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Das Versprechen

Warum nur ist Danny nicht bei mir?

Helen verspürte einen Anflug von Panik. Flankiert von den Detectives Hugh Coleman und Debra Weathers stand sie im Fahrstuhl, der die kleine Gruppe in die Gerichtsmedizin hinunter beförderte. 

Ihr Magen krampfte sich zusammen, während sie immer wieder den Blick zur Decke hob, um die Tränen zurückzuhalten, vor innerer Kälte zitterte. Das musste der Schock sein. 

Meine Schwester ...

An diesem Morgen hatte Helen die Kinder zum Kindergarten gefahren, danach hatte sie sich zu Hause Kaffee gekocht und war gerade dabei gewesen, ihren zweiten Becher zu trinken, als es läutete. Vor der Tür hatten diese beiden Polizisten gestanden, mit ernsten Mienen, und sie hatte unbewusst den Atem angehalten. 

Als Hugh Coleman seine Partnerin und sich als Detectives der Mordkommission vorstellte und den Grund ihres Kommens eröffnete, hatte Helen sich am Türrahmen festhalten müssen und war in hysterisches Schluchzen ausgebrochen. 

Seitdem durchbrachen immer wieder Erinnerungen an ihre Zwillingsschwester den Zustand der Leere, der sie nach der tragischen Nachricht ergriffen hatte: Sie beide als Kinder beim Spielen, Unterhaltungen in ihrer geheimen Sprache, bei nächtlichen Gewittern eng aneinander gekuschelt in Helens Bett, ihr gemeinsamer Schulabschlussball … 

Oh, mein Gott! 

Niemand war ihr so nah gewesen wie ihre Schwester. 

„Keira“, flüsterte Helen lautlos.

 

Ehe die beiden Polizisten sie zur Gerichtsmedizin brachten, hatte sie Daniel angerufen und über das Unglück informiert. Ihr Mann nahm gerade an einem Kongress in Boston teil und hatte ihr versichert, den nächsten verfügbaren Flug zu nehmen. Er würde aber frühestens am späten Nachmittag zu Hause eintreffen. Sie brauchte ihn. In diesen Tagen mehr als je zuvor. Die Identifizierung der Leiche würde sie nun allerdings allein bewältigen müssen. 

„Mrs. Garner, das wird gleich kein schöner Anblick. Fühlen Sie sich stark genug?“ 

Die kultivierte Baritonstimme von Detective Coleman riss sie aus der Erstarrung. 

„Ja“, erwiderte Helen leise. „ich schaffe das.“ 

Ihre Hände, die sich um den Riemen der Handtasche krampften, die schluckende Kehle, die vom unterdrückten Weinen schmerzte, sagten etwas anderes. Aber sie fasste sich, straffte leicht die Haltung, als sie den abschätzenden Blick des weiblichen Detectives, dieser Weathers, auf sich spürte. Ständig schien sie Helen zu taxieren, mit Augen, die schwarzen Kieselsteinen glichen.

Der Fahrstuhl stoppte, die Tür schob sich auf. Der Geruch von Desinfektionsmitteln stieg Helen unangenehm in die Nase, verstärkte das Gefühl von Übelkeit, das in ihrem Magen tobte. Das Klackern ihrer Absätze hallte von den Wänden des graugefliesten Gangs wieder, der zur Leichenhalle führte. Die afroamerikanische Polizistin, die den durchtrainierten Körper und energischen Gang einer Ballerina besaß, strahlte eine gewisse Aggressivität aus, als sie nebeneinander auf die Stahltür zuschritten. Trotz ihrer geringen Körpergröße schien Weathers die Härtere des Ermittlerduos zu sein - vielleicht gerade deswegen, und Helen spürte Abneigung in sich aufsteigen.

Somit wandte sie sich lieber dem schlaksigen, etwas nachlässig gekleideten Detective Coleman zu, dessen Haar auf attraktive Weise zerzaust wirkte, als käme er gerade aus dem Bett. Mit seinen gutaussehenden, melancholischen Zügen hatte er etwas von einem Künstler und schien ihr wenigstens ein wenig Mitgefühl entgegenzubringen. 

Sie betraten den kühlen Saal, wo sie ein Mann in grüner OP-Kleidung erwartete. Hier stank es noch mehr, auch nach Tod. Doch Helen behielt die Fassung. Der Gerichtsmediziner grüßte die beiden Polizisten und schüttelte ihnen die Hände. Helen blieb einen Augenblick vor der Tür stehen, dann näherte auch sie sich mit langsamen Schritten der stählernen Bahre, auf der ein mit einem Tuch bedeckter Körper ruhte. "Sind Sie bereit?", fragte der Gerichtsmediziner. Kalt war es hier unten, die junge Frau fröstelte, während sie nickte. Als der Mann das Tuch herunterschlug, sog sie scharf den Atem ein und presste eine Hand vor den Mund, dem ein dumpfes Wimmern entwich.  

Detective Coleman beobachtete ihre Reaktion. Er hatte ihr gesagt, dass man Keira erschlagen hatte, doch auf das Grauen, das sie jetzt sah, hatte sie nichts vorbereiten können.

Das Gesicht ihrer Schwester, das dem ihren in unversehrtem Zustand wie ein Spiegelbild geglichen hatte, wies Spuren schlimmster Gewalt auf, war regelrecht zertrümmert. Selbst ein medizinischer Laie wie Helen erfasste sofort, dass auch der Schädel mehrere Brüche aufwies. 

„Jemand muss, wahrscheinlich rasend vor Wut, immer wieder mit einem harten Gegenstand auf sie eingeprügelt haben“, bemerkte Weathers, woraufhin Coleman sie kurz missbilligend anfunkelte. Weathers nahm das ungerührt zur Kenntnis.

Helen bewegte eine bebende Hand auf die zerstörten Züge ihrer Schwester zu, ließ sie aber kurz vor der Berührung sinken. Die Augen der Polizistin wanderten zwischen der jungen Frau und der Toten hin und her, bevor sie abwartend auf Helen ruhten, die mit vor Schmerz verzerrtem Gesicht um Atem und Fassung rang. 

„Nun, trotz des Zustands, in dem Ihre Schwester sich befindet, ist die Ähnlichkeit wirklich verblüffend“, stellte Detective Weathers fest. Jetzt stupste Coleman sie noch missbilligender an.

Helens Mund wurde ein Strich. Sie fand die Bemerkung der Polizistin mehr als geschmacklos, aber sie schluckte eine zurechtweisende Erwiderung hinunter. 

„Ja, das ist meine Schwester, Keira Morrison“, sagte sie stattdessen zu Coleman und dieser gab dem Gerichtsmediziner mit einem Nicken zu verstehen, die Leiche wieder zu bedecken. Dann wandte er sich der leise Aufschluchzenden zu, sein Gesicht drückte Anteilnahme aus.  

„Gehen wir.“ 

 

Als sie zurück in Richtung der Fahrstühle schritten, schwankte Helen leicht und Coleman ergriff ihren Arm.

„Mrs. Garner, Ihr Verlust tut uns schrecklich leid. Aber - fühlen Sie sich dazu in der Lage, uns einige Fragen zu beantworten?“ 

Sie zögerte. Ihr Mienenspiel verriet, was sie dachte: Sie wollte jetzt allein sein, Ruhe haben, sich zu Hause verkriechen, hemmungslos weinen und zu trauern beginnen. Andererseits sollte sie mit den Polizisten zusammenarbeiten, ihnen alles mitteilen, was hilfreich sein könnte, das war sie Keira schuldig. Auch Detective Weathers sah die widerstreitenden Gefühle in Helens Zügen und hakte sofort nach. 

„Je eher wir Hinweise bekommen, die unsere Ermittlungen voranbringen, desto effektiver können wir arbeiten, um den Mörder Ihrer Schwester zu fassen.“ 

Weathers Onyxaugen bohrten sich in die Blauen Helens, bis diese ihre senkte und ergeben nickte. Sie musste sich zusammennehmen, stark sein. 

„Ja. Ich will helfen. Sie müssen das Monster finden, das meiner Schwester das angetan hat. Keira und ich haben uns als Kinder versprochen, dass wir immer füreinander da sind, dass nichts uns trennen kann …“ 

Ihre Stimme brach, dann murmelte sie kaum hörbar: „Jetzt will ich alles dafür tun, deinen Mörder zu finden, das verspreche ich dir!“

Das gemeinsame Büro der Polizisten spiegelte deren unterschiedliche Naturen wieder. Während der Schreibtisch des männlichen Detectives das reinste Chaos aus Aktenbergen, benutzten Kaffeebechern, Papierservietten und Notizzetteln war, bot der seiner Partnerin einen penibel ordentlichen und organisierten Anblick. Darum nahmen sie an letzterem Platz und Weathers fuhr ihren PC hoch, um das Gespräch zu protokollieren. 

„Möchten Sie einen Kaffee oder Tee?“, fragte Hugh Coleman.  

„Nein, Danke. Lassen Sie uns anfangen, ich möchte schnell nach Hause“, erwiderte Helen.  

„Nennen Sie uns bitte Ihren vollen Namen, Geburtsdatum, Familienstand und Adresse“, forderte sie der Detective sanft auf. 

Helen räusperte sich und als sie antwortete, begannen Weathers Finger über die Tasten zu fliegen. 

„Helen Garner, geborene Morrison. Ich wurde am 12.05.1989 in Westfield/ Michigan geboren, seit Februar 2011 bin ich mit Daniel Garner verheiratet. Wir leben mit unseren Kindern Ashley und Ben in 102 Upper Road, hier in Philadelphia.“ 

Während Weathers die letzten Angaben tippte, bemerkte sie: „Society Hill, noble Gegend.“ 

Helen glaubte, einen Hauch von Neid - oder Ablehnung - aus ihrer Stimme zu hören, ignorierte den Einwurf jedoch. 

„Wie alt sind Ihre Kinder?“, fragte Coleman, der ihr durch diese leicht zu beantworteten Fragen etwas Sicherheit zurückgeben wollte. 

„Ashley ist vier und Ben drei.“ 

„Sind Sie berufstätig?“ 

„Nein, im Moment nicht. Ich will ganz für meine Kinder da sein.“

„Was ist das für ein Kongress, an dem Ihr Mann teilnimmt? Seit wann ist er dort?“ 

„Mein Mann arbeitet für den Fidelity Investments-Konzern. Normalerweise ist er als Leiter der Zweigstelle hier in Philadelphia beschäftigt, aber zwei Mal jährlich treffen sich die Mitarbeiter der Führungsetagen in Boston. Daniel ist seit drei Tagen dort.“ 

Helen hörte Weathers leise schnauben, während die Tasten klackerten, sie wusste nicht, worauf es sich dieses Mal bezog. Abwartend blickte sie Coleman an, der einen gläsernen Briefbeschwerer hin und herschob. 

„Ihre Schwester wurde laut vorläufigem Obduktionsbericht vorgestern Nacht, also vom 8. auf den 9. Oktober, zwischen 22 Uhr und Mitternacht ermordet. Eine Nachbarin bemerkte heute früh Blutflecken vor der Haustür, und als auf ihr Läuten hin niemand öffnete, informierte sie den Hausverwalter, der die Wohnung ihrer Schwester aufschloss und sie auffand. Da es keine Spuren gab, die auf einen Einbruch oder Kampfhandlungen schließen lassen, gehen wir davon aus, dass Keira Morrison den Täter kannte und einließ.“ 

Nun stellte Coleman die Glaskugel wieder an ihren Platz und blickte Helen an. 

„Hatten Sie am 8. Oktober persönlichen oder telefonischen Kontakt zu Ihrer Schwester? Hatte sie etwas von einer Verabredung gesagt? Wirkte sie irgendwie anders auf Sie? Aufgeregt? Nervös?“ 

Helen überlegte, war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. 

„Ja, ich meine, nein ... Wir hatten morgens telefoniert, aber sie wirkte ganz normal, wie immer. Keira -“ Sie hielt inne, als erneut ein Weinkrampf sie übermannen wollte, doch sie fasste sich rasch. 

„Meine Schwester sagte, sie freue sich auf unser Treffen. Ich hatte sie für heute Abend zum Essen eingeladen.“ 

Die junge Frau zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich leise. 

„Von einer Verabredung am … am besagten Abend sagte sie nichts. Sie hätte es mir bestimmt gesagt, wir haben uns alles erzählt.“ 

Der Ermittler ließ ihre Worte einen Moment sacken, außer Weathers Tippen war nichts zu hören. 

„Nun, wir gehen von einer Beziehungstat aus. Dafür spricht, dass die Wohnung nicht durchwühlt, keine Wertgegenstände

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Cover made by susymah
Tag der Veröffentlichung: 17.03.2014
ISBN: 978-3-7309-9259-3

Alle Rechte vorbehalten

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