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Es ist still im Haus. Allein der nächtliche Ostwind heult um die alte Villa, immer wieder prallt er gegen die Scheiben, rüttelt an den Fensterläden. Die anderen schlafen, während meine Sorge mich nicht zur Ruhe kommen lässt. Im Schein meiner Schreibtischlampe verfasse ich einen Eintrag in mein Tagebuch.

5. September 1980

Heute habe ich sie kaum zu Gesicht bekommen, sie hielt sich fast die ganze Zeit in ihrem Zimmer auf. Ich muss sie im Auge behalten, weiß nicht, was sie als Nächstes im Schilde führt. Das macht mich nervös …

 

Ich halte beim Schreiben inne, lausche. Habe ich nicht soeben das leise Klappen einer Tür vernommen? Meine Augen schließend balle ich meine linke Hand, um mich besser auf Geräusche konzentrieren zu können, und mir ist, als ob etwas Dunkles, Kaltes durch die Ritzen der Tür hereinweht. Das Böse kriecht durch die Wolle meiner Strickjacke, lässt mich frösteln. Ich kann ihre Nähe spüren. Oder - sind nur meine Nerven überreizt? Mein Herzschlag beschleunigt sich, ich halte den Atem an, horche weiter.

Knarren auf dem Korridor nicht leise die Holzdielen, als ob jemand darüber schleicht? Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen, rieselt, einer Schar langbeiniger Spinnen gleich, meine Wirbelsäule hinab. Rasch erhebe ich mich von meinem Schreibtisch und hinke, so schnell es mir mein alter Körper erlaubt, zur Tür, ziehe sie einen Spalt auf und spähe hinaus auf den nur von wenigen Nachtlichtern erhellten Flur.

Dort ist niemand, nur ein einzelner, kalter Hauch Zugluft streicht über mein Gesicht.

Vorsichtig gehe ich den Korridor entlang, lausche vor den Zimmern. Nichts.

Vor dem Turmzimmer ganz am Ende des Flures, ihrem Zimmer, bleibe ich stehen und halte wieder den Atem an. Stelle mir vor, wie sie gerade mit funkelnden Augen auf der anderen Seite der Tür steht und mich lautlos auslacht, zwischen uns nur die wenigen Zentimeter Holz. Ja, ich glaube sie zu spüren, es lässt meinen Magen zu Eis werden, zurückweichen und umkehren.

Mit jedem Meter, den ich zwischen uns bringe, schwindet der Druck von meiner Brust.  Wenn sie es soeben gewesen ist, die sich verstohlen auf dem Korridor entlang bewegte – wem hat sie heute Nacht einen unheilvollen Besuch abgestattet? Mein Herz zieht sich zusammen vor Kummer. Ich schließe die Tür zu meinem Zimmer und wünsche mir zum wiederholten Mal, ich könnte sie zusperren. Allerdings besitzt keine von uns einen Schlüssel, zu unserer eigenen Sicherheit, wie Mrs. Fuller erklärt hat. Wenn sie wüsste ...

Wie in Trance lasse ich mich vor meinem Sekretär auf den Stuhl sinken.

Die Kälte, die mich umfangen hielt, ist fort. Meine Hand greift wie von selbst nach dem Füller:

Ich muss handeln!! Drei hat sie bereits auf dem Gewissen. Hat sie es auf noch jemanden abgesehen? Wenn - auf wen? Ich muss es herausfinden! Und ich muss ihr endlich Einhalt gebieten. Bevor eine weitere von uns ihr zum Opfer fällt.

Ich überlege. Vielleicht sollte ich meine Tagebucheinträge noch einmal von Anfang an lesen, um Klarheit zu bekommen. Um vielleicht etwas zu entdecken oder zusammenzubringen, was ich bisher übersehen habe. Ich schlage das Buch beim ersten Eintrag auf …


11. Oktober 1978

Seit einer Woche lebe ich nun im „Rosewood Stift“, einem kleinen, privaten Altenheim in der Nähe von St. Catherine an der kanadischen Grenze. Nach Pauls Tod erkannte ich, dass ich nicht mehr allein wohnen konnte, und es zog mich in meine alte Heimat zurück, in der ich als Kind so glückliche Zeiten verlebte.

Ich fühle mich wohl hier und bin froh, auf diese Einrichtung gestoßen zu sein. Einige Heime hatte ich mir angesehen, doch meine Entscheidung fiel rasch, nach meinen ganz eigenen Kriterien.

Ich habe wahrgenommen, wer die Leiterinnen und Pflegerinnen hinter ihren allseits höflichen Fassaden wirklich sind. Bei manchen sprang mich violette Profitgier, graue Gleichgültigkeit oder schwarzgesprenkelte, eisblaue Gefühlskälte an. Nicht so bei Mrs. Fuller, der Leiterin von Rosewood. Sie ist von einem warmen Braun umgeben, das mir ihre Güte und Zuverlässigkeit verrät. Auch die ihr unterstellten Pflegerinnen sind angenehme Personen.

Nun, dazu muss ich etwas erklären, offenbaren, aber nur dir, meinem Tagebuch. Denn es ist mein Geheimnis, die anderen würden mich für verrückt halten.  Zu schmerzlich sind meine Erfahrungen, die ich diesbezüglich im Laufe meines Lebens machen musste. Ich bin anders. Seit meiner frühesten Kindheit kann ich die Auren der Menschen wahrnehmen, sozusagen ihre Seele sehen. Sie zeigen sich mir in Farben und intensiven Sinneseindrücken.

Bevor ich mich damals in Paul als Mann verliebte, verlor ich mein Herz an seine reine Aura, wir waren ein gutes Paar. Sein Tod vor fünf Jahren traf mich zutiefst, ich fiel wie halbiert in ein einsames, schwarzes Loch, vermisse ihn noch immer.

Aber hier in Rosewood bin ich nicht allein, hoffe, bald Freundschaften zu knüpfen. Oh, Schwester Annie geht mit der Glocke über den Flur. Es ist Zeit, mich zum Abendessen in den Speiseraum zu begeben.

 

18. Oktober 1978

Heute will ich dir meine ersten Eindrücke von den Mitbewohnerinnen schildern.

Da ist Olga. Obwohl sie vor langer Zeit in die USA eingewandert ist, besitzt ihr Englisch noch immer einen stark russischen Akzent. Sie spricht nur das Nötigste, ist nicht sonderlich beliebt, wegen ihrer knurrigen Art, doch ich mag sie, irgendwie. Ihre Aura gleicht einem verhangenen Novembertag, doch strahlen aus dem Nebel winzige silberne Lichter, wie ferne Sterne. Es sind die wenigen schönen Erfahrungen, die sie in ihrem harten Leben machen durfte, die Erinnerungen daran wahrt sie tief in ihrem Herzen wie einen Schatz.

Dann ist da Claire, zierlich wie ein Vögelchen, eine Wolke weißen Haares umgibt ihren Kopf. Ihre Demenz schreitet voran, oft versinkt sie in ihrer eigenen Welt, ihren Erinnerungen, lächelt nur still vor sich hin, während die Gegenwart ihr nur noch als eine Anhäufung verwirrender Fragmente erscheint. Ihre Aura ist zart und rosig wie die Morgendämmerung, spiegelt ihr kindliches Gemüt wider. Sie träumt von ihrem vor zwanzig Jahren verstorbenen Mann, unterhält sich mit ihm auf zärtliche Weise.

Gerade spielt Olivia Klavier. Die Klänge von Chopin dringen durch die Wand. Sie war früher eine recht bekannte Pianistin und ihre Aura ist typisch für eine Künstlerin, quecksilbrig schillernd und selbstverliebt, doch zugleich von löchriger Unsicherheit geprägt. In ihrem Zimmer hängen alte Schwarzweiß-Fotografien von ihr und Prominenten. Sie ist höflich, aber reserviert, bleibt meist für sich. Wenn sie einen guten Tag hat, so wie heute, spielt sie nachmittags im Gemeinschaftszimmer für alle, die ihr lauschen wollen.

Die Zeilen verschwimmen vor meinen Augen, als ich an die drei Frauen denke, die meine Freundinnen geworden waren.

Ein gequälter Laut entfährt mir. Mit einem Kloß im Hals wische ich die Tränen fort und überblättere die Beschreibungen der weiteren Mitbewohnerinnen. Auch die Seiten, auf denen ich die ersten zarten Freundschaftsbande notiert habe.

Erst als ich zu dem gewissen Datum komme, halte ich inne. Erkenne allein an meiner hektischen Schrift, wie aufgewühlt und zutiefst verstört ich damals nach der ersten Begegnung mit Martha gewesen war ...

20. März 1980

Heute haben wir einen Neuzugang bekommen. Als wir wie üblich zur Teezeit im Gemeinschaftssalon versammelt waren, erschien Mrs. Fuller. An ihrer Seite stand eine hochgewachsene Frau mit eisengrauem, streng frisiertem Haar.

„Darf ich vorstellen, Mrs. Martha Lowenstein. Sie zieht heute ein.“

Sobald ich die Neue ansah, die uns milde anlächelte, breitete sich Eiseskälte in mir aus, zog bis in meine Finger- und Fußspitzen und sandte ein schmerzhaftes Prickeln wie von tausend Nadelstichen über meinen Leib.

Mrs. Fullers Stimme, die uns der Reihe nach vorstellte, verblasste an meinem Gehör zu einem dumpfen, entfernten Gemurmel, ich hörte allein meinen Puls pochen, während ich den Blick nicht von der Lowenstein abwenden konnte. Selbst im Sonnenlicht dieses strahlenden Märztages war ihre Aura schwarz wie Tinte. Die Dunkelheit umzüngelte sie, während sie da mitten im Raum stand, kerzengerade auf ihren Gehstock gestützt wie ein General auf sein Schwert und ihr Lächeln erschien mir plötzlich wie ein Zähneblecken, ihre Augen reptilienhaft kalt.

Als Mrs. Fuller am Ende der Vorstellungsrunde angekommen war, sagte sie: „Niemand erwartet, dass Sie sich die zwölf Namen sogleich merken können. Aber alle werden Ihnen herzlich begegnen, es ist eine sehr nette Gemeinschaft hier bei uns.“

Nun nickte die Lowenstein langsam mit dem Kopf, als sie ihren Blick über uns wandern ließ. Auf mir blieben ihre Augen hängen und verengten sich kurz, dann hob sie ein wenig ihre schmale Oberlippe an, glich einem Raubtier, das Beute wittert. Erneut erschauerte ich. Sie hat mich als das erkannt, was ich bin - so wie ich sie erkannt habe!, durchfuhr es mich.

Bei Gott, wie sehr ich mir wünsche, dass ich mich irre. Doch ich glaube, nie eine schwärzere Seele als ihre gesehen zu haben.

26. März 1980

Heute hörte ich die Neue zum ersten Mal sprechen. Beim Mittagessen wandte sie sich plötzlich an Olivia, ihre Stimme erklang in liebenswürdigem Tonfall in das Klappern der Bestecke.

„Mrs. Foster, ich möchte Sie bitten, Ihr Klavierspiel am Nachmittag und frühen Abend zu unterlassen. Ich fühle mich gestört.“

Einige blickten von ihren Tellern auf, auch die Angesprochene.

„Weshalb sollten Sie mir Vorschriften machen können?“, erwiderte Olivia scharf, ich sah, dass sie beleidigt war. Doch die Lowenstein lächelte nur und entgegnete: „Ich mache keine Vorschriften, ich äußere lediglich eine Bitte.“

Nun atmete Olivia tief ein und legte ihr Besteck weg. In ihrer Stimme lag unterdrückter Zorn.

„Ich weiß nicht, warum Sie mich hier vor allen angreifen, aber es gefällt mir nicht.“

Damit erhob sie sich und verließ den Raum, während wir anderen in betretenem Schweigen verharrten.

„Wie Sie meinen“, murmelte die Neue, weiter in sich hinein lächelnd, doch in ihren Augen lag ein seltsam starrer Glanz.

3. April 1980

Ich bin so traurig. Heute Morgen herrschte große Aufregung auf dem Flur. Ich wurde geweckt durch eilige Schritte, die erregten Stimmen von Mrs. Fuller und Schwester Grace.

Beim Frühstück eröffnete uns die Leiterin mit traurigem Gesicht, dass Olivia diese Nacht verstorben sei. Wahrscheinlich ein Herzinfarkt. Unfassbar, sie hatte so fit für ihr Alter gewirkt. Wir alle waren schockiert ob des plötzlichen Todesfalls, Schluchzen kam auf. Martha wandte sich an Mrs. Fuller: „Ein trauriger Tag. Aber - da das Turmzimmer jetzt frei ist: Ich würde gerne dort einziehen.“

Unsere Leiterin gab keine Antwort. Doch nachmittags sah ich die Neue mit Schwester Annie ihre Sachen in das Turmzimmer bringen.

War Olivias Tod ein Zufall? Oder steckt sie dahinter?

Ich habe Angst. Schreckliche Angst.

Meine Augen überfliegen die Einträge, in denen über einen gewissen Zeitraum nichts Besonderes geschah, ich blättere weiter.


12. Mai 1980

Heute habe ich eine besorgniserregende Beobachtung gemacht. Ich ging über den Flur, um Claire einen Besuch abzustatten. An ihrer offenen Zimmertür blieb ich abrupt stehen.

Meine Freundin saß in ihrem Schaukelstuhl, wippte langsam vor und zurück, vor ihr stand Martha, die mir den Rücken zuwandte. Ich hörte sie sagen: „Oh, wie ich diesen Stuhl bewundere. Er ist wunderschön. Ein Erbstück, nicht?“

Claire nickte wie ein Kind und lächelte. Ich denke, sie hatte sie gar nicht richtig verstanden.

„Was tun Sie da?“, entfuhr es mir scharf.

Die Lowenstein wandte sich um und blitzte mich an, in ihrer Aura sprühten kurz blutrote Funken, bevor sie sich wieder im Griff hatte und lächelte.

„Ich plaudere mit Claire. Sie ist so liebenswürdig, nicht? Bis später, meine Liebe.“ Damit verließ Martha an mir vorbei das Zimmer, ihre Aura streifte mich wie ein frostiger Wind.

Ich mache mir Sorgen um Claire. Was hat Martha vor?? Ich muss auf der Hut sein, sie beobachten. Vor allem nachts auf Bewegungen im Haus achten.


27. Mai 1980

Ich bin zutiefst erschüttert. Mache mir große Vorwürfe, denn ich habe die letzten Nächte nicht mehr gewacht. Heute Nacht wurden wir alle von Claires Kreischen geweckt. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib.

Als ich über den Korridor zu ihrem Zimmer eilte, glaube ich gesehen zu haben, wie sich die Tür zum Turmzimmer schloss, während einige andere Damen die ihren öffneten und sich mir anschlossen. Schwester Annie war als erste am Zimmer, sie rüttelte an der Klinke und drückte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, doch sie ließ nicht öffnen.

„Robert!“, hörten wir Claire drinnen immer wieder voller Verzweiflung den Namen ihres toten Mannes rufen, gefangen in ihrem Wahn. Es war furchtbar! Dann war plötzlich Ruhe. Kälte wehte unter der Tür heraus, um meine nackten Füße.

Endlich erschien auch Mrs. Fuller. Mit vereinten Kräften schafften es die Schwester und die Leiterin, die Tür aufzudrücken, eine Kommode war von innen davor geschoben. Das Zimmerfenster stand offen, die Vorhänge blähten sich im kühlen Nachtwind. Meine schlimmste Befürchtung wurde wahr.

Claire ist tot, aus dem zweiten Stock in die Tiefe gestürzt - gesprungen? - direkt auf die dolchartigen Spitzen des schmiedeeisernen Zaunes.

Was hat SIE nur mit der armen Claire gemacht, dass diese derart in Panik ausbrach??


3. Juni 1980

Merkt denn keiner außer mir, wer oder was Martha ist? Nein, sie verstellt sich zu gut, agiert zu geschickt.

Heute, nach dem Essen, als die meisten ihren Mittagsschlaf hielten, habe ich meinen ganzen Mut zusammengenommen und ging zum Turmzimmer, um sie zur Rede zu stellen. Die Tür stand einen Spalt offen.

Als ich Martha sah, setzte mein Herz einen Schlag aus, um danach heftig zu klopfen. Sie saß in Claires Schaukelstuhl - sie hat ihn sich wirklich geholt! - die Hände um die Lehnen gekrallt, und lachte vor sich hin, ohne dass ein Ton ihren Lippen entwich.

Dann wandte sie mir endlich ihr Gesicht zu, bohrte ihren Blick in meinen und fragte leise: „Nun, Aurora, meine Liebe, und was kann ich für dich tun?“

Ich ballte meine Hände zu Fäusten, fühlte neben meiner Angst unglaubliche Wut in mir aufsteigen, die ihr nicht entging. Mich weiter anblickend enthüllte sie ihre falschen Zähne und begann zu schaukeln, vor sich hinzusummen, während ich ihre Nähe nicht länger ertrug, mich umwandte und flüchtete.

Dieses böse, böse Weib. Wenn ich doch nur mit jemandem über das reden könnte, was ich weiß, was ich sehe. Über meine geheime Fähigkeit. Doch niemand würde mir glauben.

27. Juni 1980

Heute hat sich Olga heftig mit Martha gestritten. Ich weiß nicht, was der Grund des Streits war, denn Schwester Grace ging bereits dazwischen, als ich dazu stieß. Ich mache mir große Sorgen, denn ich sah, mit welch unterdrücktem Hass Martha meiner Freundin nachgeblickt hat, als diese von der Schwester aus dem Raum geführt wurde.

Ich habe vorsichtig versucht, mit Olga über meine Befürchtungen bezüglich Martha zu sprechen. Sie hat meine Hand getätschelt, es als Unsinn abgetan, ich hätte zu viel Fantasie.

Oh Gott, wie soll ich meine Freundin nur schützen, wenn sie mir nicht glaubt?

Sie ist in großer Gefahr, das spüre ich!


12. Juli 1980

Ich kann nicht mehr. Wieder hat sie zugeschlagen, in einer Nacht, in der ich es nicht erwartete. Oder weiß sie es, fühlt sie, wann ich schlafe? Bereitet es ihr eine diabolische Freude, zu morden, ohne dass jemand - außer mir - ahnt, dass SIE dahintersteckt?

Vergangene Nacht ertönte ein Schrei, dieser und das unmittelbar darauf folgende Poltern ließen mich aus dem Schlaf hochfahren.

Ich mühte mich aus dem Bett, eilte, so schnell meine alten Beine mich trugen, zur Treppe, ahnte, was die anderen Hinzugekommenen und ich dort vorfinden würden: Olga war die Stufen hinuntergestürzt. Schluchzend ließ ich mich neben der schwer Verletzten auf den Boden sinken.

„Ein schrecklicher Unfall“, hörte ich jemanden sagen. „Wie tragisch!“ Andere fielen in das Klagen ein. Während Schwester Annie Olga untersuchte, hielt ich deren Hand.

Sah ihre verblassende Aura, spürte ihr Leben weichen und es riss mir das Herz entzwei vor Kummer - und Zorn. Das war kein Unfall!, wollte ich brüllen, und tat es nicht.

„Halt durch, der Krankenwagen kommt“, flüsterte ich stattdessen meiner Freundin zu, während Tränen über mein Gesicht rannen.

In diesem Moment spürte ich Kälte meinen Rücken hinabkriechen. Zeitgleich trat ein panischer Ausdruck in Olgas Gesicht, sie riss ihre Augen auf, die einen Punkt hinter mir fixierten. Ihr Mund versuchte vergeblich Laute zu formen, bevor ihr Blick brach.

Ich wandte mich um. Hinter mir stand Martha. Sie trug ein schockiertes Gesicht zur Schau, doch mir war, als ob ihre Mundwinkel zuckten. Oh, dieses Höllenweib, wie ich es hasse! Das muss ein Ende haben! Wie kann ich sie aufhalten?

21. Juli 1980

Die Stimmung ist sehr gedrückt. Einige wurden von ihren Angehörigen aus dem Heim genommen. Das Vertrauen in die Sicherheit und Fürsorge hier in Rosewood ist für viele nicht mehr gegeben.
Mrs. Fuller ist am Boden zerstört. Macht sich Gedanken um Vorkehrungen, will die Nachtwache auf zwei Schwestern aufstocken. Doch das würde nicht helfen.

Ich habe versucht, mit ihr zu reden, ihr einen Hinweis auf Martha zu geben.

Sie schenkte mir keinen Glauben, wiegelte ab, sah mich mit seltsamem Blick an, als ob sie mich für verrückt hielte. Oh Herr, im Himmel, ich weiß es - und kann nichts tun. Oder? Bitte hilf mir, einen Weg zu finden.

Ich lasse das Tagebuch sinken. Meine Gedanken wirbeln durcheinander.

Drei meiner Freundinnen sind tot. Es geschah immer nachts. Wie hat Martha das gemacht? Sie war nie unmittelbar zugegen, wenn eine der  Frauen ums Leben kam. Doch sie hat sie zutiefst erschreckt und so ihren Tod herbeigeführt, da bin ich mir sicher.

Ihre schwarze Aura, dunkle Kräfte. Marthas Geheimnis, das sie ebenso hütet wie ich meines. Manipulation.

Plötzlich sehe ich sie vor meinem inneren Auge, wie sie nachts über den Korridor schleicht, vor einer Tür stehenbleibt und sie geräuschlos aufzieht oder gar durch das Holz ihre böse Macht fließen lässt ...

Ich denke an meine Aura, die wie ihr Gegenpol ist.

Schwarz und Gold.

Rufe mir alle in Erinnerung, die ich liebte. Meine Eltern. Meine Geschwister. Paul. Olga, Claire, Olivia. Auch die verbliebenen Heimbewohnerinnen, die ich schützen will.

Meine Brust füllt sich mit Wärme. Im Halbdunkel hebe ich meine Hände, konzentriere mich auf meine ausgestreckten Finger. Sehe die goldenen Lichtbänder, erst zaghaft, dann intensiver aus meinen Fingerspitzen sprießen, bis sie lodern. Nur auf diese Weise kann ich meine eigene Aura sehen, mein inneres Leuchten spüren.

Endlich weiß ich, was ich zu tun habe.

Meine Angst unterdrückend erhebe ich mich und wandele mit diesem Strahlen, das nur Martha und ich sehen können, aus meinem Zimmer, über den dämmerigen Korridor, an der eingenickten Schwester Grace vorbei, die als Nachtwache eingeteilt ist. Zum Turmzimmer.

Vor ihrer Tür verharre ich, fühle meine Macht in mir pulsieren. Sie glüht nun in mir wie ein Feuer, flammt noch stärker auf, als ich mir wieder die vor Augen rufe, die ich liebe. Vor allem Paul.

Ich brauche gleich all meine Kraft, denn ich werde ihre schwarze Seele mit meinem Licht ersticken, bis das böse Weib ihren letzten Atemzug tut. Sie wird sich wehren, mich ihrerseits angreifen, verletzen. Vielleicht töten, wenn sie stärker ist als ich. Eine von uns wird ihr Geheimnis mit ins Grab nehmen.

Doch ich werde kämpfen, ich muss sie besiegen.

Und wenn es das Letzte ist, was ich in meinem Leben tue, denke ich, und ziehe die Tür zu ihrem Zimmer auf ...

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: cover wurde erstellt von Annibunny
Tag der Veröffentlichung: 25.12.2013

Alle Rechte vorbehalten

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