte nur noch schnell duschen und packen, dann würden wir losfahren. Ich hielt es im Zimmer nicht aus, rollte meinen Koffer und meine Ausrüstung schon zum Auto und beglich dann die Rechnung an der Rezeption. Die Wirtin umarmte mich zum Abschied, sagte tröstende Worte.

Da Manfred noch ein paar Minuten benötigen würde, begab ich mich hinunter zum See. Es zog mich einfach dorthin. Die Sonne strahlte inzwischen vom Himmel, das dunkelgrüne Wasser schimmerte. Ich sah zwei späten Libellen zu, die mit ihren schillernden Flügeln vor mir hin und her flogen. Wie kleine Pfeile schossen sie vorbei, ehe sie sich auf einem Seerosenblatt etwas Ruhe gönnten.

»Alexander, ich danke dir, dass du meine Esther gerettet hast«, sagte ich, und war mir in diesem aufgewühlten Moment der Irrationalität meines Tuns nicht bewusst. Tränen schossen mir wieder in die Augen. »Und, bitte, wenn du mich hören kannst: Dich trifft keine Schuld. Dein Großvater liebt dich, so wie du ihn. Er hat deine Hand gedrückt, weil er dir genau das sagen wollte. Nichts anderes. Er ...«

»Mit wem sprichst du da?« Manfred tauchte neben mir auf. Blass und ernst sah er aus, legte mir mitfühlend eine Hand auf die Schulter.

»Schon gut. Lass uns fahren.«

Auf dem Weg zum Parkplatz wandte ich mich noch einmal um, blickte zurück auf den glitzernden, smaragdgrünen See.

Danke, Alexander ...

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 20.09.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /