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„Mama, was ist los?“ 

Charlottes Stimme klingt alarmiert, ihre Augen mustern sie scharf wie Laser. 

Jetzt ist sie heraus, die Frage, die Elisa die ganze Zeit befürchtet hat. 

Nach nur etwa einer halben Stunde, die ihre Tochter und sie nun im Wintergarten beisammen sitzen. 

Bei Kaffee und Kuchen hat Charlotte erzählt und erzählt, in der für sie typischen sprudelnd-sprunghaften Art. Tags zuvor waren Ben und sie von ihrer dreiwöchigen Hochzeitsreise nach Hawaii zurückgekehrt.

Gut sieht sie aus, mit der Sommerbräune, den sonnengebleichten Haaren, sie strahlt. Sie sind glücklich, die beiden, und das macht Elisa glücklich, zumindest für den Moment. 

Aufmerksam hat sie der Tochter zugehört, über eine Episode sogar herzlich lachen können. 

Doch etwas an ihr hat sie verraten. Eigentlich fühlt sie sich noch nicht dazu bereit, ihre Kinder über die anstehenden Veränderungen aufzuklären. Aber ein weiterer Wesenszug von Charlotte ist Hartnäckigkeit, und es wird sowieso bald herauskommen. Es schmerzt fürchterlich, wie eine Klinge, die jemand immer wieder aufs Neue in ihrem Leib umdreht.

Wobei die Endgültigkeit des Ganzen noch nicht in ihrem Bewusstsein angekommen ist. Ein winziges Bisschen Hoffnung kauert noch in einem Winkel in ihrem Innersten und versucht, sich vor der immer größer werdenden Gewissheit zu verbergen.

Lotti kennt mich einfach zu gut, denkt Elisa, bevor sie die Tasse auf den Tisch stellt und durchatmet. 

„Dein Vater ist vor zwei Wochen ausgezogen. Er will sich scheiden lassen.“ 

„Was?“ Auch Charlotte setzt ihre Tasse ab, jedoch mit einem derart heftigen Knall, dass der Kaffee überschwappt.

Dann springt sie auf. Geht ein paar Schritte. Setzt sich wieder, mit angespanntem Gesicht. „Das kann doch wohl nicht wahr sein!"

Liebe, impulsive Lotti. Unter ihrem aufbrausenden Temperament besitzt sie das gleiche butterweiche Gemüt wie ihr ruhigerer Bruder Daniel, der momentan sein letztes Studienjahr in England absolviert.

„Warum? Warum will er sich scheiden lassen?" Als Elisa nicht antwortet, drückt Charlotte sacht ihre Hand, während ihre Lippen zittern.

„Sprich, Mama!" .

Tonlos, fast unbeteiligt, hört sich Elisa reden, als würde es nicht ihr eigenes Leben betreffen, sondern als läse sie aus dem Brief einer Fremden vor. 

„Er hat seit zwei Jahren eine Geliebte. Sie arbeitet in seiner Firma. Nun will er sie heiraten.“ 

Charlotte schlägt sich die Hand vor den Mund und blickt zur Seite. Ihre Wimpern flattern, dann bricht sie in Gelächter aus – ein Geräusch, so klar und kalt wie klirrende Eiszapfen, bis es abrupt endet. „Das ist doch lächerlich!" Ihr Mund zuckt, als schmeckten die Worte bitter.  „Natürlich wird Papa zu dir zurückkommen. Wer ist diese Frau? “ 

Elisa schluckt, als die Erinnerung über sie hereinbricht. Die Beklemmung, seit Wochen ihre Begleiterin, erneut in Fassungslosigkeit umschlägt.

Wie bei einem Hologramm, das ins rechte Licht gedreht wird, tauchen die Bilder und Sätze wieder auf. Hängen ihr vor dem Gesicht.

Wie so oft, seit Rolf sie überraschend mit dem Ende konfrontiert hat.

Bevor er zu sprechen begann, war es Elisa bereits eng um die Brust geworden. Denn er sah aus, als würde er ihr gleich mitteilen wollen, dass eines der Kinder verunglückt war.

„Hör' mir bitte zu und lass mich ausreden. Es ist schwer, all das zu sagen." 

Er räusperte sich. „Du bist und bleibst einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Aber ich habe mich in eine andere Frau verliebt. Schon vor längerer Zeit. Es ist einfach geschehen. Und die Liebe ist immer stärker geworden." 

Jetzt erst wich er ihrem Blick aus, der ihn aus ruhigen, grauen Augen gefangen hielt.

Nein! Nein! Sprich nicht weiter!, flehte eine verzweifelte Stimme in ihr und hob zum Schutz beide Arme vor das Gesicht. Während die äußere Elisa stumm da saß, die Hände im Schoß, und den schmerzenden Worten des Mannes lauschte, mit dem sie seit 36 Jahren zusammenlebte. Mit dem sie zwei erwachsene Kinder hatte. Der nach den vielen gemeinsamen Jahren noch genauso charmant und aufmerksam zu ihr war wie zu Beginn der Ehe.

Mit dem sie so viel erlebt, gelacht, gestritten und sich leidenschaftlich vertragen hatte, den sie liebte, weil sie wunderbar harmonierten. 

Zumindest hatte sie das geglaubt.

Hatte sie nicht auf Zeichen geachtet? Diese verdrängt, ausgeblendet?

Jetzt, im Nachhinein, fielen ihr sogar mehrere Situationen und Begebenheiten im vergangenen Jahr ein, in denen sie stutzig, ja misstrauisch hätte werden können.

Andererseits war er ihr so zugewandt gewesen, die zahlreichen liebevollen Gesten. Die vertrauten Gespräche. Wie er sie angesehen hatte, nachdem sie miteinander geschlafen hatten ... 

Geborgen hatte sie sich gefühlt im Kokon ihrer Beziehung; hatte geglaubt, sich bis ans Lebensende hineinkuscheln zu können.

Nach seinem Geständnis unterdrückte sie ein aufsteigendes Wimmern, wäre beinahe aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet, doch sie riss sich zusammen. 

Oder war es der Schock, der sie lähmte?

Auf jeden Fall arbeiteten die bescheuerten Regeln und Spielchen mit voller Kraft. Der Kontrollfreak in ihr drängelte sich vor. Denn wenn sie ihren Gefühlen freien Lauf ließe, würde sie explodieren.

Lass ihn nicht merken, dass du eifersüchtig bist. Dass dir seine Worte das Herz zerreißen. Dass du Angst hast. Es ist nur eine dumme kleine Affäre, mehr nicht, hörst du? Was wir nicht brauchen und was er nicht will, ist eine Szene. Bleib ruhig, halt dich zurück!

Seine nächsten Aussagen zerfetzten jedoch die in Sekundenschnelle errichteten Schutzmauern, pusteten sie einfach um.

„Elena und ich werden zusammenziehen. Sie ist schwanger. Wir wollen heiraten. Darum bitte ich dich um die Scheidung."

Jeder der vier Sätze war ein Schlag in die Magengrube, der ihr den Atem raubte, doch noch immer ließ sie die Selbstbeherrschung nicht im Stich.

Manchmal sehen wir nicht, was wir nicht sehen wollen. Denk' immer daran, Elisa, dann tappst du nicht vollkommen blind durch die Welt.

Diesen Rat hatte ihr Vater ihr als Teenager mitgegeben, nachdem ein vermeintlicher Freund ihn damals betrogen und enttäuscht hatte. Daran musste sie denken, als Rolf das Ende ihrer Ehe verkündete.

Sie wusste selbst nicht, woher sie die Kraft nahm, sitzen zu bleiben und mit leiser Stimme zu sagen: „Erzähl mir von ihr."

Sie musste einfach wissen, wer diese Frau war, die ihr den Ehemann stahl.

Und er begann zu reden. Erst vorsichtig, als bewege er sich auf dünnem Eis, dann - als keine negative Reaktion ihrerseits folgte - immer entspannter, gelöster. Und während er sprach, schrumpfte Elisas Herz auf die Größe einer Rosine zusammen, während sie innerlich brüllte vor Qual, denn sie spürte, dass die lebenslustige, hübsche Elena, die 32-jährige leitende Assistentin in Rolfs Firma, nicht nur eine Affäre war, sondern dass er sie wirklich liebte. Mein Gott, sie war nur zwei Jahre älter als seine Tochter!

Voller Wärme waren seine Augen, als er sie betrachtete und mit dem Satz schloss: „Elisa, dein Verständnis und deine Güte sind unglaublich. Du bist so großartig."

Wenn ich so großartig bin, warum verlässt du mich dann? Und warum hast du auf Lottis Hochzeit engumschlungen mit mir getanzt, mir Komplimente gemacht?, wollte sie schreien, und blickte ihn dennoch nur schweigend an. Warum hast du mir letzte Woche gesagt, dass du mich liebst?

Erst, als sie glaubte, die Stimme genauso unter Kontrolle zu haben wie ihre Züge, fragte sie leise: „Haben wir noch eine Chance?"

Etwas Trauriges huschte über seine Züge, begrub das Leuchten in seinen Augen. Sein Mund wurde schmal.

Dann straffte er den Rücken, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und sah zur Seite. 

Sie kannte die Antwort, die er nicht aussprach. Nicht aussprechen konnte. 

Zementschwer hing das ungesagte Wort in der Luft und schien sie zu erdrücken.

Die nächsten Tage suchte sie immer wieder seine Nähe, das Gespräch. Ruhig. Vernünftig. Wie er sie kannte und schätzte. Liebte?

Sie hatte noch mehr Zeit und Mühe auf ihr Äußeres verwandt als sonst, auch ein perfektes Candle-Light-Dinner gezaubert. Sie wollte ihn zurückerobern. Ein Fehler, wie sie feststellte.

Denn er wich ihr immer mehr aus. Blieb länger in der Firma oder kam gar nicht nach Hause. Wahrscheinlich fuhr er zu Elena, der jungen Nebenbuhlerin. 

Jetzt, da alles heraus war, gab es keine Heimlichkeiten mehr.

Nein, für dich hat es sich ausgebuhlt! Er ist bei der jungen Frau, die er begehrt, die dich ausgestochen und verdrängt hat, ohne, dass du es gemerkt hast, flüsterte eine boshafte Stimme in Elisas Kopf und trieb ihr Tränen in die Augen.

Was war Einsteins Definition von Wahnsinn? Immer wieder das Gleiche tun und andere Ergebnisse erwarten? 

Mit diesem Gedanken war sie nachts aus dem Schlaf hochgeschreckt.

In den letzten Wochen hatte sie immer wieder versucht, Rolf zurückzugewinnen. Aber das würde nicht funktionieren. Nein. Diese junge Frau war wie eine Droge für ihn. Egal, was sie, Elisa, auch tat, er würde ihr und der langen, gemeinsamen Zeit zuliebe keinen Elena-Entzug machen. Diese Erkenntnis tat weh. 

Wenn er mit der Geliebten von der Geschäftsreise zurückkehrte, wollte er mit Daniel und Charlotte sprechen, sie informieren, hatte er gesagt. Persönlich.

An diesem Abend, an dem er endgültig seine Sachen packte und ging - nachdem er ihr noch einen Kuss auf die Wange drückte und beteuerte, dass sie immer seine beste Freundin bliebe - setzte sie sich in ihren Wagen. Erst auf der Autobahn platzte ein Knoten in ihr, sie schrie das Leid heraus, während sie das Gaspedal immer weiter durchtrat.

Tränenblind, mit mehr als 200 Stundenkilometern, raste sie dahin, hätte beinahe einen Unfall verursacht, bis sie zur Besinnung kam. 

Ihr Tod würde Charlotte, Daniel und Rolf, auch andere, ins Unglück stürzen. Vor allem ihre Kinder sollten nicht leiden und sich Vorwürfe machen, für etwas, an dem sie keine Schuld trugen. Sie musste sich zusammenreißen, sich dem Leben stellen. Einem Leben, in dem Rolf noch der Vater ihrer Kinder, aber nicht mehr der geliebte Mann an ihrer Seite war. Elisa drosselte das Tempo, nahm die nächste Ausfahrt und kehrte in das einsame Haus zurück.

Es wird Zeit, sich zu lösen. Kein Wir mehr, jetzt gibt es plötzlich nur noch ein Ich. Wie in einer Winterstarre ist sie gefangen gewesen, hat nur das Nötigste getan, gefroren. Alles besteht aus Leere, einzig gefüllt mit dumpfem Schmerz.

Es wird weitaus länger brauchen als die Zeit, die sie nun getrennt sind, um das alles zu begreifen. Einen neuen Weg einzuschlagen. Ihren Weg. 

All das geht Elisa durch den Kopf, während sie Charlotte berichtet. Nun ist sie am Ende angelangt und verstummt.

„Ich werde Papa anrufen", sagt Charlotte scharf. „Ihn zur Rede stellen! Das kannst du nicht einfach hinnehmen!"

Das Gesicht ihrer Tochter hat sich gerötet, sie fährt sich unwirsch durchs Haar, nicht wissend, dass es sich um eine ererbte Geste des Vaters handelt.

„Ist er verrückt geworden? Eine Frau, die seine Tochter sein könnte? Vielleicht ist die noch nicht einmal schwanger, will ihn nur ködern!" Charlotte schnaubt. „Er liebt dich! Sieh dich an, Mama, ist er blind? Du bist eine wunderschöne, tolle Frau, man sieht dir keines deiner 56 Jahre an ..."

„Schh, Schatz", unterbricht Elisa sie. „Bitte nicht. Ruf ihn nicht an. Versprich es mir! Das ist eine Sache zwischen uns beiden. Aber du hast Recht, ich werde nichts mehr einfach hinnehmen. Ich werde ihm sagen oder schreiben, was ich wirklich fühle. Wie sehr es weh tut. Was er mir damit antut."

Tränen rollen nun über Charlottes Wangen, sie schnieft. Auch Elisas Augen füllen sich mit dem salzigen Nass, als sie zum ersten Mal laut ausspricht, was wirklich in ihr vorgeht.

„Ich kann nicht mehr schlafen, bin traurig, aber ich bin auch furchtbar wütend! Lotti, ich sollte das nicht sagen, weil er dein Vater ist, aber ... Nach all den Jahren hat er sich einfach abgeseilt, sich aus unserem Leben geschlichen, ohne Vorwarnung. Und mich stößt er hinaus. Warum habe ich nicht gemerkt, dass er sich von mir entfernte? Weil er mich angelogen und in Sicherheit gewiegt hat." Sie schluckt. „Aber ich werde ihn gehen lassen. Ich will nicht seine gute Freundin sein! Das ist nicht fair!"

Ihre Tochter springt auf und schließt sie in die Arme. Mit tränenerstickter Stimme flüstert sie: „Oh Mami, es tut mir so leid. Und ich habe noch zu Ben gesagt, wie sehr ich mir wünsche, dass unsere Ehe so glücklich wird wie eure."

„Und ob ihr glücklich werdet!" Elisa drückt sie an sich, ihr Körper bebt.

Jetzt ist es Charlotte, die "Schh" sagt.  „Was ich dir eigentlich vorhin noch sagen wollte: Ich bin schwanger. Du wirst Oma." 

Sie lacht wieder dieses seltsame, bittere Lachen, unterbrochen von kleinen Schluchzern. „Ist das nicht tragisch-komisch? Mein Kind wird wahrscheinlich fast zur selben Zeit auf die Welt kommen wie mein Halbbruder oder meine Halbschwester."

Elisa schließt die Augen, atmet den reinen Duft von Charlottes Haar ein und ihr wird ganz warm in der Brust. Die Kälte in ihr wird gemildert, ein wenig an den Rand gedrängt.

„Oh, wie wundervoll, mein Schatz! Ich freue mich!"

Lotti wird Mama. Ich werde Oma. Rolf liebt und braucht mich vielleicht nicht mehr - aber meine Kinder tun es. Und es werden wieder schöne Zeiten kommen.

Ja, denkt sie, und streichelt ihrer Tochter übers Haar. Auch wenn es jetzt schmerzt: Es geht immer weiter, auch ohne Rolf. 

Von heute an will ich Kapitän und Steuermann meines Lebens sein, meines neuen Lebens. 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 08.02.2014

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