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Das Schuljahr 1987/ 88 entpuppte sich für mich persönlich als Katastrophe.
Lehrerwechsel standen an. Um zu verhindern, dass ich denselben (in ihren Augen furchtbaren) Klassenlehrer wie mein älterer Bruder bekam, setzte meine Mutter durch, dass ich in die gymnasiale Parallelklasse versetzt wurde.   Dadurch riss sie mich aus der Gruppe, mit der ich seit der Grundschule befreundet war.
Sie hatte es gut gemeint, da bin ich mir sicher. Doch heute noch spüre ich etwas wie einen Knoten im Magen, wenn ich an die zwei Jahre denke, die ich in dieser für mich fremdgebliebenen Klasse verbrachte. 
Hätte ich mit Herrn O. vielleicht ganz andere Erfahrungen gemacht als mein renitenter Bruder? Ich weiß es nicht. Der Wechsel wurde jedenfalls vollzogen. Nach den Sommerferien kam ich von der 8f in die 9g, in der ich keinen/ keine der Jugendlichen näher kannte.  Die Jungs zeigten sich anfangs durchaus interessiert, die Mädchen eher zickig, abweisend, was sich durch die Kontaktaufnahme »ihrer« Jungen zu mir noch steigerte. 
Allein Ingrid, eine naturwissenschaftlich begabte Einzelgängerin - die heute in den USA im Bereich der Raumfahrttechnik arbeitet -  wurde in diesen zwei Jahren meine einzige wirkliche Freundin.
Nun, mag manch einer denken, warum hast Du Dich denn nicht weiterhin mit den Freundinnen aus der alten Klasse getroffen? Das ist das Seltsame, auch Unerklärliche, aber dieses Phänomen existiert bis heute und ich kann es ebenfalls an der Schule beobachten, an der ich arbeite: Die Schüler einer Klasse bleiben häufig unter sich.
So wie die Jungen und Mädchen in der neuen Klasse mir fremd blieben, eine eingeschworene Gemeinschaft bildeten, bröckelten mir bald die Freundschaften der ehemaligen Klasse davon.
Doch zur eigentlichen Geschichte. Diesen Teil habe ich nur vorangestellt, um die allgemeine Situation darzustellen. Ingrid und ich fanden uns recht schnell. Gegensätze ziehen sich an, das passte wohl auch in unserem Fall. Nicht nur äußerlich,  auch vom Temperament her waren wir verschieden.
Sie zeigte sich eher behäbig und ruhig, durchdacht, und - wie schon erwähnt - sehr gut in Mathematik, Physik und Chemie.  Ich redete viel, war impulsiv, die Naturwissenschaften lagen mir gar nicht. Dafür glänzte ich mehr in den musischen Fächern und vor allem in Deutsch.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Ausrichtungen kam uns bald der Gedanke, intensiv zusammen zu arbeiten. Ich korrigierte ihre Referate, suchte heimlich auch bei Deutscharbeiten die Fehler aus ihren Texten. Ließ Ingrid bei Diktaten und Aufsätzen abschreiben. Im Gegenzug gewährte sie mir dieses Privileg bei Arbeiten und Hausaufgaben in den naturwissenschaftlichen Fächern. 
Das rettete mich über eine Weile, vor allem im Physikunterricht von Herrn H.. 
Dieser hielt mich anfangs wohl für durchaus begabt und eher schüchtern, da ich mich nie meldete, in den Arbeiten jedoch gute Leistungen zeigte.
Hinter seinem Rücken wurde Herr H. von den Schülern »Clint« genannt. Denn der Enddreißiger hatte nicht allein äußerlich viel Ähnlichkeit mit dem mörderisch coolen und knallharten Cowboy, den Clint Eastwood in einigen Italo-Western mimte.
Ich unterstelle dem Lehrer heute wie damals, dass er dieses Image mit Wonne pflegte. Zwar trug er keinen Hut, aber exakt den gleichen Bart und zumeist denselben grimmigen, Lefzen-ziehenden Gesichtsausdruck.
Zudem bewegte er sich mit dieser o-beinigen Lässigkeit, zeigte sich gefährlich wie eine Klapperschlange.
Ich erinnere mich, dass ich etwa zeitgleich in die Parallelklasse wechselte, als Herr H. an unser Schulzentrum kam. Seine ersten »Amtshandlungen« bestanden darin, sich durch eisige Kommentare und reptilienhaft kalte Blicke Respekt zu verschaffen. So gab er auf die Frage eines Mitschülers, ob der die Toilette aufsuchen dürfe, in herablassendem Ton von sich: »Da merkt man wieder, dass ich bei Milchbubis in der Vorstadt gelandet bin. Darf ich aufs Klo gehen?", äffte er den Schüler nach, um schärfer nachzusetzen: »Bevor ich hierher kam, habe ich in Kreuzberg unterrichtet. Denkt ihr, da fragte einer, ob er zum Pinkeln raus kann? Geh einfach!«  
Betretenes Schweigen. In Momenten wie diesen fehlte nur noch der Zigarillo im Mundwinkel, den er von einer Seite auf die andere wandern ließ.
Aufgrund seiner unnahbaren, frostig-foppenden Art war es stets still in seinem Unterricht, die Atmosphäre geprägt von Vorsichtigkeit. Einige, die verstärkt in sein Visier geraten waren, hatten regelrecht Angst vor ihm.
Ich schummelte mich recht gut durch, dank Ingrid. Bis zu diesem gewissen Tag im Winter 1987.
War es Zufall oder hatte er eine Ahnung? Ich kann es nicht sagen. Aber an diesem Vormittag rief er mich, die sich nie meldete,  unvermittelt an die Tafel, an die er eine Formel geschrieben hatte. Diese sollte ich lösen, während ich die Erklärung laut mitteilte.
Mir war, als stoße er mir einen Eiszapfen in die Brust und eine kalte Faust ballte sich in meinem Magen. Ein beklemmendes, mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus, als hätte ich eine große Schüssel Würmer geschluckt.
Während ich aufstand und nach vorne zur Tafel ging, fixierten mich seine Augen wie steingraue Kiesel. Sein Blick lähmte fast meine Atmung, wie die eisige Berührung von gefrierendem Wasser. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerte irgendetwas in seinem Gesicht auf, als ob eine Flamme unter einer Eisschicht aufloderte.
Er weiß, dass ich die Aufgabe nicht lösen kann, durchfuhr es mich.
Dann war ich vor der Tafel angekommen, stand mit dem Rücken zur Klasse. Mein Mund war staubtrocken. Übelkeit stieg in mir auf, während meine Gedanken wie panische kleine Tiere in meinem Hirn durcheinander sprangen, verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg.
Sekunden verstrichen, Minuten. Wie aus dem Nichts tauchte Herr H. neben mir auf, fasste mich links und rechts an den Schultern und drehte mich zu meinen Mitschülern um.
Seine Stimme klirrte wie Eis und war zugleich weich wie ein Spinnenpelz: »Was ihr hier seht, ist eine richtig dumme Kuh.«
Es fühlte sich an, als hätte er mich mit Eiswasser übergossen. Die zuvor leichte Übelkeit verstärkte sich.
Die Scham biss mir in die Kehle, ließ mich den Atem anhalten und mein Herz stolpern.
Parallel registrierte ich in Sekundenschnelle sämtliche Reaktionen meiner Mitschüler wie auf einmal: Überraschung, Feixen, unterdrücktes Prusten, Lachen. Unauffälliges Tuscheln.
Auf Ingrids entsetztem Gesicht blieb mein Blick hängen, saugte sich an ihm fest. Die Betroffenheit in ihren Zügen, vor allem in ihren großen, grünen Augen, beruhigte mich seltsamerweise.
Bis heute kann ich mir nicht erklären, was im Folgenden geschah, denn es ist mir in dieser intensiven Form kein zweites Mal widerfahren: Es war, als ob ich mich für einen Moment aus Raum und Zeit löste, auch aus meinem Körper. Wie von selbst schritt ich zu meinem Tisch zurück, beobachtete mich dabei von oben, sah, dass ich mein Kinn hob, meine Schultern straffte. 
Gemessen ging ich, als ob kein Tornado in mir tobte, als ob ich nicht die vielen hämischen Gesichter wahrnahm.
An meinem Platz begann ich meine Sachen einräumen, ähnlich einem Roboter.
»Was tust du denn da?« , fragte Herr H. mit scharfem, zugleich irritiertem Unterton.
Ich hörte mich sagen: »Ich gehe jetzt zu Ihrem Vorgesetzten und werde ihm erzählen, wie Sie soeben mit mir umgegangen sind.«
Ganz ruhig sagte ich es, fühlte in mir eine Leere, der Sturm der Gefühle schien fort. Doch ich musste mich zum Atmen zwingen. Sein »Du setzt dich jetzt sofort wieder an deinen Platz!" ignorierend ergriff ich meine Tasche und bewegte mich auf die Tür zu. Noch immer sah ich mir wie eine Fremde dabei zu. 
»Du sollst dich setzen!«, fauchte er, als ich die Tür öffnete, hinaus auf den kühlen, kahlen Flur trat und die Tür wieder hinter mir schloss. Ein Schritt nach dem anderen.
Kaum war ich um die erste Ecke gebogen, ließ mich die tröstliche Leere im Stich und die Scham krallte sich erneut in mir fest, zwang mich fast in die Knie. 
Erst im Zimmer des Schulleiters, in das dieser mich nach dem Anklopfen bat, brachen die Tränen aus mir heraus.  Herr M. hörte zu. Fand gute und passende Worte, an die ich mich nicht mehr erinnere. Genauso wenig wie an eventuelle Konsequenzen, die »Clint« vielleicht daraufhin ereilt haben. 
Er wurde nicht freundlicher im Unterricht, doch er führte die Schüler seitdem weniger heftig vor.
Meinen Eltern habe ich davon nie erzählt, zum einen, weil meine Mutter einen Riesenwirbel veranstaltet hätte, den ich nicht wünschte. Zum anderen, weil ich mich immer noch schämte und mein vorheriges Schummeln hätte zugeben müssen.
Ich wollte diesen Vorfall einfach vergessen, ausradieren, auch wenn es nicht gelang.
In Physik stand im nächsten Zeugnis eine vier statt einer zwei.
Etwas habe ich für mich, die ich zu dieser Zeit bereits Lehrerin werden wollte, aus der Situation mitgenommen. Eine Tatsache stand seit diesem Übergriff unumstößlich fest: Wenn ich später auf der anderen Seite im Klassenraum stünde, sollte nie ein Junge oder ein Mädchen merken, ob ich ihn mag oder nicht.
Und ich würde niemanden wissentlich lächerlich machen oder vorführen.
Im Falle, dass es doch passiert, nahm ich mir fest vor, mich bei dem Betreffenden zu entschuldigen. Vor allen.
Das habe ich mir als Vierzehnjährige geschworen. 
Und ich habe es nie vergessen.

 

 

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Tag der Veröffentlichung: 01.02.2014

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