Matilda schlug die Augen auf.
Was hatte sie geweckt? Und brachte sie nun dazu, aufmerksam in die Dunkelheit zu lauschen?
Das Zimmer wurde einzig vom bleichen Mondlicht erhellt.
Sie trat ans Fenster, ließ ihren Blick über die wie silbern übergossene Landschaft schweifen, den Feldweg und die Wiesen. Schwarzen Knochenhänden gleich griffen die kahlen Äste der Bäume in den Himmel.
In der Ferne, am Horizont, leuchteten kleine Lichter, die nächsten Häuser. Nachbarn in der näheren Umgebung hatten sie keine.
Weiter horchte sie in die Stille hinein.
Hinrich war noch nicht zurück, dachte sie erleichtert. Sie würde ihn hören, egal, wo im Haus er sich aufhielt.
Auch von oben drang kein Laut zu ihr hinunter. Die Kinder schliefen, und darüber war sie sehr froh. Luise war endlich zur Ruhe gekommen. Ein schlimmer Husten und hohes Fieber plagten ihr Nesthäkchen, hatten es lange am Einschlafen gehindert.
Matilda ging zur Treppe, legte ihre Hand auf das Geländer. Bewegte sich langsam die Stufen hinauf, um das laute Knarzen zu verhindern.
Vor dem Kinderzimmer angekommen blieb sie stehen, widerstand dem Drang, die Tür aufzuziehen, um einen Blick auf ihre drei schlafenden Engel zu werfen. An ihre Betten zu treten und ihnen sachte Küsse auf die Stirn zu hauchen. Auf keinen Fall wollte sie die Kinder wecken. Vor allem Paul, ihr Ältester, hatte einen leichten Schlaf. Luise würde wieder husten und Emma darauf zu quengeln beginnen.
Nein, lieber stellte sie sich die Drei vor, wie sie friedlich schlummernd unter ihren Decken lagen. Den zu dünnen Decken …
Oh, wie sie dieses düstere Haus hasste, besonders jetzt, im Winter! Die Kälte, die Dunkelheit.
Hinrich hatte wieder die Lampen versteckt, damit sie, wie er sagte, kein Petroleum verschwendete. Nur eine der Schikanen, seit er so seltsam geworden war.
Ihr Blick wanderte hinüber zum Kachelofen, die Ecke daneben war leer. Kein Brennholz. Und den Schuppen, wo das Holz lagerte, hatte er abgeschlossen. Das wusste sie.
War Hinrich bereits früher ein mürrischer und auch zur Gewalt neigender Mann gewesen, so wurde sein unberechenbares Wesen seit einiger Zeit unerträglich. Ständig mussten Matilda und die Kinder auf der Hut sein, ihn nicht zu reizen.
Dumpfer Schmerz breitete sich in ihr aus. Wie furchtbar, dass Paul, Emma und Luise sich wie Schatten in ihrem Zuhause bewegen, auf der Treppe schleichen mussten, wenn der Vater anwesend war. Um ja keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - weil er allmählich verrückt wurde.
Auf dem oberen Treppenabsatz verharrend legte sich Matilda eine Hand auf die Brust, ließ sie zu ihrer Kehle hinaufwandern, eine gewohnte, fast schutzsuchende Geste. Mein Medaillon!, durchfuhr es sie - bevor Erleichterung in ihr aufwallte. Einen Moment lang hatte sie vergessen, dass sie ihren einzigen wertvollen Besitz unter der lockeren Bodendiele am Treppenpfosten versteckt hatte. Vor Hinrichs gierigen Fingern, der die Kette bestimmt ins Pfandhaus tragen würde. Um seinen Schnaps zu bezahlen.
Matilda schauderte und schloss die Augen. Es war nicht dieses abgelegene Haus, vor dem sie Angst hatte. Nein, es war ihr Mann. Seit er seine Arbeit im Bergwerk aufgrund ständiger Trunkenheit und Streitsucht verloren hatte, verbrachte er die meiste Zeit an der Theke des Wirtshauses im Dorf. Wenn er dann - wann auch immer - schwankend die Stufen zu ihrem Haus heraufpolterte, zog sich in Matilda jedes Mal alles zusammen und sie wies die Kinder an, sich in ihr Zimmer zu begeben und dort ruhig zu verharren, egal, was geschah. Sie ekelte sich vor Hinrichs biersäuerlichem Atem, seinen groben Pranken.
Doch vor allem fürchtete Matilda, dass er sich wieder an ihren Kindern vergreifen würde. Das letzte Mal, als er sie geschlagen hatte, war Paul - entgegen ihrer strikten Anweisung - die Treppe hinabgerannt, hatte den Vater mit angstgeweiteten Augen angebrüllt, von der Mutter abzulassen.
Ihr hatte es fast das Herz gebrochen, ihren Jungen zitternd dastehen zu sehen, mit geballten Händen, die seine schwachen Ärmchen noch kindlicher wirken ließen. Langsam, doch gewaltig wie ein schnaubender Stier, hatte sich Hinrich zu Paul umgewandt und ihn mit einem einzigen Faustschlag zu Boden gestreckt. Matilda hatte aufgeschrien und war zu ihrem Sohn gerobbt, um ihn fest an sich zu ziehen. Etwas Irres hatte in Hinrichs Augen geglommen, als er auf sie beide herabstarrte und nahezu gierig das Blut beobachtete, das Paul aus der aufgeplatzten Lippe lief.
Vor allem dieser voranschreitende Wahnsinn war es, der Matilda in Panik versetzte. Sie waren in Gefahr. In dem einsamen Haus waren sie ihm ausgeliefert.
Aber wo sollte sie mit den Kindern hin? Ihre Eltern würden sie nicht aufnehmen.
„Eine Frau gehört zu ihrem Gatten, bis dass der Tod sie scheidet", würden sie in ihrer selbstgerechten Art sagen und sie zurückschicken, dachte sie voller Bitterkeit.
Matilda rang die bleichen Hände, bevor sie wieder an ihre Kehle flatterten, weitere beängstigende Szenen zogen an ihrem inneren Auge vorüber.
Während der von Schweigen geprägten Mahlzeiten murmelte Hinrich wirres Zeug, starrte vor sich hin, während er das Essen in sich hineinschaufelte. Die Kinder verhielten sich mucksmäuschenstill, um den schlafenden Drachen im Vater nicht zu wecken.
Als Emma ihn allzu ängstlich über den Tisch hinweg angeblickt hatte, da er von „Satan", „den Fürsten der Hölle, die bald kommen" und „Blutopfern" vor sich hinzischte, hatte die Mutter sie unauffällig angestupst, damit sie die Augen wieder auf die Suppe senkte.
Alles war aus dem Ruder gelaufen, seit er sich diesem Satanistenzirkel angeschlossen hatte. Zuerst hatte Matilda geglaubt, ihr Mann verbringe jeden Abend in der Kneipe.
Bis sie ihm eines Nachts heimlich gefolgt war. Sein Weg hatte ihn in den Wald geführt, wo er mit den anderen Satansjüngern zusammengetroffen war. Mit hohlem Entsetzen hatte sie die gottlosen Rituale, das finstere Treiben beobachtet. Acht teils Vermummte standen mit Hinrich im Kreis und opferten ein Lamm, leisteten dem Teufel einen Treueschwur. Versprachen ihm in Bälde ein größeres Opfer!
Bevor man sie entdeckt hatte, war sie blind vor Tränen zurück zu ihrem Haus gerannt.
Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.
Sie musste die Kinder in Sicherheit bringen.
Flüchten!
Doch Luise war krank.
Unmöglich konnte sie mit den Kindern die Flucht antreten, wenn die Dreijährige ins Bett gehörte.
Wieder hob sich ihre rastlose Hand zum Hals. Und erstarrte. Geräusche durchbrachen die Stille.
Stimmen. Knirschende Schritte auf gefrorenem Boden.
Matilda glitt zum Fenster, ließ ihren Blick die Landschaft abtasten. Was war das?
Lichter bewegten sich auf dem Feldweg, direkt auf ihr Haus zu! Nun erkannte sie mehrere dunkle Schemen im Mondlicht.
Waren das überhaupt Lampen? Sie wirkten so - unnatürlich. Die kleinen, gleißenden Lichter - waren das die Augen dieser schwarzen Schatten?
Panik durchflutete sie. Die Teufelsanbeter! Oder die aus der Hölle emporgefahrenen Dämonen? War Hinrich unter ihnen oder kamen sie ohne ihn, um sie zu holen? Sie hatten von Opfern gesprochen.
Oh, Herr im Himmel, steh' uns bei! Ihr schlimmster Albtraum wurde wahr.
Die dunkle Gruppe stand nun vor dem Haus, eine der Gestalten hob den Kopf und schien direkt zu ihr hinaufzublicken, ein einzelnes, gleißendes Auge starrte sie an. Einen Aufschrei unterdrückend trat sie hastig einen Schritt vom Fenster zurück.
Was sollte sie nur tun? Die Kinder wecken und mit ihnen fliehen? Bis sie wach wären, hätte die Teufelsbrut das Haus längst betreten.
Da! Ein Kratzen im Türschloss, sie brachen es auf.
Mit angstvoll aufgerissenen Augen stand Matilda oben an der Treppe, als die Tür knarrend aufschwang, die düsteren Gestalten hineinglitten. Sich leise etwas zuzischten, während sie langsam im Erdgeschoss ausschwärmten.
Konnten sie noch fliehen? Aber wie sollte sie drei Kinder auf einmal hinausschaffen? Zwei von ihnen schultern und mit ihnen die Treppe hinab aus dem Haus stürmen?
Sie schluckte einen Klagelaut hinunter. Nein! Keins ihrer Kinder würde sie zurücklassen!
Hektisch blickte sie sich nach einer Waffe um. Drehte sich im Kreis. Entdeckte nichts.
Jetzt näherte sich das unheimliche Raunen. Das weiße Strahlen der Augen tanzte unten über den Boden, die Wand an der Treppe hinauf. Die Stufen knarzten unter dem Gewicht des ersten Eindringlings, der sich zu ihr emporbewegte. Sie saßen in der Falle!
Aber bevor sich Matilda ihrer Hilflosigkeit und der Verzweiflung ergab, gewann ihr Mutterinstinkt. Verlieh ihr Kraft und ließ unbändigen Zorn in ihr aufsteigen. Ihre Augen verengten sich.
Wer an ihre unschuldigen Kinder gelangen wollte, musste zuerst an ihr vorbei!
Mit einem Mal durchfloss sie eine unglaubliche Energie. Sie hob die Hände, ihr ganzer Körper spannte sich an, um sich dem Wesen, das nun die oberste Stufe erreichte, entgegenzuwerfen ...
„Es wird immer kälter hier oben, fast wie in einem Gefrierfach ... Was ist - "
Danny schrie auf, ruderte mit den Armen und prallte zurück. Er riss Joshua, der hinter ihm die Stufen erklomm, mit sich. Beide stürzten rücklings die Stufen hinunter. Unten polterten sie Ben vor die Füße.
Als Joshua mit der Schulter auf den Bodendielen aufprallte, ertönte ein krachendes Knacken wie von splitterndem Holz.
„Mann, Alter, hast du noch alle?", fluchte er, nahm die Stirnlampe ab und rieb sich den Hinterkopf. Alles tat ihm weh, vor allem der Steiß, wegen dieses stolpernden Idioten.
Er sah, wie sich Danny aufrappelte und als erstes nachschaute, ob sein geliebtes Handy, mit dem er gerade noch gefilmt hatte, unversehrt geblieben war. Typisch. Dieser Nerd.
„Sie ist mit ausgefahrenen Armen auf mich zugeschossen. Eine weiße Geisterfrau. Sie ... sie hat mich angegriffen!"
Fast kläglich klang Dannys Stammeln, er zitterte. Hektisch richtete er den Strahl seiner Stirnlampe und das Licht seines Handys nach oben, leuchtete mit fahrigen Bewegungen den Treppenabsatz aus.
Aber dort war niemand. Nichts, außer dem Treppengeländer und langen Spinnweben, die sich im Luftzug sachte hin und her bewegten. Trotzdem schüttelte es ihn.
„Raus hier", flüsterte er und humpelte, so schnell er konnte, ins Freie.
„Mensch, bleib cool!", rief Ben ihm nach, sich zur Ruhe zwingend. Er hatte nichts von einem Geister-Angriff mitbekommen, dennoch war auch ihm mulmig zumute und sein Herz klopfte schneller.
„Alles in Ordnung mit dir, Josh?", wandte er sich seinem immer noch am Boden sitzenden Kumpel zu.
„Ja, geht gleich wieder. Danny hat wohl überreagiert ... Hey - was ist das denn?"
Joshua tastete in das Loch, das er bei seinem Aufprall in die Bodendiele neben dem Treppenpfosten geschlagen hatte. Ein kleines, in Wachstuch eingeschlagenes Päckchen kam zum Vorschein.
Beide Jungen beugten sich darüber, leuchteten mit ihren Stirnlampen darauf. Joshua zerrte am Knoten der vom Alter steifen Schnur, als es mit einem Schlag bedeutend kälter um sie herum wurde. Weiße Wölkchen gefrorenen Atems bildeten sich vor ihren Mündern und gleichzeitig war ihnen, als ob eine bedrohliche Präsenz neben ihnen aufragte, dunkler Zorn ihnen entgegenwallte.
Ein paar Stufen über ihnen begann es zu flimmern ...
Ben stieß einen leisen Schrei aus, zerrte Joshua auf die Füße und mit sich. Sie stolperten durch die Tür, brachten Abstand zwischen sich und das Haus, und gesellten sich heftig atmend zu Danny, der unter einer Eiche stand und nervös an einer Zigarette zog.
„Shit“, keuchte Ben. „Was war das?"
„Seht mal, hier", sagte Danny und hielt seinen Freunden das Display seines Handys entgegen.
Was sie dort gegen Ende der Aufnahme sahen, ließ beide scharf den Atem einsaugen und Joshua einen Blick über die Schulter werfen. Dort ragte nur die dunkle, abweisende Fassade des leerstehenden Hauses auf. Schauer rieselten ihnen über den Rücken, während sie gleichzeitig prickelnde Aufregung verspürten.
Hier gab es wirklich einen Geist!
Das mussten sie Mel berichten. Sofort.
Melissa hörte ihnen zu.
Dannys Schwester, die seit ihrer frühesten Kindheit im Rollstuhl saß, hatte die Jungen angewiesen, erst ihre Eindrücke und Erlebnisse zu schildern, bevor sie ihr die Handyaufnahme und den Inhalt des Päckchens zeigten. Sie war die Belesenste von ihnen, sozusagen der Kopf der „ParaNormas", wie sie sich nannten.
Die vier Gymnasiasten hatten sich vor etwa einem Jahr die Erforschung von Geisterhäusern und anderen Orten mit paranormalen Aktivitäten auf die Fahne geschrieben. Die Idee war eigentlich aus einer Laune heraus entstanden, denn in dem Kaff, in dem sie lebten, gab es nicht viel Angebote für Jugendliche. Schon gar nicht für Melissa, denn die meisten Gebäude waren nicht barrierefrei.
Dannys ältere Schwester war siebzehn, ein zierliches Persönchen, doch äußerst selbstbewusst und entschlossen.
Sie betrieb die nötigen Recherchen, während ihr Bruder und die zwei Freunde bei den Erforschungen ihre Sinne und Füße waren. In der Regel schickte sie die Jungen ohne Hintergrundinformationen zu den vermeintlichen Spuk-Plätzen, damit sie nicht voreingenommen waren oder sich einbildeten, etwas wahrzunehmen, was sie zuvor von ihr erfahren hatten.
Im Internet hatte sie als neuestes Projekt das lange leerstehende Haus ausfindig gemacht, in dem die Drei in dieser Nacht zum ersten Mal überhaupt auf paranormale Aktivität gestoßen waren. Es befand sich etwa zwei Kilometer von ihrem Dorf entfernt.
Nun brachte Ben seinen Bericht mit der Erwähnung der plötzlich stark abfallenden Temperatur und der Erscheinung auf der Treppe zu Ende.
„Gut! Sehr gut! Ein voller Erfolg!", triumphierte Melissa. Ihre Augen funkelten.
„Bevor ich euch die Hintergründe enthüllen werde, zeigt mir den Film. Und du -" Sie nickte Joshua zu. „packst so lange das Päckchen aus, aber vorsichtig. Es ist wahrscheinlich sehr alt."
Nachdem sie sich noch einmal die - recht verwackelte - Aufnahme angesehen hatten, lächelte Melissa wie eine zufriedene Katze.
Josh hatte inzwischen ein Goldmedaillon an einer Kette aus der Hülle geschält. Behutsam öffnete er den Anhänger und hielt ihn so, dass alle das vergilbte Foto darin sehen konnten. Es zeigte zwei kleine Mädchen und einen etwas älteren Jungen, keines der drei Kinder lächelte.
Bevor Melissa zu sprechen begann, lehnte sie sich im Rollstuhl zurück und blickte ihre Mitstreiter der Reihe nach intensiv an.
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es der Geist von Matilda Kramer ist. Seht mal," Sie hielt den Ausdruck eines alten Fotos hoch. „Das sind die Kramers bei ihrer Hochzeit. Sie trägt das Medaillon!"
„Wow, abgefahren", flüsterte Joshua.
„Ich habe einiges im Netz gefunden", fuhr Melissa fort. „Alte Zeitungsartikel. Spätere Reportagen. Sehr traurig, die Geschichte. Ihr Mann war ein Trinker. Im Jahr 1910 geriet er in die Fänge einer Satanistengruppe und kam auch mit harten Drogen in Berührung. In seinem Wahn erdrosselte er zuerst seine Frau, man fand ihre Leiche vor dem Kinderzimmer. Danach hat er seine drei Kinder in den Wald verschleppt -“ Melissa musste schlucken. „und dort ... geopfert. Er geriet natürlich unter Verdacht, flüchtete und verschanzte sich in einer Försterhütte, starb in einem Schusswechsel mit der Polizei."
Sie griff hinter sich, nahm einige Papiere vom Schreibtisch, reichte sie herum.
„Der Fall hatte damals große Wellen geschlagen.“
Danny blickte erneut auf das altmodische Hochzeitsfoto. Glücklich sahen die beiden Frischvermählten weiß-Gott nicht aus.
Ein mulmiges Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit, als er in dem ernsten Gesicht der jungen Frau die verzerrten Züge des Geistes wiederzuerkennen glaubte.
„Wahnsinn! Wenn sie es ist, dann spukt sie dort ja schon über hundert Jahre herum“, sagte Ben.
„Ja.“ Melissa tippte auf einen Artikel. „Dem Haus werden durch alle Jahrzehnte hindurch Geister-Erscheinungen nachgesagt, häufiger Leerstand, Verkauf und Mieterwechsel. Bis es langsam verfiel, zu einem lost place wurde.“
Sie blätterte in dem Stapel und zog einen weiteren Artikel hervor.
„Ich habe mich auch mit einer Theorie des Parapsychologen Prof. Edmund Clayton beschäftigt. Zusammengefasst: Er geht davon aus, dass Geister an einen Ort gefesselt sind, an dem sie ein tragisches Schicksal ereilte, wie ein Mord. Aber nicht jeder Ermordete spukt herum. Nein, der letzte Moment vor dem Tod ist nach Clayton entscheidend. Mit welcher - wie er es nennt – „Willenserinnerung" scheidet die Person aus dem Leben? Hat sie eine dringende, unerfüllte Aufgabe, klammert sie sich an etwas fest? Dann kann ein Teil des Menschen verharren, sein Geist, der nach wie vor diese Aufgabe bewältigen will.“
Stille. Alle vier hingen ihren Gedanken nach. Den Jungen war nicht anzusehen, was sie von Melissas Worten hielten.
„Matildas Geist hängt sozusagen in einer Art Schleife. Ich vermute, ihr Willen, der sie in diesem Haus hält, ist, ihre Kinder vor ihrem Mann retten. Sie wurde in der oberen Etage tot vor deren Zimmer gefunden. Und genau an diesem Ort war es plötzlich so kalt geworden, dort hast du sie gesehen, nicht, Danny? Und noch einmal wurde es so kalt, als ihr das Medaillon gefunden hattet - ihr Medaillon."
„Was machen wir jetzt überhaupt mit dem Material? Film, Fotos, Kette? Ins Internet stellen?", fragte Danny.
Er erntete einen entrüsteten Blick von seiner Schwester.
„Zuallererst werden wir Matilda erlösen!"
Drei Augenpaare starrten sie ungläubig an, doch bevor einer etwas erwidern konnte, sagte sie bestimmt: „Und ich komme mit."
„Ohne mich, Mel. Diese Geistertusse hat mich angegriffen! Was, wenn sie einen von uns verletzt? Sie - "
„Danny!", unterbrach ihn Melissa. „Ganz ruhig. Sie kann dich nicht verletzen, nur die Umgebung kalt werden lassen. Wenn sie sich materialisiert, entzieht sie dem Raum um sich Energie, daher die Kälte. Schlimmstenfalls kann sie einen eisigen Luftzug erzeugen."
„Wer sagt das?", fuhr Danny wütend auf. Auf keinen Fall wollte er noch einmal in dieses Haus.
„Prof. Clayton, auch andere Parapsychologen", entgegnete seine Schwester. „Was hat sie dir denn getan? Sie hat dich erschreckt, ja, aber die Treppe hinabgefallen bist du von allein, sie hat dich nicht gestoßen, oder?"
Herausfordernd blickte sie in die Runde. „Ich habe ein Erlösungsritual gefunden. Wir sollten es versuchen. Also, seid ihr dabei?!"
Danny sah Ben einschlagen, Joshua nur kurz zögern, bevor dieser nickte und biss sich wütend auf die Unterlippe. Er konnte nicht sagen, ob er einen Schubs erhalten hatte oder vor Schreck zurückgetaumelt war. Aber was er wusste, war, dass er Angst gehabt hatte und dieses Horrorhaus nie wieder betreten wollte.
Allerdings würde Mel wie immer ihren Willen durchsetzen, und das ärgerte ihn.
Seine Schwester schien seine Gedanken zu lesen, denn sie sagte wesentlich sanfter: „Bitte, ohne dich will ich nicht gehen. Bring mich dorthin und hilf, den Geist dieser armen Seele zu erlösen. Sie hat lang genug gelitten."
Es war eine kühle Nacht und ein ganz schöner Akt, Melissas Rollstuhl den Weg vom Dorf über den holprigen Feldweg zum Geisterhaus zu karren.
Danny, der sie schob, lief der Schweiß in die Augen, Ben und Joshua schleppten die Rucksäcke. Alle trugen sie Stirnlampen.
Am Ziel angekommen, stieg Beklommenheit in Danny auf. Unruhig trat er von einem Fuß auf den anderen, während sein Blick die düstere Hausfassade abtastete.
Er beugte sich zu seiner Schwester hinab und sie schlang ihm die Arme um den Nacken, damit er sie aus dem Stuhl heben konnte. Wie leicht sie war, und dabei so stark.
„Bewegt euch behutsam im Haus, zeigt ihr, dass wir in friedlicher Absicht kommen", erinnerte Melissa, als sie vor dem Eingang standen.
Mit einem Knarren schwang die Tür auf. Muffige Dunkelheit empfing sie.
Das Licht ihrer Lampen durchschnitt die Finsternis.
„Erst geht Danny mit mir hinauf, danach folgt ihr. Vorsicht auf der Treppe. Die Stufen sind garantiert brüchig."
Ihr Bruder kam erneut ins Schwitzen, als er die fünfzig zusätzlichen Kilo seiner Schwester hochschleppte. Die Treppe klagte unter jedem Tritt.
Oben angekommen, hörte er Ben und Josh folgen.
Sein Herz raste, alles in ihm sträubte sich. Seltsamerweise fühlte sich Melissas warmer Körper in der Dunkelheit eher tröstlich als wie eine Last an.
Mit einem Mal war da die Kälte. Ihr Atem wurde weiß, im Licht der Stirnlampen sichtbar, sie froren.
Selbst in Mels Augen flackerte etwas wie Angst auf. Sie spürte genau wie die Jungen eine unheimliche Präsenz, als ob sie angestarrt wurden. Zornig und zugleich verängstigt.
„Matilda, beruhige dich. Wir wollen wir dir und deinen Kindern nichts tun", sagte sie laut in die stille Dunkelheit hinein. In Dannys Ohr wisperte sie: „Zum Zimmer geradeaus, vielleicht ist es das Kinderzimmer."
Ihre Vermutung schien zu stimmen, denn je näher sie der Tür kamen, desto stärker fiel die Temperatur und stieg zeitgleich die gefühlte Bedrohung an. Sie prallte wie in düsteren Wellen auf sie ein. Ein schmerzhaft kalter Luftzug streifte die Gesichter von Danny und seiner Schwester, als er die morsche Tür aufdrückte. Ben und Joshua waren direkt hinter ihnen, einer von ihnen keuchte auf.
„Etwas hat sich vorbeibewegt ...!", flüsterte Ben mit zitternder Stimme. Er spürte, dass er eine Gänsehaut bekam.
Gemeinsam leuchteten sie den verkommenen Raum aus.
An den Wänden waren Reste mehrerer Lagen uralter Kindertapeten auszumachen. Außer einer kaputten Lampe, die von der Decke baumelte und einer halb herabgefallenen Gardinenstange war das Zimmer leer. Staub wirbelte in den Strahlen der Lampen.
„Danny, setz mich bitte hier ab. Dann stellt die Kerzen genauso auf wie besprochen, entzündet den Weihrauch. Schreibt die Zeichen und ihre Namen auf den Boden. Legt das Medaillon in die Mitte und setzt euch darum", wies Melissa an.
Ein Flimmern war in einer Ecke auszumachen, es wurde stärker, zeitgleich fiel die Temperatur im Raum um noch ein paar Grad.
„Mel, dort in -"
„Still, ich hab's gesehen. Bleib ruhig, kontrolliere deine Angst", unterbrach sie Josh flüsternd. Sie spürte ihren beschleunigten Puls.
Ben atmete hektisch, seine Hand zitterte so sehr, dass er kaum mit dem Feuerzeug die Kerzen entzünden konnte. Die Flammen flackerten in einem neuerlichen kalten Hauch.
Obwohl es durch das Kerzenlicht heller im Raum wurde, intensivierte sich das Flimmern in der Ecke, nahm die Umrisse einer leuchtenden Gestalt an.
Die Vier nahmen sich an die Hände, schlossen den Kreis.
Versuchten, an ihre Freundschaft zu denken, an ihre Familie. An die, die sie liebten, daran, etwas Gutes zu tun, um sich mit positiver Energie aufzuladen, wie es das Ritual verlangte.
„Matilda, ich heiße Melissa. Das ist mein Bruder Daniel, dort sitzt Benjamin, neben Joshua. Wir wollen dir helfen."
Eine frostige Böe fuhr durch ihre Mitte, die Flammen der im Kreis stehenden Kerzen senkten sich so weit, als würden sie jeden Augenblick erlöschen.
Ben riss die Augen auf, Joshua erstarrte. „Matilda, hörst du? Wir sind Freunde, wir wollen helfen."
Die Lampe über ihnen begann zu schwingen, gab quietschende Laute von sich.
Im gleichen Moment krachte die Gardinenstange herunter, schlug direkt neben Melissa hart auf den Boden auf.
„Scheiße, raus hier, sofort!", zischte Danny und erhob sich halb, um seine Schwester hochzuziehen.
Doch die griff nach seiner Hand, drückte sie energisch, bis er wieder neben ihr saß und den Kreis schloss, sprach wieder laut in den kalten Raum.
„Bitte, sei nicht zornig. Hab' keine Furcht. Wir sind hier, um dich zu leiten. Zu deinen Kindern. Sie warten auf dich. Sie brauchen dich."
Die frostige Präsenz war ihnen nun so nah, dass ihr Atem wieder gefror.
Vier Herzen klopften rascher. Mel verstärkte den Griff um Dannys und Joshuas Hände, spürte deren Fluchtgedanken, legte so viel Wärme, wie sie konnte, in ihre Worte.
„Du bist eine gute Mutter. Betritt unseren Kreis, geh' ins Licht. Zu deinen Kindern. Bring sie und dich in Sicherheit."
Sekunden bangen Wartens, die zu Minuten wurden. Stille, die nur vom Wind durchbrochen wurde, der ums Haus zog.
Mit einem Mal flackerten die Kerzen vor ihnen, als ob sich jemand in den Kreis bewegt hätte.
Dann war ihnen, als ob das Licht einen kurzen Moment stärker wurde, die Flammen wie eine einzige gemeinsam aufloderten. Alle hielten sie den Atem an.
Etwas wie ein Seufzen erklang, es konnte aber auch eine Windböe gewesen sein.
Doch sie spürten gleichzeitig, noch immer ihre Hände haltend: Die Kälte war fort. Und mit ihr Matildas Geist.
„Schließ deine Kinder in die Arme und finde endlich deinen Frieden", flüsterte Mel, bevor sie erleichtert aufschluchzte und ihren Bruder in einem Anflug von Zärtlichkeit fest an sich zog.
Tag der Veröffentlichung: 30.03.2014
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum März-Wettbewerb 2014 der Thrilling Stories mit dem Thema: "Übersinnliches". (Platz 1)