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Corvin. Wie passend seine Eltern diesen Namen für ihn gewählt hatten.

Der Rabe. Dunkel und klug.

Obwohl ich überreichlich Erinnerungen an ihn habe, fürchtete ich lange, dass sie abnutzen, glattscheuern, unter zu viel Licht verblassen könnten, weil ich sie zu oft bemühte. Wenn ich sie hervorholte, meistens in einsamen Stunden, sollten sie so leuchtend sein, dass es mir den Atem verschlug, und so scharf, dass sie weh taten. In unzähligen Nächten hatte ich sie alle vor mir ausgebreitet wie hauchdünne Bilder, ausgeschnitten aus Seidenpapier, und war sie durchgegangen, eine nach der anderen. Und etwas Schnelles, Nadelfeines jagte durch mich hindurch, Schüsse reinen Schmerzes.

Corvins leicht schiefes Lächeln. Das amüsierte Funkeln seiner dunklen Augen mit den sich vertiefenden Lachfältchen, wenn er mich neckte. Die vorwitzige Strähne schwarzen Haares, die ihm in die Denkerstirn fiel. Die ergrauten Schläfen, die ihn noch anziehender machten.

Die Brillanz seiner Gedankengänge. Seine Leidenschaft beim Diskutieren, die samtene Stimme, der ich stundenlang lauschen konnte. Die Zuversicht und Zuneigung in seinem Gesicht, wann immer er mich anblickte, selbst als todkranker Schatten seines alten Ichs.

Wie tapfer er gewesen war! Der Gedanke schnürte mir einen Augenblick die Luft ab, ich schluckte, musste die Augen schließen.

Die langgliedrigen Finger seiner Künstlerhände, mit denen er Gesagtes unterstrich. Später, gegen Ende, dürr und kühl, die meinen umschließend, um Trost zu spenden, obwohl ich die Gesunde und vermeintlich Starke war, die zurückbleiben würde. Hinter meiner zuversichtlichen Maske hatte er meine Angst erspäht.

Sein Wunsch war, ich möge nicht zu lange trauern, mein Leben weiterleben. Er sprach es nicht aus, aber ich wusste, was er wirklich meinte: Du wirst eine neue Liebe finden, irgendwann.

Wie soll das gehen?, hatte ich geschrien, pure Verzweiflung, um vor meiner eigenen Stimme zu erschrecken, und leise fortzufahren: Etwas wie das mit uns, das gibt es nur einmal. Das weißt du.

Er hatte nur gelächelt, sein stilles, wissendes Lächeln, das bis in seine Augen hineinreichte.

Hab keine Angst, Viola. Ich bin bei dir, immer, hatte sein Blick gesagt.

 

Zwei Wochen darauf war es vorbei. Ich wurde zu spät angerufen, war wie eine Besessene die Autobahn entlang gerast, hatte es dennoch nicht mehr rechtzeitig geschafft. Machte mir Vorwürfe, dass ich abends auf seinen Wunsch nach Hause gefahren war und nicht - wie die Nächte davor - an seinem Bett gewacht hatte. Oder war auch das Corvins Absicht gewesen, mich vor noch größerem Leid zu schützen? Ihm nicht beim Endkampf gegen die tödliche Krankheit zusehen zu müssen? Ich hätte es getan, gewollt. So wie er es für mich getan hätte. Doch er war ein liebevoller Stratege - vorausschauend, in allen Belangen.

Als wir uns kennenlernten, vor 23 Jahren, war er ein junger Dozent an der Universität, an der ich sofort nach Ende meiner Ausbildung eine Anstellung als Sekretärin ergattert hatte. Er war in mein Büro gekommen, um die Studentenlisten abzuholen, ein magischer Moment ... Sobald sich unsere Blicke verbanden, passierte etwas mit uns. Mit uns beiden. Bis ich ihn kennenlernte, hatte ich es nicht für möglich gehalten, so heftig und tief empfinden zu können. Als hätte ich nie zuvor gefühlt.

Er war so präsent, hatte eine unglaublich starke Aura, strahlte Selbstbewusstsein aus, vor allem aber aus seinem Innersten Menschlichkeit, Mitgefühl und Loyalität.

Wir wurden ein Paar. Und ich, deren Biografie bis dahin aus einer unglücklichen Kindheit und mehreren gescheiterten Kurz-Beziehungen bestanden hatte, kam endlich zur Ruhe, fand meinen Hafen.

Corvin besaß die sanfte, aber unbezwingbare Stärke eines windstillen Ozeans, der mit der Zeit die spitzen Kanten meiner verletzten Seele schliff, bis ich weich und umgänglich wurde wie eine an den Strand gespülte Scherbe.

An seiner Seite war ich gewachsen. Sein Tod drückte mich zurück.

Das ist nicht fair, hatte ich anfangs gedacht. Warum ließ man gerade ihn derartig leiden, riss ihn, fünf Tage vor seinem 59. Geburtstag, aus dem Leben? Weshalb nahm man mir das Beste fort, was mir je widerfahren war?

Verzweiflung und Wut tobten in mir, bis der Schmerz dumpfer wurde und sich Leere in mir auszubreitete. Ich wie ein Roboter durch mein Leben schritt, das gefühlt keines mehr war. Mechanisch zur Arbeit ging, auch lächelte, wenn ich Christian, unseren Sohn, traf, der die gleichen rauchgrauen Augen und langen Glieder besaß wie sein Vater. Der vor Trauer versteinert, gerade wie ein Fels neben mir gestanden hatte, bei der Beerdigung, während der Beileidsbekundungen.

 

Das ist nun fast vier Jahre her.

Das Aussortieren seiner Sachen fiel mir nicht leicht. Es unterstrich die Endgültigkeit. Letztendlich behielt ich nur Corvins Siegelring, ein altes Familienerbstück. Irgendwann würde ihn Christian tragen, unser einziger Sohn, doch noch streifte ich ihn mir jeden Morgen auf den Daumen, auf welchem er viel zu locker saß. Aber seine Schwere, die Wärme des Goldes, hatten etwas Tröstliches.

Der Gedanke an eine neue Beziehung lag mir fern. Freunde hatten versucht, mich auf einer Feier jemandem vorzustellen, etwas plump, aber gut gemeint, das wusste ich. Die Nähe des Fremden verursachte Unwohlsein in mir. Ich konnte ihm kaum in die Augen blicken.

Als er mich spontan umarmte und mir etwas ins Ohr flüsterte, übefiel mich lodernde Panik. Ich hatte mich losgerissen und war aus dem Zimmer gestolpert. Durch die Nacht nach Hause gelaufen, ohne anzuhalten. Ich war nicht bereit. Es fühlte sich wie Verrat an, einem anderen Mann Interesse, gar Zuneigung zu schenken. Vom Kopf her wusste ich, dass das albern war, falsch, nicht das, was meine Familie sich für mich wünschte. Was sich Corvin für mich gewünscht hätte. Doch für mein Herz fühlte es sich richtig an.

 

Vor drei Monaten, an einem düster verhangenen Tag, verlor ich den Ring. Auf einem meiner häufigen Gänge zum Friedhof. Bei der Pflege des Grabes oder auf dem Weg dorthin? Ich weiß nicht, wo er mir vom Finger gerutscht war. Sobald ich den Verlust bemerkte, eilte ich den gesamten Weg zurück, die Augen auf den Boden geheftet, innerlich mit mir schimpfend und hadernd. Aber ich fand ihn nicht. Weder zwischen den Pflanzen auf Corvins Grab, noch auf dem Schotterweg oder der Straße. Jemand musste ihn gefunden und eingesteckt haben. Er war verloren, würde nie an Christians Hand stecken.

Ich weinte. Ballte meine Hände zu Fäusten, so wütend war ich auf mich, ein Schluchzen entwich meiner Kehle.

Zeitgleich ertönte ein Krächzen in die Stille des Friedhofs. Ich blickte mich um. Der einsame Ruf wiederholte sich, gefolgt von einem Flattern, das aus den Bäumen aufstieg.

Über den nebelverhangenen Himmel folgte ich dem schwarzen Vogel mit den Augen.

 

Vor vier Wochen begannen die Träume. Einerseits ersehnte ich sie, andererseits fürchtete ich mich vor ihnen, denn sie waren so real, und wenn ich aus ihnen erwachte, tobte mein Herz vor Sehnsucht.

In den Träumen war Corvin an meiner Seite, nicht der ausgezehrte, vom Tod gezeichnete Mann. Nein, der Corvin, wie er früher ausgesehen und sich bewegt hatte. Meistens kam er auf mich zu, nahm meine Hand, wie ein guter Freund, nicht wie ein Geliebter, und wir gingen spazieren. Kehrten zurück an Orte, die wir gemeinsam besucht hatten.

So vertraut war das Gefühl seiner Hand in meiner, seine Wärme neben mir zu spüren. Wir liefen am Ostseestrand, durch Budapest, flanierten entlang der Grachten von Amsterdam. Erlebten erneut die flirrende Mittagshitze während der Besichtigung der Alhambra von Granada, spazierten noch einmal an einem lauschigen Sommerabend in Paris an der Seine-Promenade.

Wort für Wort unserer Traumgespräche hat sich mir eingebrannt.

Lass los, Liebling, sagte er jedes Mal, kurz bevor unsere Begegnungen endeten. Es ist Zeit, loszulassen ...

Seine Stimme ein raues Flüstern in meinem Ohr, ehe ich erwachte, mit Tränen auf dem Gesicht.

In meinem letzten Traum von Corvin gingen wir durch Rom. So echt wirkte es, das abgerissene Flair dieser uralten Stadt, Jahrtausendaltes neben Modernem. Ich war noch nie dort gewesen, dennoch zeigten sich mir ganze Straßenzüge, konnte ich die abgasverseuchte, pulsierende Hitze der Stadt spüren, die auch vom Asphalt aufstieg.  Es war abends. Der dunkelnde, rosige Himmel. Große, bauschige Wolken, langsam treibend wie der Rauch eines Lagerfeuers in der Ferne. Die allmählich abkühlende Luft, nun erfüllt von den verlockenden Düften der Restaurants.

Es zerriss mir fast das Herz. So oft hatten wir davon gesprochen, Rom zu besuchen, wenn es ihm besser ginge. Doch die Krankheit war unbarmherzig gewesen.

Flieg' nach Rom, Viola. Auch ohne mich. Seine Stimme hallte in mir nach, als ich die Augen aufschlug und aus dem Fenster in die Morgendämmerung hinausblickte. 

 Eine traumlose Woche später buchte ich einen Flug und ein Hotel in Rom, nahm meinen Resturlaub in Anspruch.

Christian und Sandra begrüßten meinen Ausbruch aus der Lethargie - ich hatte ihnen nicht von den Träumen erzählt. Sie zeigten sich nur minimal besorgt.

»Willst du wirklich allein reisen? Soll Sandra dich begleiten, Mama? Oder eine Freundin?«, fragte mich mein Sohn mehrmals. Ich lächelte seine Bedenken fort und schüttelte den Kopf.

 

Heute Morgen war es so weit, ich trat die Reise an.

Jetzt verlasse ich das Flughafengebäude, tauche ein in die glühende Mittagshitze der römischen Vorstadt Fiumicino, mein Herz schlägt rascher. Dies hatten wir zusammen erleben wollen. Corvin hätte mir schon während des Fluges viel über die »Ewige Stadt«, ihre Sehenswürdigkeiten und die besten Restaurants erzählt. Nun bin ich hier und muss mich allein zurechtfinden.

Ein Taxi bringt mich ins »Le Stanze di Federica«, ein familiäres Hotel in der Via Cola di Rienzo. Das hatte Corvin damals ausgesucht, und als ich den klimatisierten Altbau betrete, ist mir einen Moment, als spüre ich seine Präsenz neben mir. Ich glaube sogar, einen Hauch seines Aftershaves wahrzunehmen. Sehe mich um, blinzele. Der Augenblick ist vorbei und ich steuere auf die Rezeption zu, um einzuchecken.

In meinem Zimmer gebe ich dem Pagen, der mein Gepäck bringt, ein Trinkgeld, ehe ich die Klimaanlage herunterregele, die Türen zum Balkon öffne und hinaustrete. Hinab auf die vielbefahrene Straße blicke. Hitze und Verkehrslärm hüllen mich ein, italienische Satzfragmente und Lachen dringen an mein Gehör. Die Lebendigkeit der Stadt springt auf mich über.

Nach einer ausgiebigen Dusche ziehe ich ein luftiges Sommerkleid an, setze einen dazu passenden großen Hut auf, der mich vor der brennenden Sonne schützen wird.

Im Foyer schließe ich mich spontan einer Reisegruppe an, die eine Sightseeing-Tour im Bus bucht. Das Kolosseum. Die Engelsburg. Der Circus Maximus. Beim Trevi-Brunnen steige ich aus. Er zieht mich magisch an. Der kleine Platz vor dem Brunnen ist überfüllt mit Menschen, und in mir wogt eine leichte Panik auf, wie sie mich bei Menschenmassen seit Corvins Tod leicht erfasst. Doch diesmal vermag ich sie im Zaum zu halten, beiße mir innen auf die Wangen, versuchte, flach zu atmen und setze einen Fuß vor den anderen.

Es dauert eine Weile, bis ich mich in der Menge nach vorne geschoben habe, meine Finger ins kühle Nass gleiten lasse, das Rauschen der kleinen Wasserfälle vernehme, die meisterhaften Statuen betrachten kann. Was für eine beeindruckende Stadt!

Auch die nächsten beiden Tage verbringe ich mit Besichtigungen. Der Petersplatz, der Dom, Museen und Kirchen.

Und ich spüre, dass ich statt zu entspannen und die Reise zu genießen, immer deprimierter werde. Meine Einsamkeit mich anspringt und sich in mir verbeißt wie ein tückisches, kleines Tier.

Ein längst abgelegt geglaubter Gedanke kehrt mit aller Macht zurück: Das Leben ist nicht fair.

Was für Hirngespinsten oder Wunschgedanken war ich aufgesessen, zu glauben, Corvin hätte gewollt, dass ich allein nach Rom fliege. Ich hätte nicht hierherkommen dürfen. Nicht an diesen Ort, den ich mit ihm hatte bestaunen wollen, um abends mit ihm in einem Restaurant auf einer Piazza zu sitzen, Wein zu trinken und uns über unsere Eindrücke auszutauschen. Ich will nach Hause.

 

Zurück im Hotel lasse ich den freundlichen Italiener an der Rezeption meinen Rückflug für den nächsten Vormittag buchen und rufe Christian an, um ihm zu sagen, dass ich heimkehre. Er spürt sofort meine Traurigkeit und verspricht, mich pünktlich am Hamburger Flughafen abzuholen.

Mein letzter Abend in Rom. Im Hotel halte ich es nicht aus, ich mache mich zu Fuß auf den Weg. Mein Ziel ist das kleine Restaurant in der Nähe des Trevi-Brunnens, das mir an meinem ersten Tag so gefallen hat. Ich setze mich an einen der Tische, bestelle die Tagesempfehlung. Trinke ein Glas Wein, beobachte die vorbeiflanierenden Menschen, während die windstille Hitze milder wird, meine nackten Arme und Beine umschmeichelt.

Dieser Abend hat etwas Friedvolles. Viele junge, auch ältere Paare schlendern vorüber, lachend oder angeregt plaudernd, manche Hand in Hand. Seltsamerweise versetzt es mir keinen Stich.

Nach dem Essen trinke ich  keinen Espresso, morgen muss ich früh raus, zum Flughafen. Ich bitte den cameriere um die Rechnung, er legt sie mir kurz darauf mit einem »Prego, Signora« in einer ledernen Mappe auf den Tisch und eilt weiter.

Ich klappe die Mappe auf, werfe einen Blick auf die Summe und krame in meiner Tasche nach meiner Börse.

In diesem Moment vernehme ich etwas wie ein Flattern und schaue mich verwundert um. Hier sind keine Tauben, auch keine anderen Vögel.
Wieder streift mich eine Brise wie von einem Fächer oder einem schlagenden Flügelpaar. Sie erfasst die Rechnung, hebt das dünne Papier in die Lüfte und lässt es davon segeln. Ich springe auf, um mich danach zu bücken, doch es rutscht weiter über den Boden, bis es unter einem Tisch, neben einem Paar schwarzer Herrenschuhe zum Liegen kommt. Eine braungebrannte Hand greift nach meiner Rechnung und hält sie mir entgegen, als ich sie nehme, streifen sich unsere Finger. Es ist wie ein winziger Stromstoß, aber nicht unangenehm. Wir sehen uns an. Der Mann mit der ergrauten Löwenmähne besitzt angenehme, markante Züge. Seine bernsteinfarbenen Augen sind sanft, wirken aber auch, als hätten sie schon fast zu viel gesehen.

»Grazie«, murmele ich, in der Annahme, er sei Italiener und will mich abwenden, da fällt mein Blick auf seine Hand. Ich erstarre. Die Sinfonie an Verkehrslärm und Stimmen verstummt jäh, wie ausgeschaltet.

Etwas Kaltes rauscht über meinen ganzen Körper hinweg wie Meerwasser, verschlägt mir den Atem, ehe sich mein Puls beschleunigt. Er trägt Corvins Ring! Das muss ein Irrtum sein! Mich erfasst ein Schwindel, ich schwanke leicht, graue Fünkchen tanzen vor meinen Augen, bis ich einen stützenden Griff um meine Schultern spüre. Der Mann setzt mich auf den Stuhl ihm gegenüber.

»Ist Ihnen nicht gut?«, fragt er mit angenehmer Stimme. Er ist Deutscher.

»Nein ... doch ... geht schon wieder«, stammele ich, immer noch auf den Siegelring auf seinem Finger starrend. Ich atme tief durch, versuche, mich unter Kontrolle zu bringen.

»Woher haben Sie diesen Ring?«, platzt es aus mir heraus. Er schaut verwundert, erst mich an, dann auf den Ring.

»Ich habe ihn vor drei Wochen auf einer Auktion ersteigert. Warum fragen Sie?« Seine Stimme ist nach wie vor höflich, interessiert.

»Bitte verzeihen Sie, wenn ich aufdringlich wirke. Aber - steht in dem Ring -« Ich muss schlucken, ehe ich fortfahre: »Steht dort ‚Victor Degenhardt‘ eingraviert?«

Er zieht leicht die Augenbrauen hoch, es könnte eine amüsierte Geste sein, aber auch eine ärgerliche. Dann zieht er den Ring vom Finger und linst hinein, ehe er seine Augen wieder auf mich richtet. Er spitzt seinen Mund, es lässt ihn wie einen sinnierenden Herrscher aussehen.

»Sie haben Recht, Frau ... Bitte verraten mir Sie mir Ihren Namen, ehe Sie das Geheimnis dieses Ringes lüften.«

»Viola Degenhardt, aus Hamburg.« Wir reichen uns die Hand.

 »Leonhard Leu, ebenfalls aus Hamburg, was für ein Zufall!«, erwidert er lächelnd und winkt dem Kellner, damit wir noch etwas bestellen können.

Er ist ein wunderbarer Zuhörer, und ich erzähle ihm alles. Noch nie habe ich - einem Fremden gegenüber - so offen gesprochen. Obwohl ich versuche, meiner Stimme und meinem Gesicht Neutralität zu verleihen, spiegeln seine Züge meine Trauer wieder. Es verstreichen mehrere Sekunden, als ich geendet habe, ehe er etwas sagt.

»Ich habe meine Frau verloren, vor sechs Jahren, sie hatte einen Unfall.« Er sagt nur diesen einen Satz, doch die greifbare Schwere seiner Trauer über den Verlust hätte Schiffe versenken können.

Ich überlege noch, was ich erwidern könnte, da zieht er sich den Ring vom Finger.

»Er gehört Ihnen. Es tut mir leid, dass Sie ihn an mir wiederfinden mussten. Ich versichere Ihnen, dass ich ihn im guten Glauben an seine Herkunft erwarb. Bitte, nehmen Sie ihn zurück.«

»Danke. Das bedeutet mir viel. Bitte sagen Sie mir, was ich Ihnen schuldig bin.«

Ganz leicht schüttelt er den Kopf. Ein warmer Ausdruck dämmert in seinen Bernsteinaugen auf, ehe er vorsichtig meine Hand ergreift und sie wendet. Und als er mir den Ring hineinlegt und sanft meine Finger darum schließt, wird mir klar, dass diesmal in der Nähe eines Mannes, bei seiner Berührung, keine Panik durch mich hindurchstürzt, kein wilder Aufschrei in mir ertönt. Nein, im Gegenteil, ich fühle mich zum ersten Mal seit Jahren wieder sicher.

»Sie sagten, Sie fliegen morgen. Das ist bedauerlich, ich habe lange nicht mehr mit jemanden so gerne gesprochen wie mit Ihnen. Ich würde Sie gerne wiedersehen, Viola.«

Leonhard sagt es leicht, aber die Reglosigkeit seiner breiten Schultern verrät mir, dass er den Atem anhält. Er mag mich, versteht mich. Und ich mag ihn, seine Nähe, das spüre ich. Ruhige Verwunderung und etwas wie Zuversicht breiten sich in mir aus.

»Ich möchte Sie auch gern wiedersehen, daheim in Hamburg.«

Wir lächeln uns an, fast schüchtern.

Kurz schließe ich die Augen. Sehe ein anderes still lächelndes Gesicht.

Und glaube, etwas Zartes über meine Wange streichen zu fühlen, federleicht wie eine Frühlingsbrise.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Ursula Kollasch, Bild pixelio, bearbeitet
Tag der Veröffentlichung: 30.06.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Juni-Wettbewerb mit dem Thema "Verloren" der Gruppe "Anthologie-Wettbewerb", Platz 1

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