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Draußen ertönt ein Hupen. Ich blicke aus dem Fenster, hinab auf die dunkle Straße. Meine Clique ist da, um mich abzuholen und ich eile auf den Flur, schlüpfe in meine Stiefel. 
„Moment mal! Du räumst das Schlachtfeld im Bad noch auf.“  
„Mensch, Mama, doch nicht jetzt. Ich muss los. Ich mach' das nachher“, sage ich, meine warme Jacke anziehend, und greife nach dem Schlüssel. 
Doch meine Mutter baut sich vor der Haustür auf, versperrt mir den Weg.
Ihr Verhalten ist lächerlich! Genervt verdrehe ich die Augen.  
„Sophie, wir haben Abmachungen. Warum hältst du dich nicht daran?“  
„Es ist Freitagabend, ich bin zu einer Party eingeladen. Warum machst du aus allem so ein Drama? Ich räum' später auf, okay?“  
An ihr vorbei fasse ich nach der Klinke, will die Tür aufziehen, weiche ihrem Blick aus, der den meinen sucht. Stattdessen springt mir die pralle, zugebundene Mülltüte neben den Schuhen ins Auge. Shit, die habe ich auch nicht runtergebracht. 
„Du bist um ein Uhr wieder zu Hause, spätestens“, resigniert meine Mutter.  
Ich kann gerade noch ein triumphierendes Grinsen unterdrücken.    
Endlich tritt sie einen Schritt beiseite. „Komm nicht so spät, ja? Wir haben Morgen was vor.“ 
Einen Moment sieht sie aus, als wolle sie eine Hand nach mir ausstrecken, aber ich lächele sie nur flüchtig an und schiebe mich mit einem "Tschüs" an ihr vorbei ins Treppenhaus.  

Wie erwartet, hat sie das Aufräumen und Putzen längst erledigt, als ich am nächsten Morgen gegen Mittag aus dem Bett krieche. Ein ausgewachsener Kater versenkt seine Krallen in meinen Schädel und faucht durch meine Speiseröhre.
Es war eine ziemlich heftige Party, aber das will ich ihr jetzt nicht zeigen. Will  keinen Vortrag über Alkohol, den 16-jährige noch nicht in dem Maß konsumieren sollten und meine schulischen Leistungen – besser gesagt: Nicht-Leistungen – provozieren.  
Als ich in die Küche schlurfe, in der es nach aufgebackenen Brötchen und Kaffee duftet, sitzt sie über irgendwelchen Papieren am Küchentisch, der für uns zwei gedeckt ist. Bei meinem Auftauchen schiebt sie die Unterlagen zusammen und legt sie neben ihren Teller.  
„Hi“, sage ich und gieße mir einen Kaffee ein. 
„Hi“, antwortet sie, mir einen prüfenden Blick zuwerfend. „Wie war die Party?"
Ich antworte nicht.
„Da geht's jemandem aber nicht so gut." 
„Nein, nicht wirklich“, erwidere ich und nippe am Kaffee. Keine gute Idee. Die bittere Flüssigkeit bringt meinen ohnehin übersäuerten Magen zum Rebellieren. Ich stelle den Becher weg.
„Du warst erst nach drei zurück."
Nicht schon wieder ihr Genörgel.
„Du, ich leg' mich wieder hin.“  
„Und was ist mit unserem Ausflug? Wir wollten heute ans Meer fahren, weißt du noch?" 
„Nächstes Wochenende, vielleicht, ja? Ich bin müde." 
„Nächstes Wochenende besuchst du Reinhard." Vorwurf klingt aus ihrer Stimme.
Stimmt, denke ich. Nächstes Wochenende bin ich bei Papa und Sabine, seiner Freundin. Darauf freue ich mich schon. Papa hat mir eine Shoppingtour versprochen. Weitaus besser als ein öder Strandspaziergang an der Nordsee. Eh viel zu kalt dafür, jetzt im Herbst, aber diesen Kommentar verkneife ich mir. 
„Wir fahren ein anderes Mal, okay? Nicht heute." 
Damit verschwinde ich in meinem Zimmer und schließe die Tür. 

Montagmorgen haben wir erneut einen Disput, weil mir vor der Schule eingefallen ist, dass sie ihre Unterschrift noch unter die Fünf setzen muss, die ich in Physik geschrieben habe. Einfach nicht mein Fach. 
Während ich ihren Vortrag über die Wichtigkeit des letzten Schuljahres und eines guten Abschlusszeugnisses ausblende, wende ich mich ab und ziehe unauffällig mein neues iPhone hervor, das mein Vater mir bei meinem letzten Besuch gekauft hat und auf dem ich gerade eine Nachricht erhalten habe. 
Sie verstummt, tritt zu mir und starrt auf das Handy. 
„Woher hast du das?“  
„Von Papa“, antworte ich mit Trotz in der Stimme.
Warum muss ich mich dauernd für etwas rechtfertigen? Ständig jammert sie, wir müssen sparen, dabei arbeitet sie, viel sogar, und Unterhalt von Papa gibt's schließlich auch noch.
Endlich blicke ich sie an und sehe, dass sie die Lippen zusammenpresst, bevor sie sich wieder fasst und in ruhigem Ton weiterspricht. 
„Heute Nachmittag werden wir uns zusammensetzen und einen Plan machen, wie es hier weitergeht. Wer wann welche Aufgaben erledigt. Vielleicht brauchst du auch Nachhilfe. Und …“ 
Ich stehe abrupt auf, falle ihr ins Wort. „Vielleicht brauchen wir einfach 'ne Putzfrau, dann gibt's wenigstens darüber keinen Streit mehr. Das ist doch lachhaft!“ 
Ihr Gesichtsausdruck stachelt mich noch mehr an.
„Papa hat auch eine Putzfrau, obwohl Sabine nicht arbeitet. Was ist schlimm daran? Es erleichtert das Leben, so teuer ist das nicht.“ 
„Geht's dir noch gut?“, keift sie plötzlich los. „Wir leben hier zu zweit in einer 70m²- Wohnung, aber du brauchst eine Putzfrau? Ich fass' es nicht.“ 
Ganz weiß ist sie im Gesicht geworden, hat ihre Hände zu Fäusten geballt.
In mir breitet sich ebenfalls Zorn aus. Warum ist sie immer so uncool? Weshalb bricht sie ständig Streit vom Zaun? Kein Wunder, dass Papa es mit ihr nicht ausgehalten hat, geht es mir boshaft durch den Kopf und ich spucke die Worte ungebremst hervor: „Vielleicht ist es dir ja lieber, ich zieh' zu Papa. Platz genug hat er, und so herumnerven wie du tut er auch nicht. Dann macht auch keiner mehr Dreck in deiner mickrigen Butze!“ 
Kaum meinem Mund entwichen tun mir meine Worte leid, doch ich bin noch zu wütend, um einen Rückzieher zu machen, einzulenken.
Ohne sie noch einmal anzublicken, schnappe ich mir meinen Schulrucksack und verlasse die Wohnung.

In der zweiten Stunde langweile ich mich gerade im Matheunterricht von Frau Kästner, als es an die Tür des Klassenzimmers klopft und Frau Leuwers, die Schulsekretärin, eintritt.
Sie eilt zur Lehrerin an das Pult, flüstert ihr etwas zu. Ich widme mich wieder meinen Aufgaben, als die Leuwers plötzlich vor meinem Tisch auftaucht. Zu ihr aufblickend gewahre ich ihren angespannten Gesichtsausdruck. Bevor sie spricht, zieht sich mein Magen bereits zusammen.
„Pack bitte deine Sachen und komm mit, Sophie", weist sie mich leise an.
Irritiert sehe ich zu Frau Kästner hinüber, auch in ihren Zügen steht Besorgnis.
Ich schlucke, Übelkeit steigt in mir auf, die der Kloß in meiner Kehle kaum in Schach halten kann.
Mein Herzschlag hat sich beschleunigt, während ich meine Sachen einräume.
Nur am Rande vernehme ich das Tuscheln meiner Mitschüler, als ich der Sekretärin mit weichen Knien aus dem Raum folge.

Seltsamerweise richten sich meine Gedanken auf ein schulisches Problem, verdrängen das Offensichtliche. 
Als Frau Leuwers allerdings zu sprechen beginnt, fällt mein fahrig errichtetes Abwehrkonstrukt wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
„Sophie, deine Mutter hatte auf dem Weg zur Arbeit einen schweren Unfall. Sie wird im Krankenhaus versorgt." 
Sie legt ihre Hand auf meinen Arm, als Tränen aus meinen Augen quellen.
„Es tut mir leid."
„Nein ... nein", wimmere ich. „Wird sie ... wie schwer ..." 
Ich verstumme, beiße mir auf die Innenseite meiner Wangen.
„Darüber habe ich keine Auskunft. Herr Winkler hat eine Freistunde, er wird dich jetzt nach Hause fahren. Du sollst ein paar Sachen für deine Mutter packen und zum Krankenhaus bringen. Es ist das St. Marien."
Sie drückt mir noch einmal mitfühlend die Hand. 
Unfähig, mich zu bewegen oder etwas zu sagen, ist mir, als würde ich fallen. Und fallen. 
Noch nie ist mir so kalt gewesen. Habe ich solche Leere gespürt.

Nachdem mein Lehrer mich gefragt hat, ob ich noch Hilfe benötige, was ich verneine, schließe ich die Haustür hinter ihm und lege meine Stirn an das kühle Holz. Das Atmen fällt mir schwer. 
Mama! Endlich allein entweicht meiner Kehle ein langezogener Klagelaut, fließen die Tränen ungehemmt. Schluchzer schütteln meinen Körper.
Ist ihr der Unfall passiert, weil sie sich so furchtbar über mich aufgeregt hat?
Ich lasse unseren Streit vom Morgen Revue passieren. Fühle mich mies. Schuldig.
Dann raffe ich mich auf, sie braucht ihre Sachen. Wenn sie nicht ...
Nein. Das will ich nicht denken. Sie wird es schaffen. Muss es einfach.

Raum und Zeit haben sich aufgelöst, mein Körper agiert mechanisch, als ich die Reisetasche aus dem Abstellraum hole und sie auf Mamas Bett stelle.
Meine Gedanken wirbeln ziellos durcheinander, ich kann sie nicht bündeln. Was braucht sie?
Erneut bohren sich meine Verzweiflung, meine Schuldgefühle schmerzhaft in mein Herz. Ich weine, diesmal leise und unterdrückt, obwohl mich niemand hören kann außer mir selbst.
Die Wohnung ist so still, wirkt beängstigend leblos, wie ein Vakuum.
Ich wische mir über die Augen, hole ihren Morgenmantel aus dem Bad, fülle ihre Kulturtasche, während immer weitere Tränen mir die Sicht nehmen.
Reiß' dich zusammen, fahre ich mich an. Sie braucht mich jetzt. Stark, nicht als unfähigen Waschlappen.
Etwas konzentrierter ziehe ich die Schubladen ihrer Kommode auf, entnehme Strümpfe, Nachthemden, Unterwäsche. Mit einem Mal halte ich inne. Meine Hand hat einen harten Gegenstand ertastet. Ich schiebe die Wäsche beiseite und ziehe eine Kladde hervor. Was hat die denn da zu suchen?
Ich schlage sie auf, blicke auf Mamas saubere Handschrift. Seite um Seite hat sie damit gefüllt, mit Daten versehen. Ich habe nicht gewusst, dass sie Tagebuch führt.
Wie ertappt, klappe ich das Buch zu, lege es wieder zurück. 
Ziehe den Reißverschluss der Tasche zu und mache mich mit klopfendem Herzen auf den Weg zum Krankenhaus, das nur zwei Straßen entfernt ist.

Ich hasse Krankenhäuser. Das künstliche Licht, den ekligen Geruch nach Desinfektionsmitteln. Die langen, kahlen Flure. 
Bei der Intensivstation angekommen, wende ich mich an eine Schwester und überreiche ihr die Reisetasche.
Mein Mund ist trocken, formt von ganz allein die Worte. Sie holt einen Arzt, der mir in sachlichem Tonfall Mamas Zustand erklärt. Obwohl ich versuche, mich zu konzentrieren, gelingt es mir nur, Fragmente aufzufassen, die meisten Informationen rauschen an meinem Geist vorbei. 
Frontalzusammenstoß. Bewusstlos. Schädel-Hirn-Trauma. Brüche. 
„Wird sie es schaffen?", stelle ich endlich die alles entscheidende Frage. Meine Stimme zittert, wie meine Finger.
Er zögert einen Moment. „Die nächsten 24 Stunden werden das entscheiden. Wir tun, was wir können."
Ich will das Krankenhaus zusammenschreien, doch ich wende nur den Blick ab, versteife meinen Körper, lasse den Kampf in meinem Inneren toben.
„Ich möchte zur ihr", presse ich endlich hervor. Er nickt und führt mich in die Schleuse, in der ich die sterile Schutzkleidung anlegen muss. Dann geht er mir voraus in das Zimmer.
Ich traue mich erst nicht, zum Bett zu sehen. Hab' Angst. 
Es piepst, die Beatmungsmaschine gibt monotone Geräusche von sich.
In mir zieht sich alles zu einem eisigen Kern zusammen und die Tränen laufen schon wieder, als ich meine Mutter endlich anblicke. Ihr lädiertes, geschwollenes Gesicht sehe, das ganz fremd aussieht unter dem Kopfverband. Die Schläuche, die Kanüle in ihrem zarten Arm.
Das Leid quetscht mir die Lunge, tobt mit scharfen Klingen durch meine Eingeweide.
„Sie haben zehn Minuten. Nichts anfassen, bitte." 
Ich merke nicht, wie der Arzt den Raum verlässt. Höre nur die Maschinen. Vor ihr bleibe ich stehen, ich möchte sie berühren, aber ich traue mich nicht. Ich darf nichts anfassen. Sehe, wie ihre Brust sich hebt und senkt.
Hat man ihr das Haar abrasiert? Es würde sie traurig machen ... 
Was denke ich da?
Eine Faust vor den Mund pressend, lasse ich mich vorsichtig auf die Kante des Bettes sinken, denn ich will ihr nah sein, so nah wie möglich.
„Mama", wispere ich. „Mama, es tut mir leid. Ich hab' mich so mies verhalten. Ich hab' dich lieb. Bitte, halt' durch."
Zögerlich nähere ich meine Hand, streiche sachte über die ihre, die ganz kalt ist.
Noch mehr solcher nutzlosen Beteuerungen entweichen meinen Lippen, bis die Schwester mich bittet, zu gehen und Morgen wieder zu kommen.

Gefangen in meinem Kummer wandele ich durch die Straßen, nehme nichts wahr. Schließe die Wohnung auf, die mit einem Mal so verlassen wirkt. Überall springen mich Dinge meiner Mutter an, ihr Anblick lässt Magensäure in meiner Kehle aufsteigen.
Ich lasse mich auf einen Küchenstuhl sinken und lege meine Stirn auf meine Arme. Denke wieder an den heutigen Morgen, der ein Leben lang her scheint. An die gemeinen Worte, die ich ihr an den Kopf geworfen habe.
Wie von selbst bewegen sich meine Füße zu ihrem Zimmer, wo ich mich auf ihr Bett lege, mein Gesicht in das Kissen presse, um ihren vertrauten Duft einzuatmen.
Wann habe ich sie das letzte Mal umarmt? Oder sie gefragt, wie es ihr überhaupt geht? Ihr gesagt, dass ich sie lieb habe?
Vorhin, im Krankenhaus, geht es mir durch den Kopf. Als sie mich wahrscheinlich gar nicht hörte. 
Wie oft habe ich gemerkt, dass sie mich berühren, mit mir sprechen wollte. Und ich Miststück habe es ignoriert. 
Warum nur? Warum?? Weil sie mich nervte? Weil ich zu cool war? Weil meine Freunde mir wichtiger waren? Meine Brust zieht sich zusammen.
Wie ist es ihr damit gegangen?
Das Tagebuch fällt mir ein. Doch das darf ich nicht lesen. Das tut man nicht, sie würde es nicht wollen. Es sind ihre Geheimnisse, sie hat sie versteckt, vor mir.
Dennoch stehe ich auf, bewege mich auf die Kommode zu und öffne die Schublade. Greife hinein und ziehe das Buch hervor. Ich hab' solche Sehnsucht nach ihr. Und wenn es auch nur ihre geschriebene Nähe ist.
Ich schlage das Buch vorne auf, sehe das Datum. Vor sechs Jahren hat sie den ersten Eintrag verfasst. Als ich zehn war. Nachdem Papa ausgezogen war ...
Was ich dort lese, raubt mir den Atem.
Er hatte Mama betrogen! Über längere Zeit. Immer wieder hatte er versprochen, keine Affären mehr zu haben. Und dennoch neue begonnen. Bis Mama es nicht mehr aushielt und erst die Trennung, später die Scheidung wollte. Sie hat sehr gelitten. Das alles habe ich nicht gewusst, sie hat nie darüber gesprochen.
Sie schrieb:

Ich muss mich zusammenreißen, nicht schlecht über Reinhard zu sprechen. Ich will Sophie nicht belasten. Es ist schwer genug für sie, dass er ausgezogen ist, nun in Hamburg wohnt. 

Jetzt erst fällt mir auf, dass sie wirklich nie schlecht über meinen Vater gesprochen hat. Im Gegensatz zu ihm. Ich lese weiter. 

23. März

Reinhard zahlt immer wieder keinen oder weniger Unterhalt. Sophie würde dafür Dinge von ihm gekauft bekommen, die sie braucht, die sie von mir nicht bekäme. So geht das nicht! Ich habe eine Anwältin eingeschaltet. Hoffentlich zeigt er sich einsichtig, ich will keinen Prozess.

15. April

Diese Sabine wohnt jetzt bei Reinhard. Sophie findet sie nett. Die beiden überschlagen sich, tolle Sachen mit Sophie zu unternehmen und überhäufen sie mit Geschenken. In den Osterferien fliegen sie  mit ihr nach Mauritius. Ich habe Angst, dass Reinhard sie ködern will, ganz bei ihm zu wohnen.

5. Mai

Heute bin ich mit Sophie an die Nordsee gefahren. Es war ein schöner Tag. Wir haben unsere Schuhe ausgezogen und sind am Strand entlanggelaufen. Haben Muscheln und Steine gesammelt, Krebse angeguckt. Mein Schatz war so gelöst, sie hat endlich mal wieder herzlich gelacht, sie war bedrückt in letzter Zeit. Wie ich auch. Alles alleine zu wuppen ist schwerer, als ich dachte.
Reinhard hat schon wieder keinen Unterhalt überwiesen. Ich werde wohl meine Stunden aufstocken, wenn ich kann.
Auf der Rückfahrt hat Sophie gefragt, wann wir wieder ans Meer fahren. Sie sah so zufrieden aus, bevor sie einschlief. 

Ich lasse das Buch sinken. Die Traurigkeit liegt wie ein Zentnergewicht auf meiner Brust.
Ich erinnere mich an diesen Tag. Wir sind danach öfter ans Meer gefahren. Und letzten Samstag ...
Ich blättere hektisch. Bis zu den letzten Einträgen.


15. Oktober 2013


Wir streiten nur noch. Jeden Tag nehme ich mir vor, nicht an ihr herumzumäkeln, doch es hat sich alles so eingespielt. Sie bringt mich auf die Palme, lässt alles stehen und liegen. Meine Worte stoßen auf taube Ohren. 
Ihre Noten werden immer schlechter. Ich mache mir Sorgen, sie wahrscheinlich nicht wiederholen, aber was wird das für ein Abschlusszeugnis? 
Wir haben uns voneinander entfernt. Ich mache es falsch, erreiche sie nicht mehr. Das tut weh. 

17. Oktober 2013

Gerade haben wir uns fast wieder gestritten und sie ist an mir vorbei aus der Tür, zu ihren Freunden. Ich sage mir, dass das in dem Alter normal ist, dass Freunde das Wichtigste sind.
Doch Morgen soll unser Tag sein. Ich will endlich mal wieder mit Sophie an die See. Nur wir zwei. So wie früher. Vielleicht können wir dann miteinander sprechen, richtig sprechen.
Oder kann ich nur nicht loslassen? Man kann die Zeit nicht zurückdrehen, das weiß ich. Aber ich wünschte, wir wären uns wieder näher.

Meine Tränen tropfen auf die Seiten. 
Sie wollte einfach nur Zeit mit mir. Die Nähe zurück. Und ich? Ich lag verkatert im Bett, hatte keine Lust auf sie und den Ausflug.
Wie hatte ich nur vergessen können, wie schön es mit Mama am Meer gewesen ist?
Und wie hatte ich ihr heute Morgen nur entgegenschreien können, ich würde zu Papa ziehen?
Wie kann ich das nur wieder gutmachen? Vielleicht habe ich keine Chance mehr dafür.
Lange sitze ich da, auf ihrem Bett, mit ihrem Buch in der Hand.
Warum hat sie mich nicht direkt angesprochen? Oder habe ich nur nicht zugehört, ihr keine Gelegenheit dafür gegeben?
Wieso musste sie erst einen Unfall haben, bevor ich mich daran erinnere, wie wichtig und wertvoll sie für mich ist?
Ich greife nach dem Telefon, wähle die Nummer des Krankenhauses. Zustand unverändert. Ich soll Morgen wiederkommen.
Dann drücke ich Papas Nummer. Aber es springt nur seine Mailbox an. Ich spreche nicht darauf.
Ich rufe meine beste Freundin an.

Draußen ist es inzwischen dunkel geworden. Mit verquollenem Gesicht rolle ich mich auf Mamas Bett zusammen, lege das Telefon neben mich. Mit der Furcht, es könnte läuten und jemand mir das Unaussprechliche mitteilen, schlafe ich irgendwann ein.

Am nächsten Morgen wache ich früh auf, die Wirklichkeit holt mich ein. Ich werde gewahr, dass das alles kein Albtraum ist und das gähnende Loch tut sich wieder unter mir auf. 
Rasch kleide ich mich an, putze mir die Zähne, laufe aus dem Haus, durch die morgendlichen Straßen.
Atemlos erreiche ich das Krankenhaus und haste zur Station, auf den Arzt zu, der mit einer Schwester spricht.
„Ihre Mutter ist wieder aufgewacht. Ihr Zustand ist stabil. Sie ist jetzt auf Station 7."
Das Gewicht der Welt fällt von mir ab, Erleichterung durchströmt mich, sie gibt mir etwas Wärme zurück.
Ich will zur ihr. Ihr so viel sagen, aber nicht gleich.
Jetzt braucht sie Ruhe - und mich.
Doch wir werden ans Meer fahren, Mama! Bald.
Nur wir zwei. 

 

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 "Man kann die Zeit nicht aufhalten, aber für die Liebe bleibt sie manchmal stehen."

(Pearl S. Buck)

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: fotos.sc
Tag der Veröffentlichung: 09.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

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