Beim Anblick des Hauses, der verwitterten Fassade, bleibe ich stehen. Mich fröstelt, ich höre den weichen Schlag meines Pulses in den Ohren.
Wenn nur der Tod etwas wäre, das man in einem einzigen Zimmer wegsperren kann. Wenn nur die Trauer - wie ein Kind in einem Versteckspiel, das zu lange dauert – anfinge, sich zu langweilen, aufgeben und nach Hause gehen würde. Doch es quält mich, auch heute noch.
Unerwünschte Erinnerungen blitzen in meinem Kopf auf, und ich wende den Blick vom Haus ab, lasse ihn über das Grundstück schweifen. Unkraut überall. Der Garten ist nicht mehr in Schuss, so wie früher.
Kurz streifen meine Augen das vergitterte Kellerfenster. Sofort sitzt ein Eisblock in meinem Magen und mir wird es eng um die Brust. Schauer rieseln mir über den Rücken, doch ich schaffe es, die aufziehende Panikattacke wegzuatmen, ehe sie mich übermannt. Das habe ich in den Therapien gelernt.
Wie ich diesen Ort hasse!
Die Hände zu Fäusten geballt wird mir gewahr: Die Abneigung ist in all den Jahren, fern von hier, nicht weniger geworden. Auch die Angst ist wieder präsent, wie damals. Dabei war dieses Haus in Meggies und meinen frühesten Kindheitsjahren ein Hort der Geborgenheit und der Liebe gewesen.
Bis zu dem Tag, als SIE auftauchte, um sich wie eine fette Spinne in unserer Mitte einzunisten. Mutter in ihre klebrigen Fäden einspann und keine Zeit verstreichen ließ, die ersten Gifttropfen in unsere kindlichen Seelen zu träufeln ...
Es war ein Sonntag im Spätfrühling gewesen. Im Garten, Moms ganzem Stolz, blühten die Sträucher und Blumen, die Sonne wärmte unsere Haut. Mom hängte Wäsche auf, deren frischer Duft zu uns herüberzog und mit dem der unzähligen Blüten und Kräuter wetteiferte, während Meggie und ich oben in unserem Lieblingsbaum saßen.
Der Sonntag war unser Lieblingstag, der einzige in der Woche, an dem unsere Mutter nicht Arbeiten ging, Zeit für uns hatte.
Auch wenn die gehüteten Erinnerungen an sie zu meinem Entsetzen mit jedem verstreichenden Jahr blasser werden, weiß ich, dass sie nicht nur äußerlich hübsch war, sondern ebenso von innen heraus strahlte, vor allem, wenn ihr Blick auf uns, ihre Kinder fiel.
Seit unser Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben kam, als ich fünf und Meggie gerade einmal zwei Jahre alt gewesen war, schuftete sie sechs Tage die Woche von morgens bis zum späten Nachmittag in einem Diner im Ort. Vater hatte keine Vorsorge getroffen, von der mageren Witwenrente hätten wir drei nicht leben, das Haus nicht halten können.
Während ihrer Abwesenheit verbrachten wir nach der Schule häufig Zeit bei Mrs. Fisher, einer betagten Nachbarin, die unserer Mutter sehr zugetan und für uns wie eine Großmutter war.
Trotz dieser anstrengenden Umstände, ihrer Sorgen, schaffte es Mom, sich ihre Ausgeglichenheit zu bewahren. Nur selten erhob sie die Stimme oder schimpfte mit uns.
»Das Wichtigste ist: Wir drei haben uns!«, lautete ihr Lieblingsspruch, bevor sie Meggie und mich in ihre Arme zog. So habe ich sie in Erinnerung, sanft und stark zugleich, beherrscht, auch wenn ein Sturm um sie herum getobt hätte.
Damals, an diesem Sonntagnachmittag, sah ich sie jedoch mit einem Mal erstarren, ehe sie das zum Aufhängen emporgehobene Wäschestück sinken ließ. Obwohl die Sonne vom Himmel strahlte, war mir plötzlich, als ob sich eine Wolke davor geschoben hätte. Ich beschirmte meine Augen mit der Hand, sah in die gleiche Richtung wie sie.
Eine grauhaarige Person in einem altmodischen Kleid näherte sich von der Straße her. Sie schleppte einen Koffer. Trotz ihrer Körperfülle hatte sie uns rasch erreicht, blieb schnaufend vor unserer Mutter stehen. Wir Kinder saßen mucksmäuschenstill oben auf dem Ast und beobachteten, wie sich die beiden endlos wirkende Sekunden anstarrten. Endlich breitete die Fremde die Arme aus und zog unsere Mutter fest an sich.
»Jane, meine kleine Jane.« Es klang nach unterdrückten Tränen.
Mom löste sich schnell wieder aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück.
»Was für eine Überraschung«, sagte sie dann mit unbewegtem Gesicht. »Kinder, das ist eure Tante Carol, meine ältere Schwester. Und das sind Jack und Meghan, genannt Meggie.«
Wir hatten bis zu diesem Tag nichts von einer Tante gehört, doch gut erzogen wie wir waren, kletterten wir vom Baum herab und reichten ihr die Hand.
Obgleich sie uns ein Lächeln schenkte, war ihr Griff viel zu hart, sie quetschte mir die Finger. Die meiner kleinen Schwester ebenfalls, wie ich an derem schmerzverzerrten Gesicht ablesen konnte. Als sich Tante Carol wieder Mom zuwandte, sah ich Meggie ihre Hand reiben.
Der Augenblick hat sich mir eingebrannt. Er sollte sich als charakteristisch für das Wesen dieser Frau herausstellen. Ich mochte sie nicht. Und ich wusste, dass Meggie sie genauso wenig mochte.
Ich spürte auch Mutters Unbehagen, dennoch schaffte es Tante Carol, die richtigen Worte zu finden, sie einzuwickeln. Sie könne nirgendwo anders hin, sei bankrott, erklärte sie, um mit tränenerstickter Stimme fortzufahren: »Jane, bitte, vergiss, was in der Vergangenheit geschah. Ein Neuanfang, Liebes, ich werde mich nützlich machen, auf Jack und Meghan aufpassen, wenn du bei der Arbeit bist. Ich tu das gerne. Bitte, lass mich eine Weile bleiben. Nur ein paar Wochen, bis ich mich gefangen, neu orientiert habe. Wir sind doch eine Familie!«
Vergiss, was in der Vergangenheit geschah ... Was damals zwischen den Schwestern oder in der Familie vorgefallen war, sollten wir jedoch nie erfahren.
Ich spürte Moms Widerstand schwinden, sie war ein gutherziger Mensch, bis sie letztendlich einwilligte. Somit blieb die aus dem Nichts aufgetauchte Frau bei uns - eine verhängnisvolle Entscheidung.
Zuerst waren es nur Boshaftigkeiten, die sie uns Kindern - natürlich nur in Mutters Abwesenheit - entgegenbrachte. Die versehentlich hatten passieren können, wie versalzene oder zu scharfe Speisen, die wir dennoch aufessen mussten. Oder eine plötzlich aufgerissene Tür, die uns am Kopf oder an der Schulter traf.
Dabei manipulierte sie uns, in dem sie mit der für sie typischen süßlichen Stimme Dinge sagte wie: »Oh, so schlimm war es doch gar nicht, Schätzchen!« oder »Sagt das bloß nicht eurer Mutter, sie hat so viele Sorgen, es würde sie nur aufregen. Das wollt ihr doch nicht, oder?«
Ein paar Mal war ich kurz davor, mich Mom anzuvertrauen. Doch wenn sie dann nach der Arbeit mit blassem, erschöpftem Gesicht heimkehrte, und sie sich so froh und dankbar zeigte, dass ihre Schwester die ganze Hausarbeit erledigt hatte, brachte ich es nicht über´s Herz. Zudem hatte ich die beiden bei einem versöhnlichen Gespräch gesehen, abends auf der Couch, das in einer tränenreichen, innigen Umarmung endete.
Im Grunde hatte ich bereits zu diesem Zeitpunkt Angst vor unserer Tante, ihrem scheinbar sanften Tadel, hinter dem sie unsichtbare Reißzähne bleckte. Ihren zuckenden Fingern und dem schlecht verborgenen Funkeln in ihren Augen, wenn wir ihr widersprachen oder uns widersetzten.
Und bald wurden aus den „kleinen Unfällen“ schlimmere Schikanen.
Etwa drei Wochen nach Tante Carols Einzug kam es zu der ersten heftigen Auseinandersetzung zwischen ihr und mir. Beim Mittagessen stieß sie mit dem Ellenbogen Meggies Glas um, der Saft ergoss über sich den Tisch. Meine Schwester hob erschrocken beide Hände, als die kalte Flüssigkeit ihren Rock durchnässte.
»Du ungeschicktes Kind!«, schimpfte unsere Tante und begann, mit einem Lappen die Pfütze vom Tisch zu wischen.
»Du bekommst keinen Saft mehr zum Essen!«
Meggies Augen füllten sich mit Tränen, doch sie wagte nicht zu widersprechen. In mir stieg mit einem Mal unbändige Wut auf, denn es war nicht das erste Mal, dass sie uns für etwas beschuldigte, was ihr passiert war.
»Du hast das Glas umgestoßen, nicht Meggie!«, sagte ich leise, griff nach der Saftflasche und schenkte meiner Schwester nach.
Carols Augen wurden schmal, ihre Mundwinkel zuckten, wie ihre Finger. Ein übles Zeichen, doch für einen Rückzieher war es zu spät.
»Kleiner Lügner, willst du etwa Ärger?«, fragte sie in gouvernantenhaftem Ton. Zeitgleich ergriff sie das neu gefüllte Glas und kippte den Inhalt auf mein Essen.
»So was, du bist genauso ein Tölpel wie deine Schwester und wirst ebenfalls kein Getränk mehr zum Mittag bekommen.«
Hinter meinen Augen explodierten kleine Lichter, die Kehle wurde mir eng, so wütend war ich. Ich stand auf, und schob dabei heftig den Stuhl zurück.
»Du allein bist die Lügnerin hier, und ich werde es Mom erzählen!«
Mit Tante Carols Gesichtszügen ging eine Wandlung vor sich, mit einem Mal sah sie alt und traurig aus.
»Ach, Jack, verzeih. Es tut mir leid. Ich will doch nie Fehler machen. Natürlich dürft ihr trinken.«
Sie schnalzte bedauernd mit der Zunge, als sie nachschenken wollte und aus der Flasche nur noch wenige Tropfen ins Glas perlten.
»Holst du bitte Saft herauf?« Sie wies mit der Hand auf die Kellertür.
Mein Magen zog sich sofort zusammen, ich schluckte. Ich glaube, wie nahezu alle Kinder fürchtete ich mich davor, allein den Keller zu betreten. Die steilen Stufen hinabzusteigen, in die muffige Finsternis mit der niedrigen Decke und den dunklen Ecken, in denen überall etwas lauern, hervorkrabbeln oder einen anspringen konnte.
Selbst unsere Mutter musste sich überwinden, dort hinunter zu gehen, das weiß ich. Sie hat es nie zugegeben, aber ich habe es ihr angesehen. Ihre Züge wirkten stets angespannt, und sie setzte die Füße nahezu vorsichtig voreinander, wenn sie die Treppe hinunter schritt. Sie beeilte sich dann, das Gewünschte im Keller zu finden und wieder hinaufzueilen. Jedes Mal mit einem ihr nicht bewussten, erleichterten Gesichtsausdruck.
Fast lag mir eine patzige Antwort auf der Zunge, Tante Carol solle selbst den Saft aus dem Keller holen, schließlich hatte sie ihn verschüttet. Aber ich wollte keinen weiteren Ärger provozieren, jetzt, da sie sich beruhigt und entschuldigt hatte.
Außerdem war ich ein Junge von zwölf Jahren, sozusagen der einzige Mann im Haus. Ich sollte mich nicht wie eine Memme vor einem Gang in den Keller drücken ...
Also zog ich Tür auf. Der typische, leicht moderige Kellergeruch schlug mir schon oben am Treppenabsatz entgegen. Unauffällig durchatmend stieg ich hinab. Auf halber Strecke fiel hinter mir die Tür zu, ich zuckte zusammen. Das Licht der Glühbirne erlosch, Dunkelheit umfing mich, und ich vernahm, wie der Schlüssel im Schloss gedreht wurde.
Der Lichtschalter befand sich außer meiner Reichweite in der Küche neben der Kellertür.
Mein Herz begann zu rasen, auch mein Atem beschleunigte sich. Dumpf hörte ich Meggie oben aufschreien, dann Tante Carols Stimme, direkt hinter der Tür, so dass ich sie gut verstehen konnte:
»Still, Meghan. Dein Bruder erhält jetzt die verdiente Strafe für seinen Ungehorsam, seine Frechheit.«
Ich krallte mir die Fingernägel in die Handflächen, Panik brandete in mir hoch, drohte, mich zu lähmen. Doch ich überwand meine Erstarrung, stolperte die Stufen hinauf, prallte gegen die Tür. Meine Hand fand die Klinke, rüttelte daran. Ich trommelte mit der Faust an das Holz.
»Lass mich raus!«
Keine Antwort. Ich lauschte, nichts. Sie hatten die Küche verlassen. Und ich war hier gefangen. In der Dunkelheit auf der Kellertreppe.
Die Angst hatte neben mir im Keller regelrecht Gestalt angenommen, atmete, küsste, neckte, schlang ihre Tentakel um mich.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verstrichen war, in der ich in der Finsternis kauerte, als ich ein Schniefen hörte. Am zerbrochenen Kellerfenster. War das Meggie?
Ich tastete mich am Geländer hinab, bis ich den winzigen, niedrigen Raum erreichte, der nur vom wenigen Tageslicht erhellt wurde, das durch das kleine Fenster fiel. Etwas raschelte hinter mir in der Dunkelheit und sofort bildete sich eine Gänsehaut auf meinen Armen. Ich schob mich an die Scheibe.
»Meggie,«, zischte ich, »mach die Kellertür auf.« Aber es war Tante Carols Gesicht, das hinter den Gitterstäben auftauchte.
»Wenn du meinst, du müsstest deiner Mutter Geschichten erzählen, erhältst du nächstes Mal Gesellschaft dort unten.« Dumpf drang ihre Stimme herein, sie hielt ein Einweckglas vor das Loch im Fenster, in dem ich ein halbes Dutzend großer Spinnen ausmachte und die Nackenhaare stellten sich mir auf.
»Ihr und diese Hübschen bleibt dann länger dort unten ...«
Pause. Wie, um das Gesagte wirken zu lassen, und ich erstarrte.
Sie wird Meggie mit mir hier einsperren, mit den Spinnen, fuhr es mir durch den Kopf. Das durfte nicht passieren!
»Ich denke, du weißt, wie du dich zu benehmen hast, nicht?«
Als ich bejahte, hörte ich sie zufrieden grunzen, ehe sie ins Haus zurückkehrte und endlich die Kellertür aufsperrte. Das Glas mit den Spinnen war verschwunden.
In den folgenden Wochen verbrachte ich mit Meggie viele Nachmittage bei unserer Nachbarin Mrs. Fisher, dort fühlten wir uns sicher. Daraufhin begann auch unsere Tante, sich der alten Dame anzunähern, ihr häufiger Besuche abzustatten, Kuchen und Marmelade mitzubringen, was mir nicht gefiel. Und mich daran hinderte, Mrs. Fisher die Wahrheit zu offenbaren, denn sie lobte Carols Freundlichkeit in höchsten Tönen.
War es nur eine Verkettung unglücklicher Zufälle, was danach passierte? Nein, ich glaube nach wie vor, dass Carol dahinter steckte. Auch wenn ich es nicht beweisen kann oder konnte, aber unser Leben wurde im Folgenden aus den Fugen gerissen.
Zuerst starb die alte Nachbarin, die unsere Zuflucht gewesen war. Ganz unerwartet. Meggie und ich fanden sie eines Nachmittags mit offenem Mund in ihrem Fernsehsessel. Ich schickte meine weinende Schwester sofort hinaus, als ich die Lage erfasste, sie sollte unserer Tante Bescheid geben. Der Fernseher lief noch, wahrscheinlich war Mrs. Fisher bereits am Abend zuvor verstorben.
Ihr Verlust traf mich tief, die Trauer steckte wie ein Stein in meiner Brust. Plötzlich entdeckte ich auf dem Boden neben ihrem Sessel einen Teelöffel. Das ließ mich innehalten, dann in die Küche gehen. Dort standen zwei abgewaschene Tassen neben der Spüle. Das war seltsam. Wir hatten in den letzten Jahren öfter bei der alten Dame übernachtet, und jedes Mal, ohne Ausnahme, hatte sie beim Fernsehen ihren Tee geschlürft und die leere Tasse erst vor dem Zubettgehen in die Küche gebracht ...
Tante Carols Eintreffen riss mich aus meinen Überlegungen.
»Wie tragisch«, murmelte sie, doch ich glaubte, ihre Mundwinkel belustigt zucken zu sehen. »Nun, Jack, dann werdet ihr wieder mehr Zeit zu Hause verbringen müssen.«
Als ich auf diese Worte hin in ihre Haifischaugen blickte, sank die Raumtemperatur um viele Grad. Doch niemand außer mir schöpfte Verdacht. Und sie ließ sich einiges einfallen, um Meggie und mir das Leben schwer zu machen.
Am folgenden Sonntag passte ich einen Moment ab, um mit Mom allein zu sprechen, ich wollte mich ihr endlich anvertrauen. Doch, als ob sie es wusste, stieß Carol dazu, und ich war so dumm, aus Angst vor ihr zu schweigen.
Dann geschah das Unfassbare, Schreckliche, das wirklich alles Verändernde.
Nur einen Monat später wurden Meggie und ich morgens von Tante Carols Aufschrei geweckt. Ein langgezogener Klagelaut folgte, so dass ich aus dem Bett sprang und über den Korridor eilte. Sie stand in der Tür zu Mutters Schlafzimmer, eine Hand vor den Mund gepresst.
Als ich den Raum betrat, schrumpfte die Welt um mich, der Moment gefror, wie der dunkle Schrei in meiner Kehle.
Mom lag auf ihrem Bett, bleich wie die Wand, ihre Augen starrten ins Leere. Ich wusste sofort, dass sie tot war und ein Wimmern stieg in mir auf, als ich zu ihr stürmte, auf die Knie sank und ihren kühlen Körper umarmte, während mir die Tränen übers Gesicht rannen ... Nein, nein, nein! Aus dem Augenwinkel nahm ich wahr, wie Tante Carol meine Schwester an der Tür aufhielt und wegführte.
In meinem Schmerz und dem Schock gefangen rasten die Gedanken, ich versuchte, das seltsame Gefühl kraftloser Fassungslosigkeit abzuschütteln.
Dann erst sah ich das Glas auf Mutters Nachttisch, den leeren Tablettenblister und den Brief. In ihrer ordentlichen Handschrift verfasst.
Geliebter Ryan, es ist so schwer ohne dich. Ich vermisse dich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute. Warum hat man dich mir fortgenommen?, denke ich so oft, und jetzt gerade ist es, als ob ich deinen Verlust nicht länger ertragen kann.
Ich starrte den Brief an, die Worte begannen vor meinen mit Tränen gefüllten Augen zu tanzen.
Das Wichtigste ist: Wir drei haben uns!, das hatte sie immer wieder gesagt. Nein, sie hatte sich nicht das Leben genommen, sie hätte Meggie und mich nicht allein zurückgelassen, niemals! Im letzten Jahr hatte sie sich viel seltener traurig gezeigt oder heimlich geweint, wie sie es direkt nach Dads Tod öfter getan hatte.
Ich erinnerte mich, dass Mom in dieser ersten Zeit der Trauer Briefe an Dad geschrieben hat, abends an ihrem Sekretär, im Schein der Schreibtischlampe. Das letzte Mal hatte ich das vor Monaten gesehen, als ich hinzutrat und einen Blick auf das Papier erhaschte, bevor sie ihre Hand darüberlegte. Geliebter Ryan, heute war ein schöner Tag ... hatte ich gelesen, unten lugte Für immer Deine Jane hervor.
Der Schock umklammerte mich, der Stich der Traurigkeit, ihres Verlusts, war so scharf wie ein Samuraischwert, aber was nur kam mir an diesem Brief zusätzlich nicht richtig vor? Dann wusste ich es und mein Herz setzte einen Schlag aus, um danach zu rasen. Das Blatt war nicht vollständig, es war zu kurz. Wie abgeschnitten. Und es fehlte Mutters Unterschrift.
Obwohl erst zwölf Jahre alt, war ich mir sicher - auch im Hinblick auf Mrs. Fishers plötzliches Ableben - dass meine Tante es getan hatte.
Verstärkt wurde mein Verdacht dadurch, dass sie am Tag von Moms Beerdigung - vermeintlich unbemerkt - ihr wahres Gesicht zeigte.
Während der Trauerfeier waren ihr immer wieder Klagelaute entfahren, hatte sie sich die ganze Zeit schniefend mit einem Taschentuch über Augen und Nase gewischt. Aber nachts, als sie dachte, wir Kinder schliefen oben in unseren Betten, hatte sie sich eine alberne Comedysendung angesehen. Ich jedoch war nicht in den Schlaf gekommen und hatte sie leise lachen gehört. Immer wieder. Es ließ mich fassungslos die Fäuste ballen.
Warum? Warum nur hatte sie Mom umgebracht?
Doch weder der Coroner noch die Frau von der Fürsorge hörten mir wirklich zu. Als Todesursache wurde Suizid durch eine Überdosis Schlafmittel angegeben, dabei hatte Mom nie welches besessen. Zumindest hatte ich keines gesehen, auch nicht in den letzten Jahren. Meggie und mich ließ man in Carols Obhut und überwies uns an einen Kinderpsychologen.
Der Doktor empfing uns an der Tür, er hatte ein glattes Gesicht, ausdruckslos wie das einer Porzellaneule. Als Carol uns in dessen Zimmer begleitete, zeigte sie ein trauriges Lächeln, das kein Lächeln war. Aufgemalt, wie eine Maske.
Und ich ahnte bereits vor der Sitzung mit dem Psychologen, dass auch er mir nicht glauben würde, denn Carols geheucheltes Mitgefühl hing in der Luft wie zu viel Parfüm, sie war eine begnadete Schauspielerin.
Bevor sie den Raum verließ, weil der Mann mit uns Kindern allein sprechen wollte, drückte sie Meggie und mir vermeintlich tröstend die Schultern. Es fühlte sich an wie eine Drohung, als ob sie mir zuraunte: Denk nicht einmal dran, kleiner Scheißer, du bist mir nicht gewachsen ... und ich spürte, wie sich mir die Kehle zuzog und meine Augen feucht wurden. Ich schwieg. Meggie gab ebenfalls kein Wort von sich, brach nur mehrmals in Tränen aus.
Am Ende bat der Psychologe unsere Tante wieder herein, sprach zu ihr über „Trauma“ und „Ruhe und Fürsorge“, die meine Schwester und ich nun bräuchten.
»Es ist ein schwerer Verlust, eine harte Zeit für uns drei, Herr Doktor. Aber Sie können sich gewiss sein, ich werde mich gut um die Kinder kümmern.«
Meggie warf mir einen ängstlichen Blick zu und ich griff nach ihrer Hand, ließ sie auch nicht los, als Carol uns aus der Praxis schob, auf die fast spielerische Art, wie ein Hai seine Beute anstößt, bevor er sie verschlingt.
Es erwarteten uns weder Ruhe noch liebevolle Fürsorge. Mir die einzelnen Quälereien wieder vor Augen zu rufen, um sie aufzuzählen, das kann ich nicht. Es würde mich vielleicht zurück in die Depression treiben. Doch letztendlich lief es darauf hinaus, dass Carol irgendwann das Interesse an ihren sadistischen Spielchen und an uns verlor.
Sie gab bei ACF, dem Amt für staatliche Familienfürsorge, an, sie wäre mit der Erziehung von uns, vor allem mit mir, dem vermeintlich gestörten, hochgradig aggressiven Jungen, überfordert, so dass man uns in Pflegefamilien vermittelte. Getrennt, weil man mich aufgrund ihrer verlogenen Aussagen als „gewalttätig“ einstufte. Obwohl ich das Gegenteil beteuerte und Meggie und ich bettelten, uns gemeinsam unterzubringen.
Nie werde ich den panischen Ausdruck in Meggies Gesicht vergessen, als man sie abholte und auf den Rücksitz eines Autos schob. Mit welcher Verlorenheit sie ihre kleine Hand an die Scheibe legte und mich mit ihren großen Augen anstarrte, bis der Wagen aus meinem Blick entschwand. Es riss mir das Herz entzwei.
Ich sollte meine Schwester erst Jahre später wiedersehen, gebrochener noch, als ich es war.
Was wäre, wenn ... Wie oft habe ich es in Gedanken durchgespielt. Was wäre, wenn Vater nicht verunglückt wäre? Wie wären unsere Leben verlaufen, wenn Tante Carol nicht aufgetaucht wäre oder wenn Mom sie weggeschickt hätte ... Was wäre passiert, wenn ich mich Mom anvertraut hätte? Wäre sie noch am Leben? Wären Meggie und ich zusammengeblieben, wenn die Frau von der Fürsorge mich ernstgenommen hätte? Warum, verdammt, hatte ich nichts zu Mom gesagt?
Die Selbstvorwürfe haben mich innerlich zerfressen. Doch diese Gedanken führen zu nichts. Was geschah, ist unverrückbare Vergangenheit.
Nach wie vor lebt Tante Carol in unserem Haus, die fette Spinne in ihrem gestohlenen Nest. Allein.
Kann ich mich mit dem, was ich jetzt vorhabe, endlich etwas befreien? Ich weiß es nicht. Was ich weiß ist, dass ich es durchziehen werde.
Es hat lange gedauert, den Mut und die Kraft dafür zu erlangen. Ich tu es für Mrs. Fisher. Für Mom. Und für das, was von Meggie und mir übrig ist.
Der Umstand, dass das Grundstück inzwischen dicht gewuchert und nicht einsehbar ist, kommt mir gelegen. Trotzdem blicke ich mich nach unerwünschten Zeugen um, es sind keine zu sehen.
Während ich auf den Eingang zuschreite, tastet meine Hand nach der Spritze in der Jackentasche. Gefüllt mit dem Gift der Phoneutria, besser bekannt unter Bananen-Spinne. Ich finde es passend. Wie ich daran gelangt bin, tut nicht zur Sache, aber das Gift ist ebenso gefährlich wie die Spinne aggressiv. Es gibt zwar ein Gegengift, doch es muss innerhalb einer Stunde nach einem Biss verabreicht werden. Beruhigend zu wissen, dass das nicht geschehen wird.
Mit einem Mal werde ich im Hinblick auf mein Vorhaben fast unheimlich ruhig, mein Atem und mein Herzschlag verlangsamen sich, als ich die Stufen zur Haustür meines einstigen Heims emporsteige und läute. Ich warte. Als nichts geschieht, drücke ich ein zweites Mal den Klingelknopf. Ich weiß, dass sie da ist. Ich habe das Flimmern des Fernsehers im Wohnzimmer gesehen.
Die Tür wird aufgezogen. Wir sehen uns an. Sie ist alt geworden, die Spinne, sie mustert mich, kneift die Augen, erkennt mich zuerst nicht. Immerhin ist es zehn Jahre her, dass sie mich das letzte Mal gesehen hat. Ich bin gewachsen und doppelt so schwer wie damals. Dann die Erkenntnis, ihre Augen weiten sich.
Schweigen. Nichts, außer ihrem beschleunigten Atem. Erst, als ich sie vor mir her ins Haus schiebe - jetzt bin ich der Hai, der seine Beute anstößt - entfährt ihr ein hässliches, flaches Schnappen nach Luft. Gefolgt von einem langen, stöhnenden Seufzer, als ich die Spritze hervorziehe ...
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Bild von Fadli Abravers auf Pixabay
Cover: bearbeitet von Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 31.05.2020
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum Anthologie-Wettbewerb Mai 2020 mit dem Thema "Die Heimkehr".