Cover

Dunquin, 1953


„Achtung, Paddy! Sie kommen!", zischt mir mein Freund Callum zu und hetzt, so schnell es sein beleibter Körper zulässt, zu dem Pult, das wir beide uns teilen.

Seine Augen glitzern vor Aufregung hinter den Gläsern seiner Hornbrille.

Bis eben hat er an der Tür des Klassenzimmers Schmiere gestanden.

Jetzt muss auch ich mich beeilen. Mit einem letzten Blick prüfe ich noch einmal, ob alles aussieht wie zuvor. Ja, nicke ich. Das wird ein Spaß!

Zufrieden grinsend husche ich zu unserem Tisch und lasse mich neben meinen Freund auf die Holzbank gleiten, als letzter. Die übrigen Kinder sitzen längst, durch Callums Ruf gewarnt, sittsam auf ihren Plätzen, zur Linken die Jungen, zur Rechten die Mädchen, mit gefalteten Händen.

Keinen Augenblick zu früh hab' ich mich aus der Schusslinie gebracht, denn schon erscheint Pater Darragh O'Kelly im Türrahmen, der Pfarrer unserer kleinen Gemeinde und zugleich der Religionslehrer an unserer Dorfschule. Sofort erheben wir uns alle wieder und stehen stramm neben unseren Bänken.

In des Pfarrers Kielwasser folgt Fionbharr, die schleimige Kröte mit dem strengen Scheitel. Er ist nicht nur der Sohn von Pater O'Kellys Haushälterin Maisie Connoly, sondern auch eine elende Petze und unser Klassenprimus.

Was Fionbharr an Körpergröße nicht mitbekommen hat - er ist zehn wie Callum und ich, doch ein wirklich mickriger Kümmerling - das gleicht er durch sein unschlagbares Selbstbewusstsein aus. Ständig tönt er, dass er Klassenbester ist, weil er alles weiß und alles kann. Wir anderen sagen: Weil er sich furchtbar bei unserem Lehrer Mr. Donovan und beim Pfarrer anbiedert und der Spitzel des Letzteren ist. 

Außerdem nennen wir ihn stets „Barry", was den Stinker furchtbar ärgert, weil er doch so stolz auf seinen Namen ist. 
„Ich heiße Fionbharr, wie mein Vater!", hat er uns mal mit vor Zorn krebsrotem Gesicht an die Köpfe geworfen. Der sei ein Gelehrter in Dublin gewesen, bevor er im vorletzten Jahr des Krieges fiel, als Held natürlich. Demnach hat Barry seinen Vater nie kennengelernt. Was er über ihn von sich gibt, hat ihm wohl seine Mutter Maisie erzählt.

Ohne den zweiten Elternteil aufzuwachsen ist schon traurig, das weiß ich nur zu gut, denn meine Mutter ist kurz nach meiner Geburt gestorben. Auch ich kenne sie nur von Fotos und aus den Erzählungen meines Vaters.

Dennoch, Barry macht es einem wirklich verdammt schwer, ihn zu mögen.

Und ich glaube, mein bester Freund Callum und seine fünf jüngeren Geschwister wären manchmal froh, ohne ihren ständig betrunkenen und prügelnden Vater aufzuwachsen ... Aber ich schweife ab.

Also, Barry trottet hinter dem Pater her, er schwitzt, denn er muss einen recht hohen Stapel Bibeln schleppen, mehr, als O'Kelly selbst zu tragen gewillt ist. Allerdings habe ich kein Mitleid mit der kleinen Ratte, geschieht ihm Recht.

„Lege die heiligen Schriften auf meinem Pult ab, Fionbharr, und setze dich!", dröhnt die Bassstimme des Paters. Man sieht Barry seine Erleichterung an, die schweren Bücher wären ihm wohl in der nächsten Minute aus den Armen gepurzelt. Nachdem er den Bibelstapel übervorsichtig abgesetzt hat, macht er noch einen kleinen Diener vor dem gestrengen O'Kelly und eilt dann an sein Pult, das natürlich in der ersten Reihe, nahe dem unseres Lehrers steht.

Nun baut sich der Pater vor uns auf. Er ist ein großer Mann, mit einem ausladenden Bauch, vor dem er beim Beten stets seine Hände faltet. Sein Gesicht ziert ein fein gestutzter Bart, über den er sich gerne sinnierend streicht, meistens, wenn er mit scheinheiliger Miene schwere Strafen für Vergehen seiner Schüler ausspricht. In der Regel kann er mir nichts nachweisen, dennoch hat es mich dieses Jahr einige Male getroffen.

Vor ein paar Wochen hat mich der Pater leider erwischt, wie ich eine Nadel in das Sitzkissen des Lehrerstuhls steckte, mit der spitzen Seite nach oben, selbstverständlich. Ich hatte mich nach Schulschluss unter dem Vorwand, ein Buch vergessen zu haben, noch einmal ins Klassenzimmer gestohlen. Am nächsten Morgen wäre O'Kelly in meine Falle getappt, denn freitags erteilt er in der ersten Stunde Religionsunterricht. 

Hatte ich denn ahnen können, dass der Pfarrer im selben Moment ebenfalls noch einmal zurückkehrte, weil er wirklich etwas vergessen hatte? Verdammt!

Gott, war der wütend geworden, als er zuerst mich vor dem Stuhl kniend und dann die Nadel entdeckte, die ich nicht mehr hatte verschwinden lassen können. 

Er hielt sie mir vors Gesicht, als ob er sie mir ins Auge stechen wollte. Während er zu mir herabgebeugt auf mich einschrie, wobei mir eklige Tropfen seines Speichels ins Gesicht flogen, nahm sein Kopf die Farbe einer überreifen Kirsche an, wohingegen ich wohl erblasste. Zumindest wurde mir richtiggehend schlecht vor Angst. Nachdem er eine Weile herumgebrüllt hatte, musste ich meine Hose herunterlassen und mich über das Lehrerpult beugen. 

Ich biss die Zähne zusammen, als der erste Schlag mit der Tawse, dem Lederriemen, auf meinen nackten Hintern traf. Zehn Schläge hatte ich einzustecken, bei den letzten beiden, muss ich gestehen, habe ich leise gewimmert. Nur gut, dass keins der anderen Kinder anwesend war, niemand außer dem Pater mein blankes Hinterteil zu sehen bekam und mich hörte. Vor allem nicht Roisin, meine heimliche Flamme ...

Der Alte hat wirklich einen festen Schlag. Er hätte auch ein grandioser Polospieler oder ein Schmied werden können. Zwei Tage lang konnte ich nicht richtig sitzen. 

Und meinem Vater und Tante Abigail meldete er mein Vergehen natürlich auch, postwendend. Wenn es nach meiner strengen und furchtbar gottesfürchtigen Tante gegangen wäre, die zu Pater O'Kelly aufschaut wie zum primas, dem Oberbischof, hätte auch sie mir noch einmal den Hintern versohlt.

Doch mein Vater entschied, dass die Strafe durch den Pater reichte und meine Tante musste sich, wenn auch zähneknirschend, fügen.

Die meisten Kinder haben Angst vor O'Kelly. Er ist aufbrausend und unberechenbar wie eine Kreuzotter, die im Gebüsch lauert; allzeit bereit, bei Unachtsamkeit oder einem Fehltritt zuzuschnappen.

Letztens hat er Mitch, den jüngsten in unserer Klasse, einen ganzen Nachmittag mit dem Gesicht zur Wand in unserem Klassenzimmer stehen lassen. Allein, weil dieser einen Teil des auswendig zu lernenden Psalms vergessen hatte. Und das an Mitchs Geburtstag. Ich habe mit ihm gelitten, auch wenn ich wie die anderen Kinder nach dem Unterricht heimgehen durfte. 

Aus diesem Grund habe ich mir für den feisten Pfarrer heute eine kleine Lektion ausgedacht. 

Da Barry mittwochs immer nach der Hofpause vor dem Lehrerzimmer wartet, um dem Pater als Träger der Bibeln zur Verfügung zu stehen - phh, Kriecher! - ist dies der Tag, an dem wir - das heißt meine Freunde Callum, Liam und ich - unsere Streiche vorbereiten können. So wie heute.

Was haben wir schon alles

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay
Cover: erstellt von Tina Tannwald
Tag der Veröffentlichung: 18.11.2013
ISBN: 978-3-7554-0035-6

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Allen Lausbuben und Lausbubinnen gewidmet. : )

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