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Ich bin müde, so müde.

Kraftlos, obwohl mächtig, todbringend.

Viel Zeit ist vergangen, seit ich zu der wurde, die ich bin. Ertragen muss, was ich bin.

Alterslos machte mich die Göttin mit ihrem Fluch, doch nicht unsterblich.

Jahre der Einsamkeit, der Rache an den Falschen, der Trauer um die, die ich einst gewesen.

Des Verlusts. So viele Jahre der Grausamkeit und des Tötens. In der Verbannung. Geächtet.

Allein mit mir, dem Monstrum.

 

Einst war ich eine wunderschöne junge Frau gewesen, die nicht mit ihren Reizen und ihrem Charme geizte. Wie alle Mädchen wollte ich gefallen, betören, erobern und erobert werden.

Niemand Geringerer als Poseidon, der Meeresherrscher und Erderschütterer, begehrte mich.

Beeindruckt von seiner Macht, seinem imposanten Auftreten und Werben gab ich ihm nach. Leichtsinnigerweise vergnügten wir Liebenden, Gott und Meeres-Dämonin, uns auch im Tempel der Athene auf der Akropolis von Athen. Ich weiß nicht mehr, wer von uns beiden die Idee dazu geäußert, welche Dummheit uns geritten hatte, flüsternd und leise lachend diesen heiligen Ort zu betreten und dort übereinander herzufallen.

Doch es ist bekannt, dass die unsterblichen Götter oft gedankenlos in ihrem Tun sind. Oder wollte Poseidon die gestrenge Athene absichtlich verärgern? War ich nichts anderes als eine Spielfigur auf dem Brett seiner kindischen Geltungssucht? Wusste er schon vor unserer schändlichen Vereinigung, dass nicht er die Konsequenzen zu tragen hätte?

Nein, ich allein, Medusa, machte mir die jungfräuliche Göttin zur erbitterten Feindin.

Diesen Moment des Entsetzens, als sie Poseidon und mich auf dem Altar überraschte, werde ich nie vergessen. Ihre Kälte, ihre beherrschte Wut.

Nur ihre schwarzen Augen glühten verräterisch aus ihrem alabasterweißen Gesicht. Vernichtend.

Kaum noch atmend sank ich vor ihr auf die Knie, wie ein Soldat vor dem Todesstoß des Feindes.

Ihr kaltes Lächeln glitzerte wie blankes Eis, ehe sie auf mich zeigte und mich verwünschte. Zu diesem abscheulichen Wesen mit der langen, gespaltenen Zunge, den Fangzähnen, der schuppigen Haut, den goldenen Flügeln und Schlangenhaaren machte. Und mir Augen verlieh, denen man nicht ausweichen konnte, die strahlten und verführten, jedoch dem Betrachter den Tod brachten, indem sie ihn zu Stein verwandelten.

»Vermeide lieber den Blick in den Spiegel, törichtes Kind. Dein Anblick wird dich nicht mehr erfreuen. Und vergiss nie, dass du sterblich bist«, höhnte sie, ehe sie mich mit einer einzigen Handbewegung hinauswedelte, sich abwandte und gemeinsam mit Poseidon entschwand.

Mich ließen sie auf den Stufen vor dem Tempel kauernd zurück. Mit meinem Grauen allein.

 

Ich floh. Weinte bittere Tränen, welche die Schlangen auf meinem Kopf erbosten, die sich zischend daran machten, mir das salzige Nass von den Wangen zu lecken.

Von da an unterdrückte ich das Weinen, stieß stattdessen in meinem Innersten einen nicht enden wollenden, dunklen Schrei aus.

Während ich lief und lief, immer gut versteckt vor den Blicken der Menschen, breitete sich Trauer in mir aus. Nie wieder würde ich die reizvolle Gorgone sein. Ich hatte alles verloren. Nicht nur meinen Liebreiz. Nein, auch mein Zuhause, den Platz unter den meinen. Meine Mutter Keto und meinen Vater Phorkys, die Meeresgötter, meine beiden Schwestern Stheno und Euryale. Mein altes Leben.

Nie wieder würde ich mich frei unter ihnen, unter den Menschen bewegen können. Von nun an war ich verdammt zum Leben im Abseits.

Meine Flucht endete auf einer kargen, unbewohnten Insel.

Die Einsamkeit war zuerst ein willkommener Freund, die Nähe des Meeres wollte ich als seine einstige Tochter nicht missen.

 

Im Laufe der Jahre musste ich feststellen, dass Trauer keine Erfahrung ist, die man einmal durchmacht, um sie dann hinter sich zu lassen. In Wahrheit sucht sie dich in Wellen heim. Zwischen den Phasen der Dumpfheit, des Vergessens, zwischen den Resten dessen, was von deinem Leben übrig geblieben ist, brandet immer wieder der Schmerz auf, überwältigt dich wie eine reißende Woge.

 

Dann begann das Töten. Natürlich war meine schauderhafte Verwandlung nicht geheim geblieben.

Athene musste es Häme und Genugtuung bereitet haben, die Menschen auf meine Fährte zu setzen, sie gegen mich aufzuhetzen. Als Göttin wusste sie, wo ich mich befand. Den großen Mächtigen bleibt nichts verborgen.

Hinweise wurden gestreut, Krieger bewaffneten sich, ehe sie loszogen, mich zu finden. Hinzurichten.

Einen ganzen Frühling und fast den gesamten Sommer hatte ich in meiner Einsamkeit verbracht. Als die Zeit der Hitze wie ein alternder Schauspieler von der Bühne abtrat, da hinter den Kulissen bereits der Herbst als Totengräber wartete, kamen sie.

An einem stürmischen Abend suchten sie mich das erste Mal auf. Ich sah ihr Schiff vor dem feurigen Horizont nahen. Hörte das Klirren ihrer Waffen, als sie von Bord strebten, vernahm den selbstgerechten Zorn in ihren dunklen Stimmen, aber auch die Angst, die hinter ihrem männlichen Lachen kauerte.

Ich beobachtete sie aus dem Verborgenen, wünschte, dass sie wieder abzogen.

Erst, als sie begannen, mich zu verhöhnen, Zoten über mein Äußeres und meine Familie zu reißen, und damit eine hitzige Wut in mir entfachten, trat ich aus meinem Versteck und überraschte sie dermaßen, dass sie anstatt den Blick abzuwenden ihn auf mein grauenhaftes Antlitz, meine tödlichen Augen hefteten.

In der Spanne eines Wimpernschlags erstarrten sie in ihren Bewegungen, Unglauben, Staunen, das Entsetzen, für die Ewigkeit in ihre Züge gemeißelt. Sie wurden zu den ersten Bewohnern meines Statuen-Parks.

 

Menschen sind töricht. Noch törichter als die Götter, die sie anbeten.

Nicht nur Krieger versuchten mich zu finden, nein, auch Neugierige. Abenteurer. Narren. Einfache Männer. Frauen. Kinder.

Hatte die nach wie vor rachsüchtige Athene Gerüchte gestreut, ich bewachte einen Goldschatz?

Als die ersten Knaben, kaum mehr als zehn Sommer alt, in meine Höhle schlichen, ihr kindliches Geflüster von den Wänden und der hohen Decke widerhallte, da ergriff mich Panik.

»Geht«, zischte ich aus den Schatten. »Seht mich nicht an. Ich bringe den Tod.«

Verstanden sie mich überhaupt? Oder hörten sie nur das unheimliche Säuseln eines Ungeheuers?

Denn die Schlangen auf meinem Haupt rissen die Mäuler auf, zischelten bösartig und reckten die Hälse, spritzten ihr Gift in Richtung der Kinder.

Statt fortzulaufen blieben diese stehen. Rückten enger zusammen, spähten ängstlich nach allen Seiten, doch ihre Neugier überwog, ließ sie verharren.

»Hinfort mit euch!«, fauchte ich, eine krallenbewehrte Hand ins Licht krümmend, um sie zu erschrecken, zum Rückzug zu bewegen. »Flieht, wenn euch euer Leben lieb ist!«

Sie aber begannen zu schreien, griffen nach Steinen und bewarfen mich damit. Von allen Seiten prasselten die Geschosse auf mich ein, versetzten mir blutige Wunden, schmerzten. Doch die schlimmere Pein war ihr Hass. Sie brachten mich letztendlich zum Wanken, zum Fallen.

Das Unvermeidliche geschah: Unsere Blicke verbanden sich und der letzte Rest Mitgefühl in mir wehklagte lange Zeit um die vergeudeten jungen Leben.

Medusa, das Schlangenhaupt.

Medusa, die Bestie.

Medusa, die Kindsmörderin.

Oh, wie sehr ich wünschte, meinem unseligen Dasein ein Ende zu setzen. Doch wie?

Die Schlangen auf meinem Kopf gehorchen mir nicht, wüssten es zu verhindern.

Zudem trage ich ungeborenes Leben in mir. Die Vereinigungen mit Poseidon sind nicht ohne Folgen geblieben. Manchmal spüre ich Bewegungen und Tritte in meinem Leib. Etwas Starkes, Machtvolles wächst in mir heran. Aber noch drängt es nicht ans Licht der Welt.

 

Ich zog weiter. Verbarg mich an noch abgeschiedeneren Orten. In der Ödnis, fernab der Menschen, aber stets in der Nähe des rauschenden Meeres, dessen Duft und Gesang ich brauche wie die Luft zum Atmen.

Jedoch auch hier fanden sie mich, suchten die Gefahr, das Heldentum, den vermeintlichen Schatz.

Ein Mann tauchte auf, stellte sich breitbeinig auf. Begann, mich zu provozieren. Als ich schlangengleich hinter einer Klippe hervorglitt, ihn mit meinen vernichtenden Augen zu bestrafen, da zerrte er plötzlich seine Frau vor sich, derer er überdrüssig war. Obgleich sie abwehrend die Hände hob, kreuzten sich unsere Blicke, sie erstarrte, der Schrei auf ihren weit geöffneten Lippen erstarb, während der zufriedene Witwer lachend davon eilte.

Nun war ich, Medusa, auch Handlangerin eines Ehebrechers geworden, seine steinerne Frau blieb als stummes Zeugnis meiner Untat zurück.

Ich verschloss mein Herz, mauerte es ein in Finsternis und Kälte. Wollte nicht mehr leiden, kein Mitgefühl mehr verspüren. Die Menschen waren es nicht wert.

Mein altes Leben. Die unbeschwerte Jugendzeit. Nur noch Schatten einer Erinnerung, aufbewahrt in einem toten Winkel meines Geistes.

 

Eines Nachts besuchte mich das Orakel im Traum. Verhüllt in Schleier offenbarte es mir die Zukunft in einem Spiegel.

Ich sah meine Mutter Keto und meine Schwestern, Euryale und Stheno.

Sie standen in der tosenden, erzürnten See, Wellen peitschten an ihnen hoch, brachen sich an ihren Leibern. Blitz und Donner zuckten über den violettschwarzen Himmel, der Sturm riss ihre Stimmen fort, verzerrte sie.

Sie wehklagten und rauften sich das Haar.

»Medusa, flieh«, rief meine Mutter. »Athenes Zorn ist noch nicht erschöpft. Sie wird den jungen Helden Perseus schicken, den Sohn des Zeus, dich zu vernichten. Er soll ihr dein Haupt bringen!«

Sie schrie und weinte.

»Perseus wusste nicht, wie er dich finden, geschweige denn, wie er dich überwältigen kann«, fuhr Euryale fort. »Aber Athene, deine alte Feindin, eilte ihm mit gutem Rat zu Hilfe, schenkte ihm einen glänzenden Bronzeschild, ihr Bruder Hermes gab eine diamantene Sichel dazu. Darauf schickte sie Perseus zum fernen Atlasgebirge, wo in einer Höhle nahe Verwandte von uns, die Graien leben, zwei alte Frauen, Dämoninnen wie wir.«

»Sie wollten dich nicht verraten, Schwester, sie hatten keine Wahl«, klagte Stheno. »Nur mit List und Tücke gelang es Perseus, den Alten zu entlocken, wo du zu finden bist. Er ist gut gerüstet für den Kampf gegen dich, nimm dich in acht! Mit Hilfe der Flügelschuhe wird er dich in kürzester Zeit erreichen, um dich im Schlaf zu töten. Der Spiegel des glänzenden Schilds, er wird dein Untergang sein, wenn du nicht fliehst!«

Die Stimmen der Frauen wurden leiser, entfernten sich. Als Letztes vernahm ich meine Mutter, wispernd wie der Wind: »Kind, allem Schlechtem entspringt auch Gutes. Du wirst zwei mächtigen Wesen das Leben schenken, dem geflügelten Ross Pegasus und dem goldenen Riesen Chrysaor ...«

Das Traumbild verschwamm, wurde schwarz. Das Orakel war fort.

Ich erwachte schweißgebadet und heftig atmend. Beruhigte mich. Und wartete.

 

Jetzt sehe ich ihn kommen. Mit dem festen, unbeirrbaren Gang des Helden nähert er sich meinem Felsen, bewaffnet mit den Wundergaben, das stolze Raubvogelgesicht zur Sonne empor gereckt.

»Perseus, Sohn des Zeus!«, rufe ich.

Er verharrt nur einen Moment, ehe er unerbittlich näher schreitet, der Richtung meines gezischten Grußes folgt.

»Zeige dich, Ungeheuer«, spricht er, den Griff der Sichel fest umklammernd, den Blick weise in seinen Spiegelschild gerichtet.

Gelähmt vom Gespenst meines eigenen Verlusts habe ich Mühe, Worte zu finden.

»Richte mich, Perseus. Ich bin müde. Ich werde mich nicht wehren, meine tödlichen Augen verschlossen halten. Wenn du mir versprichst, bei deiner Ehre, meinen Leib den Wellen zu übergeben.«

In Perseus Gesicht zuckt es, erst Verwirrung, dann Erkenntnis flackern darin auf, ehe seine Züge wieder hart und stoisch werden. Angesichts meiner Worte verfinstert sich sein Blick noch mehr. Er will den Kampf, meinen Widerstand. Mein Ergeben erzürnt ihn.

Und ich erkenne, was er ist: Unter der Maske des strahlenden Helden, unter seiner dünnen menschlichen Haut, lauert ein eiskaltes Reptil. Vielleicht ein grausameres, als ich es bin.

Nun brennt in seinen Augen der Hass. All das sehe ich in seinem Spiegelschild, als er sich mir vorsichtig, voller Misstrauen nähert.

Ich atme ein letztes Mal tief durch, schließe meine Lider.

Gut so, Sohn des Zeus.

Komm, und beende es endlich.

Schenke mir Frieden.

Halte dein Versprechen ...

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichten - Wettbewerb Juli 2014 mit dem Thema: "Abseits" (Platz 2) Mein Beitrag zum Wettbewerb "Geheimnisse der Weltgeschichte" Januar 2020

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