Oh, wie sie dieses Lied liebte! Es war so romantisch.
Ob er sie gleich wieder aufforderte?
Was für eine wunderschöne Nacht. Die Veranstaltung neigte sich allmählich ihrem Ende entgegen, und nun, kurz vor zwölf, nachdem der strenge Rektor Brammer verschwunden war, spielte die Kapelle nach den Standardtänzen endlich auch die modernen, amerikanischen Lieder, die Helena so mochte.
Die Tanzfläche war gefüllt mit versunken schwofenden Pärchen. An der gesamten rechten Wand des Saales war ein Buffet mit Speisen aufgebaut, doch vor lauter Aufregung hatte sie bisher keinen Bissen heruntergebracht. Die Mädchen, alle in hübschen Kleidern, einige zum ersten Mal geschminkt, hatten auf der einen Seite Platz genommen. Viele kicherten und musterten hinter vorgehaltener Hand flüsternd nicht nur ihre Begleiter, sondern allgemein die jungen Männer. Diese saßen oder standen, in Schale geworfen, in Anzügen, auf der anderen Seite, manche mit verwegen gegelten Haaren, und behielten wiederum ihre Flammen im Auge, um sie zum nächsten Tanz zu bitten.
Die drei Flügeltüren der mit Girlanden geschmückten Aula des altehrwürdigen Immanuel-Kant-Gymnasiums standen offen, auch auf der Terrasse standen Tische und Stühle.
Es war eine laue Sommernacht und Helena fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben schön, strahlte nur so vor Glück.
Sie trug ein langes, schulterfreies Kleid, das ihren schlanken Körper umschmeichelte. Enorm viele Geschäfte hatte sie mit ihren Eltern abgeklappert, bis sie das Richtige endlich entdeckte. Ihre Mutter hatte ihr für den heutigen Abend das kastanienfarbene Haar aufgesteckt und lauter winzig kleine Perlen hineingearbeitet, der Tochter auch ihre Diamantohrringe geliehen.
Gemeinsam hatten die beiden Frauen zu Hause einen kleinen Moment vor dem Standspiegel gestanden und sich an den Händen gehalten.
„Ich bin so stolz auf dich, Helena", hatte ihre Mutter geflüstert und sie auf beide Wangen geküsst, die vor Aufregung glühten.
Als Max sie abholte, hatte sie Bewunderung in seinen Augen gelesen - und noch etwas anderes, das sie leicht erröten ließ. Er war ein Freund ihres Bruders, drei Jahre älter als sie und studierte bereits Medizin, doch da er Helenas Familie gut bekannt war und sie schon einige Male miteinander ausgegangen waren, durfte er sie an diesem Abend begleiten und fahren.
Heute war der Abschlussball, sie hatte als Drittbeste ihres Jahrgangs das Abitur bestanden.
Jetzt kam Max auf sie zu, selbstsicher war sein Gang, der Anzug stand ihm ungeheuer gut, und ihr Herz machte einen kleinen Satz.
Er war auf den ersten Blick nicht das, was man einen umwerfend hübschen, jungen Mann nennen würde. Doch er war groß, besaß breite Schultern und warme braune Augen, die jede seiner Stimmungen preisgaben, war humorvoll und gebildet, konnte sie ständig zum Lachen bringen. Nie ging ihnen der Gesprächsstoff aus.
Auch jetzt spürte Helena ein warmes Gefühl der Geborgenheit in sich aufsteigen, als er vor ihrem Platz stehenblieb und ihr mit einem Lächeln seine Hand entgegenstreckte, um sie zwischen die anderen Paare zu führen.
Er war ein fabelhafter Tänzer, hatte sie den ganzen Abend lang sicher geführt, und nun, bei dem engen, langsamen Tanz ruhten seine Hände sanft auf ihrem Rücken und heimlich sog sie immer wieder den angenehmen Duft seines Rasierwassers ein.
Als das Lied verklang und sich einige Paare wieder zu ihren Plätzen begaben, hielt er ihre Hand weiter in der seinen.
„Begleitest du mich auf die Terrasse?", fragte er.
Sie nickte und gemeinsam verließen sie den Saal, das Stimmengewirr und Lachen wurde leiser. Die Musik setzte wieder ein und wehte zu ihnen hinaus in die samtig-warme Sommerluft, die nach Gras und Blumen duftete und wie ein zärtlicher Atem Helenas unbedeckte Arme und Schultern liebkoste.
Der Mond stand fast voll am Himmel und tauchte den Park, der die Schule umgab, in silbernes Licht. Hier waren sie ganz allein.
Max führte sie bis zur Balustrade, wo er auch noch ihre andere Hand ergriff, sie leicht an sich zog. Er blickte zu ihr hinab, so viel Zärtlichkeit lag in seinen dunklen Augen.
„Weißt du, dass du für mich das außergewöhnlichste und aufregendste Mädchen der Welt bist? Dazu so bezaubernd schön wie einst die griechische Königin, die deinen Namen trug."
Sie fühlte, dass sich ihre Wangen wieder rosa färbten. Ein Hauch von Verlegenheit umgab auch ihn, was ihn für sie jedoch nur noch anziehender machte und sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln.
„Ich weiß, ich bin kein schöner Paris. Weitaus besser aussehende junge Männer machen dir den Hof, doch ich ... bitte, lach' jetzt nicht ... ich möchte wie Hektor für dich sein, dich lieben, wie er einst Troja und seine Andromache, stark und unverrückbar wie ein Fels."
Oh Gott! Wie gestelzt er sprach ... Ein Glucksen stieg in ihrer Kehle auf, das sie aber unterdrückte, denn sie spürte, wie ernst es ihm war, die Besonderheit und Tiefe dieses Augenblicks. Auf keinen Fall wollte sie ihn kränken oder diesen wundervollen Moment zerstören, indem sie sich wie eine alberne Gans benahm und so blickte sie ihn weiter ruhig mit ihren großen Augen an.
Wie kam er nur auf solche Ideen?, fragte sie sich aber innerlich kichernd.
Er hielt kurz inne, betrachtete forschend ihr Gesicht, das im Mondlicht wie auf Porzellan aufgemalt aussah.
„Keine andere will ich, nur dich, Helena. Ich liebe dich."
Er zog sie noch etwas näher an sich. „Auch, wenn es vielleicht noch ein bisschen früh ist: Willst du meine Frau werden?"
Helena spürte, wie seine Hände, die ihre hielten, vor Erwartung zitterten, wie auch ihr Herz zu flattern begann und ihr vor Glück ganz flau im Magen wurde. Wie sie wieder errötete, sich die kleinen Grübchen in ihren Wangen bildeten, als sie ihn anlächelte.
Wie sehr sie Max doch liebte! Er hatte ihr Herz doch längst erobert. Und er wollte nur sie!
Ja, ja, ja!, rief sie innerlich, doch eine Dame sollte zurückhaltend sein. So schlug sie kurz die Augen nieder.
„Lieber Max. Oder sollte ich von nun an besser Hektor zu dir sagen?", flüsterte sie und blickte mit schelmischem Augenaufschlag zu ihm auf. „Ja, ich will dich heiraten."
„Oh Liebling, gleich morgen werde ich auch bei deinen Eltern um deine Hand anhalten!"
Er schloss sie so fest in seine Arme, dass sie seinen starken, allzu raschen Herzschlag spüren konnte und ihre Lippen verschmolzen in einem Kuss.
Nie würde sie diese Nacht vergessen, niemals, das wusste sie ganz sicher.
Eine schmachtende Melodie tönte durch die Tür.
Pflegeschülerin Tamara öffnete sie und blieb mit dem Tablett in der Hand verwundert stehen.
Ein altmodischer Plattenspieler lief, füllte das kleine Zimmer mit ebenso alter, gefühlvoller Musik. Sie hatte das Lied schon einmal gehört, kannte aber dessen Namen nicht.
Auf der Terrasse tanzte die alte Dame, Helena Wagner, mit ihrem Mann. Langsam drehten sie sich im Takt, seine Arme umschlossen ihren zierlichen Körper, ihr Kopf ruhte an seiner Brust.
Der Moment war derart intim, dass sich Tamara eigentlich umdrehen und den Raum verlassen wollte, doch sie verharrte wie gebannt. Außerdem hatte sie einen strengen Zeitplan einzuhalten.
Frau Wagner war nach fünf alten Damen und Herren die letzte Heimbewohnerin, die sie nun mit dem Essen aufsuchen und vielleicht füttern musste. Danach hatte Tamara ihre halbstündige Pause, um selbst etwas im Schwesternzimmer zu essen, bevor ihre Schicht weiterging.
Das Lied war vorbei, die Nadel hob sich vom weiterhin rotierenden Plattenteller.
Der alte Herr führte seine Frau zu einem Gartenstuhl, wo er sie behutsam absetzte und neben ihr stehen blieb. Stille. So still war es plötzlich, dass Tamara im Zimmer jedes Wort verstand, das Dr. Wagner auf der Terrasse zu seiner Frau sprach.
„Ich liebe dich, Helena", sagte er und küsste sie auf ihr schneeweißes Haar. „Ich bin bald zurück."
Noch einmal küsste er sie, bevor er die Terrasse und sie verließ. Seine Haltung war gerade, obwohl er etwas hinkte und sein zerfurchtes Gesicht aussah, als ob er beim Gehen Schmerzen verspürte.
Während er Tamara passierte, nickte er ihr freundlich grüßend zu, dann war er fort.
Die junge Frau schluckte, fühlte sich irgendwie ertappt, doch er schien nicht böse gewesen zu sein, dass sie die beiden so gesehen hatte.
Was stehe ich hier herum, schalt sie sich und gab sich einen Ruck, durchschritt das Zimmer.
Im Vorbeigehen erspähte sie auf einem Tischchen ein vergilbtes Plattencover, auf dem eine fünfköpfige afroamerikanische Band in Anzügen abgebildet war. Smoke gets in your eyes, las sie.
Sie betrat die sonnenbeschienene Terrasse. Frau Wagner saß ruhig auf dem Stuhl, ein feines Lächeln umspielte ihren Mund, verträumt sah sie auf die gepflegte Blumenrabatte.
Als Tamara das Tablett auf dem Tisch absetzte, fiel ihr Blick auf ein altes Schwarz-Weiß-Foto. Es zeigte eine hübsche, junge Frau in einem weißen, schulterfreien Abendkleid. Glücklich strahlte sie in die Kamera. Das musste Frau Wagner als Teenager gewesen sein.
„Hallo, Frau Wagner. Es ist Zeit für das Mittagessen", sagte sie munter, doch nicht zu laut, um die Abwesende nicht zu erschrecken.
„Ich möchte zu meiner Mutter", wisperte diese, ohne sie anzusehen.
„Essen Sie doch erst einmal zu Mittag", erwiderte Tamara sanft und nahm ein Lätzchen vom Tablett.
„Ich will nicht essen, ich will jetzt gleich zu meiner Mutter, ich muss ihr etwas erzählen", beharrte Frau Wagner. Störrisch verzog sie das Gesicht, krampfte die Finger in ihren Rock.
Tamara spürte Ungeduld in sich aufsteigen, doch sie unterdrückte sie. Als erster Impuls hatte ihr auf der Zunge gelegen zu sagen: „Überlegen Sie doch mal, Sie sind 81 Jahre alt, Ihre Mutter ist lange tot!"
Doch die Frau war dement, das wusste sie. Sie als angehende Pflegerin musste ruhig bleiben, möglichst keinen Widerstand provozieren.
„Jetzt essen Sie erst einmal zu Mittag, dann sehen wir weiter, ja?"
„Bitte, ich will zu meiner Mutter! Ich muss zu ihr. Zu meiner Mutter!", erhob Helena Wagner nun die Stimme.
Schrill hallten ihre Worte in Tamaras Ohren nach, während die alte Dame zu schluchzen begann und Anstalten machte, sich zu erheben.
„Frau Wagner, so beruhigen Sie sich doch. Ich …“
Tamara verstummte, hatte plötzlich einen Kloß im Hals, betrachtete die sich jetzt hin und her wiegende Frau, die immer lauter zu weinen begann.
„Einen Moment, bitte. Ich kläre das. Ich bin sofort wieder zurück.“
Eilig verließ sie das Zimmer und hastete über den langen Flur. Was hatte sie nur wieder falsch gemacht?
Auf keinen Fall hatte sie die Frau so aufregen wollen. Sie hatte ihr doch gar nicht widersprochen, sie nur zum Essen bewegen, sich um sie kümmern wollen.
Sie mochte Helena Wagner, die meist so liebenswürdig war.
Endlich erreichte sie das Schwesternzimmer und trat ein.
Zum Glück war nur die nette Schwester Edeltraut anwesend, sie saß am Tisch, las und trank Kaffee. Mit knappen Worten schilderte Tamara die Situation. Die Ältere erhob sich sofort und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu Frau Wagners Zimmer. Während sie zügig über den Korridor schritten, fragte Tamara leise: „Ob ich überhaupt einmal eine so gute Pflegerin werde wie Sie?“
Edeltraut tätschelte ihr die Schulter. „Aber natürlich werden Sie das. Sie sind doch noch am Anfang, werden jeden Tag etwas dazu lernen, außerdem sind Sie den Bewohnern zugewandt, wollen ihr Bestes. Das ist die wichtigste Voraussetzung für unseren Beruf. Gerade der Umgang mit Demenzkranken ist nicht leicht.“
„Aber ich habe oft das Gefühl, mich falsch zu verhalten. Was hätte ich denn sagen können, was sie nicht so aufgebracht hätte?“
„Versuchen Sie, auf sie einzugehen. Manchmal steckt etwas ganz anderes hinter den geäußerten Wünschen, in diesem Fall dem, die Mutter zu sehen. Bestätigen Sie sie.“
An Tamaras Gesichtsausdruck erkannte die Ältere, dass diese ihre Worte nicht vollkommen verstanden hatte. Doch sie hatten das Zimmer erreicht, für lange Erklärungen war keine Zeit, und so sagte Edeltraut nur: „Frau Wagner war, wie ihr Mann einmal sagte, Zeit ihres Lebens ein Familienmensch, die ihn und ihre Kinder umsorgte ... Sie haben doch gleich Pause. Ich auch noch. Wenn Sie möchten, können wir uns gleich weiter darüber unterhalten, ja?“
Sie hob die Hand, klopfte kurz an und trat ein. Tamara folgte ihr.
Helena Wagner saß noch immer schluchzend und mit zitternden Fingern auf der Terrasse.
„Frau Wagner, Sie sind ja ganz aufgeregt!“, sagte Schwester Edeltraut in freundlichem Ton, nahm ihre Hand und stellte Blickkontakt her. „Ich verstehe, dass Sie zu Ihrer Mutter möchten. Schließlich haben Sie Ihr ganzes Leben lang gut für Ihre Familie gesorgt und sich immer gut um Ihre Lieben gekümmert.“
Weiter sprach die erfahrene Pflegerin auf die Heimbewohnerin ein, die sich sichtlich beruhigte und entspannte, dann auch von ihr füttern ließ, während sie oft nickte und sogar wieder lächelte.
Tamara, die ein paar Schritte hinter den beiden stand, bewunderte Edeltrauts sensiblen, aber bestimmten Umgang mit der Frau.
Nach dem Essen geleitete Edeltraut sie zu deren Bett, wo sich diese zu einem Mittagsschläfchen hinlegte. Mit friedlichem Gesicht schlummerte sie ein und die beiden Pflegerinnen verließen das Zimmer.
Im Schwesternzimmer setzten sie sich und Edeltraut schenkte ihnen beiden einen Kaffee ein.
„Sie mögen Frau Wagner gern, nicht wahr?", fragte die Ältere lächelnd.
„Sehr sogar, deshalb tut es mir besonders leid, dass ich sie so aufgeregt habe."
„Lassen Sie mich eine kleine Geschichte erzählen, die mir bei einem Validations-Lehrgang besonders haften blieb. Vielleicht kann man sich als Gesunder in die Lage eines Dementen etwas besser hineinversetzen, indem man sich folgende Situation vorstellt: Sie sind mit einer Reisegruppe in der Türkei auf einem riesigen Basar. Im Gewirr der Menschen verlieren Sie Ihre Gruppe. Sie bekommen Panik, denn Sie wissen: In einer halben Stunde fährt der Bus – vielleicht ohne Sie, weil Ihr Verschwinden womöglich nicht bemerkt wird.
Sie sprechen kein Türkisch und versuchen verzweifelt, sich mit Händen und Füßen durchzufragen, ob jemand Ihre Reisegruppe gesehen hat oder weiß, wo der Busparkplatz ist. Aber niemand will Ihnen helfen! Im Gegenteil! Die fremden Menschen lügen Sie an, sie sagen, dass es angeblich gar keine Reisegruppe gibt.
Oder die Leute wollen Sie aufhalten, Sie sollen mit den Fremden zu Mittag essen – erst dann dürfen Sie weitersuchen. Aber das wollen Sie auf keinen Fall. Sie müssen Ihre Gruppe jetzt und sofort finden, sonst fährt der Bus ohne Sie.
Verstehen Sie, Tami? So ähnlich fühlte sich Frau Wagner gerade. Sie musste einfach nach Hause. Zu ihrer Mutter. Das Gefühl war für sie real. Die Gefühlswelt ist bei Dementen völlig intakt, das muss man immer berücksichtigen."
Tamara nickte, sie verstand wirklich.
„Sie fühlte sich von mir hingehalten. Ich hätte sie bestätigen müssen, ohne sie anzuflunkern."
„Richtig", sagte Edeltraut und trank einen Schluck Kaffee, bevor sie fortfuhr. „Frau Wagner ist jetzt drei Jahre bei uns. Ihrem Mann, selbst Arzt, ist es damals wahnsinnig schwer gefallen, sie in unsere Einrichtung zu geben. Die beiden waren zu diesem Zeitpunkt sechzig Jahre verheiratet, ein Herz und eine Seele. Doch ihre Demenzerkrankung schritt so rapide und unaufhaltsam fort, dass er sich ihre Pflege nicht mehr zutraute. Er wirkte traurig und gebrochen, weil sie ihre Söhne und Enkel, letztendlich auch ihn immer seltener erkannte, ihn oft mit ihrem Bruder oder Vater verwechselte.“
Wieder spürte Tamara, wie sich ein Klumpen in ihrer Kehle bildete. Sie räusperte sich.
„Sie haben eben so schön getanzt, zu diesem alten Lied. Es sah so … vertraut und innig aus.“
Edeltraut nickte. „Ja, sie tanzen häufig, es tut ihnen beiden gut. Musik kann ein wichtiges Hilfsmittel sein, um Menschen mit fortgeschrittener Demenz zu erreichen. Herr Wagner weiß das, er hat mit seinen Söhnen vor zwei Jahren einen Kurs für den Umgang mit Dementen besucht."
Sie schenkte Tamara Kaffee nach. „Er trauert noch immer, dass sie sich so weit von ihm entfernt hat, doch er ist ein wahrer Kämpfer, er gibt sie nicht auf. Beschwört immer wieder gemeinsame, schöne Erinnerungen herauf, die sie für Momente einander wieder ganz nahe bringen. Manchmal nennt sie ihn Hektor ... das passt irgendwie. Das Lied, das Sie eben erwähnten, ist ihr Lied. Sie spielten es an dem Abend, an dem er sie um ihre Hand bat.“
Wie romantisch, dachte Tamara.
„Wenn doch nur alle Angehörigen sich nur halb so intensiv kümmern würden wie die Wagners.“ Edeltraut seufzte. Ihr Blick fiel auf die Wanduhr. „Oh, meine Pause ist vorüber. Aber Sie haben ja noch ein wenig Zeit.“
Sie stand auf, wandte sich an der Tür jedoch noch einmal um.
„Und, Tami, was ich vorhin sagte, meinte ich vollkommen ernst: Sie werden eine sehr gute Pflegerin werden, wenn Sie so weitermachen.“ Damit verließ Edeltraut das Zimmer.
Gedankenverloren rührte Tamara in ihrem Kaffee. Die Uhr tickte.
Irgendwie fühlte sie sich plötzlich traurig, auch einsam.
Sie horchte in sich hinein, dachte an Herrn Wagner, an seine bedingungslose Liebe und Loyalität, die vielen schönen Erinnerungen, die er und seine Frau trotz ihrer Krankheit immer noch teilen konnten.
Ihre Gedanken wanderten zu Thomas, ihrem Freund, der in letzter Zeit oft so abweisend war. Zu ihrer doch recht durchwachsenen Beziehung. Als sie sich vor fünf Jahren kennenlernten, war es der Himmel auf Erden gewesen. Aber inzwischen ...
Letztens hatte sie ihn nachts gebeten, zur Notapotheke zu fahren, weil sie so schlimme Kopfschmerzen plagten. Er hatte nur erwidert, sie solle sich nicht so anstellen. Wäre es umgekehrt gewesen, hätte sie sich sofort auf den Weg gemacht.
Sie dachte daran, dass er am Wochenende fast immer allein ausgehen wollte, sie letztes Jahr herausfand, dass er sie betrogen hatte. Er sie die schweren Einkäufe und Wasserkisten immer allein die fünf Treppen zu ihrer kleinen Wohnung hinaufschleppen ließ. Ihr schon lange nichts Nettes mehr gesagt hatte, sie kaum noch echte Gespräche führten und ihr Herz wurde ganz schwer.
Oh, wie sehr wünschte auch sie sich eine Liebe, wie Frau Wagner sie gehabt hatte.
Nein, wie diese ihr noch immer zuteil wurde ...
Entschlossen schob sie den Stuhl zurück und stand auf.
Heute Abend würde sie ein klärendes Gespräch mit Thomas zu führen versuchen, vielleicht würden sie ihre Beziehung in den Griff kriegen, sich wieder näher kommen. Das wünschte sie sich sehr und wollte ihm ehrlich zuhören, wenn er gesprächsbereit war. Aber ändern musste sich etwas.
Und auf jeden Fall wollte auch sie einen Validations-Lehrgang absolvieren, sich bei den erfahrenen Schwestern weiter etwas abschauen.
Edeltraut hat Recht. Ich will und werde eine gute Pflegerin werden, eine sehr gute sogar.
Ein kleines Lächeln stahl sich zurück auf ihr Gesicht, als sie zur Tür ging, um sich wieder an die Arbeit zu machen.
Ich werde auch noch einmal bei Frau Wagner vorbeischauen ...
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Hintergrund mit Blume: Joujou / pixelio.de Schmetterlingsflügel: Joujou / pixelio.de Tanzendes Paar: Grey59 / pixelio.de (made by susymah)
Lektorat: susymah
Tag der Veröffentlichung: 11.07.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Dank an alle, die meine Geschichte lasen und auf Platz 1 wählten und meiner lieben Susy für das wundervolle Cover! :-)