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Seit fünf Tagen habe ich nicht mehr das Haus verlassen, kaum geschlafen oder gegessen. Ein Zombie starrt mich aus dem Badspiegel an, als ich pinkeln muss. Das Warten zermürbt. Ich lasse das Telefon nicht aus den Augen.

Jetzt ist es Nachmittag, und ich habe mich selten weiter als einige Meter von der Telefonstation entfernt. Die meiste Zeit über starre ich den Hörer an wie einen angriffslustigen Skorpion, dem man nicht den Rücken zuwenden darf.  
Dennoch zucke ich zusammen, als das Schrillen endlich die Stille zerreißt.   
Sofort hebe ich ab und halte den Atem an.  
Was passieren würde, wenn nicht ER der Anrufer ist, will ich mir nicht ausmalen. Nur allzu gut erinnere ich mich an das, was folgte, als ich mich seiner Anweisung, mit niemandem, weder telefonisch noch persönlich Kontakt aufzunehmen, widersetzte. Zwar hatte ich nur meinen Arbeitgeber angerufen, um mich krankzumelden, damit ich jederzeit für IHN erreichbar war, aber nur Stunden später fand ich unseren Hund Sam im Garten und kniete minutenlang in trauriger Erschütterung vor ihm.

Nichts hatte ich gehört, nichts geahnt. Und doch steckte eine Kugel zwischen den Augen des Tieres. Kurz darauf erhielt ich auf meinem Handy eine SMS: »So viel zum Thema keine Telefonate …«

Das war das einzige Mal, dass er mir eine Nachricht geschrieben hatte. Die anderen Kontaktaufnahmen erfolgten über das Festnetz. Doch mein Handy sollte stets neben dem Telefon liegen, das hatte er ausdrücklich verlangt.

Es liegt außerhalb meiner Vorstellung, wie er es schafft, mich zu überwachen. Nach Erhalt der SMS suchte ich erst das Wohnzimmer, dann das ganze Haus akribisch nach Wanzen und Kameras ab, fand aber keine. Welche gewetzten Messer versteckt er noch in seiner Schublade?  

Nun dringt die verhasste Stimme aus dem Hörer, die paradoxerweise äußerst sympathisch klingt. Der Schwarm aller Schwiegermütter, der mit der Präzision eines Nachrichtensprechers redet. Umso heftiger schlägt der Inhalt dessen auf mich ein, was er verkündet.   

»Hören Sie gut zu, mein Freund. Ich teile Ihnen nun vier Telefonnummern mit. Notieren Sie sich jede einzelne genauestens, das rate ich Ihnen. Dann haben Sie die Qual der Wahl oder die Wahl der Qual ...«  

Aus dem Hörer dringt sein Lachen, er lacht wie der beste Kumpel, der soeben einen guten Joke gerissen hat. Bei seinen weiteren Worten strotzt er nur so vor Begeisterung und Selbstgefälligkeit.  

»Ist das nicht furchtbar spannend? Wie Russisches Roulette, nicht wahr? Aber in meinem Spiel drücken Sie nicht den Abzug. Nein, Sie geben eine der besagten Zahlenfolgen in Ihr Telefon ein. Auf zwei der Nummern habe ich Zugriff. Die anderen beiden enden im Nichts. Wie Sie merken, hat dieses Spiel so seine Tücken.«  
Er zieht mehrmals die Nase hoch, es klingt, als würde er koksen. Dann erst fährt er fort. 

»Eine der beiden richtigen Nummern zu erwischen, ist bereits eine grandiose Leistung, auch wenn für Sie persönlich vielleicht nur die eine Variante erstrebenswert ist. Allerdings habe ich mich dazu entschlossen, das Ganze noch ein wenig ... aufregender zu gestalten.«  

Wieder pausiert der Mistkerl, lässt seine Worte wirken, er lauert auf meine Reaktion. Ich kann sein Grinsen förmlich spüren. Es kriecht durch die Leitung und presst mir den Schädel und die Kiefer zusammen. Meine Augen brennen wie Säure. Herzklopfendes Schweigen. Ich warte.  

Beleidigungen sind kontraproduktiv, so sehr ich sie auch gerade benötige, um alles aus mir herauszuwürgen, was mich zu übermannen droht.

Den Fehler begehe ich nicht noch einmal . Bei seinem letzten Anruf beschimpfte ich ihn als »Arsch« und zur Strafe riss er Nina einen Fingernagel heraus. Einen, weil das Schimpfwort einsilbig war, wie er mir in der bedächtigen Art eines Oberlehrers erklärte. Und dabei wollte ich ihn zuerst als »Abartiges Stück Dreck« bezeichnen.  

Was nach dieser Ankündigung geschah, was ich hörte, zerriss mir die Eingeweide, ließ meine Seele zusammenschrumpfen. Ihr Schreien hat mich bis ins Innerste erschüttert. Ich ballte die Hände zu Fäusten und verzogh das Gesicht, als hätte er mir den physischen Schmerz zugefügt. Mein Herz war gebrochen. War es noch.

Hat er ihr in diesen letzten fünf Tagen noch mehr angetan als das? Selbstvorwürfe quälen mich.

Mit zitternden Fingern wische ich mir über das Gesicht, spüre den Schweiß, der an ihm herabperlt. Ich kann hören, wie er sich genüsslich über die Lippen leckt, seine Macht auskostet, während ich versuche, das seltsame Gefühl kraftloser Fassungslosigkeit abzuschütteln.

»Wie gesagt, nur bei den beiden korrekten Nummern werde ich abheben. Unter der einen werde ich Ihnen eine Zahl nennen, die Summe, die Ihnen Ihr Engel wert sein sollte. Das wäre ihr Glück. Denn sollten Sie die andere Nummer wählen, unter der ich zu erreichen bin, dann heißt es: Lauf, Engelchen, lauf! Sicherlich kennen Sie den Film Forrest Gump, nicht?« 
Er summt eine lustige Melodie und ich kann ein Keuchen nicht unterdrücken. Tränen stechen mir in die Augen, die ich fest zupresse, wie meine Lippen. Denn mich überkommt Brechreiz, während er mit gnadenloser Liebenswürdigkeit fortfährt: »Bei den anderen beiden Nummern springt ein Anrufbeantworter an. In diesem Falle machen Sie sich bitte nicht die Mühe, eine Nachricht zu hinterlassen.«   

Ein Klicken. Panik erfasst mich. Ich kann nicht schlucken, so verdorrt ist meine Kehle, in der ich meinen Herzschlag hämmern spüre. Das Telefon in meiner Hand zittert. Hat er aufgelegt?
Hat er nicht. Das klickende Geräusch wiederholt sich noch drei Mal in rascher Folge, damit ich es als das identifizieren kann, was es ist: Er drückt den Knopf eines Kugelschreibers. 
Sein Glucksen pikst in mein Trommelfell. Den Schluchzer, der mich schüttelt, würge ich hinunter wie ein Bündel Rasierklingen.  

»Obwohl ...«, setzt der Mistkerl wieder an. »Sollten Sie einige liebe Worte finden ... warum eigentlich nicht. Sprechen Sie drauf, Sie können mir ruhig den Nachruf für Ihre Liebste diktieren.«  

Er kichert in sich hinein, dieses Schwein. Der Kerl, nach dessen Fresse sich meine Faust verzehrt, bis ich ihn endlich in den Boden rammen kann.

Wut runterschlucken! Schrei ihn nicht an!, ermahne ich muich innerlich, reiß dich um Himmels Willen zusammen! Denn für meinen Jähzorn muss letztendlich Nina bezahlen. 

»Kommen wir zu den nicht unwichtigen Kleinigkeiten.«  

Ich glaube, eine gewisse Vorfreude herauszuhören und hebe den Daumen zum Mund, beiße mir in die Fingerkuppe. Ohne Vorwarnung beginnt er, die Telefonnummern vorzutragen. Mein Daumen poche, weil ich ihn zu ruckartig zwischen meinen Schneidezähnen hervorgerupft habe, während ich nun hektisch auf dem Schreibtisch nach einem Stift suche, den ich längst in der Hand halten sollte. Verdammt! Verdammter Schlafmangel, er mache mich fahrig und unkonzentriert.
Die ersten drei Ziffern von Nummer eins habe ich verpasst. Ich kritzele die Zahlen auf die Rückseite einer Rechnung. Er spricht zügig, aber deutlich.  

Was, wenn die erste Nummer die richtige ist? Dieser Gedanke bringt meinen Kopf fast zum Zerspringen. Wäre ich er, wäre ich dieser gottverdammte Mistkerl, dann würde ich ohne Vorwarnung beginnen, wie er es eben getan hat, und ich würde die richtige, die rettende Nummer zuallererst nennen. Dreckiger Bastard.  

»Haben Sie alles?«, fragt er scheinheilig und wartet, bis ich aus Gefälligkeit bejahe.  

»Prima. Ich erwarte Ihren Anruf in spätestens drei Minuten. Wenn Sie sich bis dahin nicht bei mir gemeldet haben, habe ich gewonnen. Also, wählen Sie mit Bedacht, mein Freund. Auf Wieder -« 

»Warten Sie!«, platzt es aus mir heraus. Wie nach einem Sprint schnaufend stütze ich mich am Tisch ab. Ich bin so schnell aufgestanden, dass ich fast das Gleichgewicht verliere, vor meinen Augen tanzen graue Punkte. Er schnalzt missbilligend mit der Zunge. 

»Das gehört sich nicht. So etwas gehört sich einfach nicht. Man lässt sein Gegenüber stets aussprechen, mein ungeduldiger Freund.«  

Ich weiß nicht, ob sich an meinem Kinn Tränen sammelen oder es das Blut aus meiner aufgebissenen Unterlippe ist. Ich kann meine Jämmerlichkeit nicht mehr im Zaum halten.  

»Tun Sie ihr nicht weh ... bitte. Was ... was passiert, wenn ich beim Anrufbeantworter lande?«, brandet meine Verzweiflung in den warmen Hörer, den ich mir fest ans Ohr presse.  
Wieder lacht der Drecksack. Ich vernehme ein rhythmisches Klatschen, als würde er sich mit der freien Hand auf seinen Oberschenkel schlagen.  

»Herrlich! Ich hatte bereits die Befürchtung, dass Sie diese wichtige Frage nicht mehr stellen würden. Was bin ich froh! Das beweist Ihr ehrliches Interesse an diesem Spiel!«, plappert er mit der Begeisterung eines Telefonverkäufers. »Nun, wenn ich persönlich nichts von Ihnen zu hören bekomme, schiebe ich dies auf Ihre nicht vorhandene Gattenliebe und werde ihr zeigen, wie ein Mann seine Frau zu lieben hat. Sie hat eine schöne weiße Haut, was für eine junge Frau heutzutage eher ungewöhnlich ist. Ich persönlich finde einen blassen Teint ... anziehend. Und wenn aus dem zarten Alabasterhals aus einem Schnitt von geübter Hand samtig-rotes Blut fließt ... Dieses letzte Öffnen des süßen Mundes, der Blick aus angstvollen Rehaugen ... dem Tode so nah ...« 
Er hat sich in Ekstase geredet, die letzten Worte gehaucht, seufzt wie ein Genießer. 
Mir ist schlecht. Nein, es ist nicht nur Übelkeit, es ist kalte, nackte Todesangst, die mit unbändigem Zorn und Ohnmacht in meinem Magen wütet.  

»Ich bitte Sie nochmals inständig, tun Sie ihr nichts! Nennen Sie mir einfach die Summe, und ich bezahle«, presse ich hervor.

»Aber, aber, das wäre doch langweilig. Dann wäre der Reiz des Spiels dahin. Die andere Variante gefällt mir besser. In der ich Ihre Liebste hinausschicken werde ... Vielleicht gibt es hier Wiesen oder einen Wald. Ein kleiner Wettlauf, nur sie und ich. Wenn sie davonspringt wie ein Reh, werde ich mit meinem Scharfschützengewehr auf sie zielen und dabei bis zehn zählen. Oder bis zwanzig? Mal sehen, ich liebe Zahlen, aber das ist Ihnen ja bekannt ... Ja, ich erwärme mich immer mehr für diese Idee. Ein Wettlauf um ihr Leben! Ohne mich über den Klee zu loben: Ich bin ein ausgezeichneter Schütze, wie Sie unschwer an Ihrem Hund erkennen konnten. Aber sie sieht sportlich aus, die Gute! Sie hätte eine Chance zu entkommen. Das ist mein Zugeständnis an Sie, mei  Lieber, weil ich Sie irgendwie mag.«  

Mir laufen die Tränen über die Wangen, tropfen von meinem Kinn. Doch dieser Psychopath ist immer noch nicht fertig.

»Denken Sie daran, falls nur der Anrufbeantworter anspringt, müssen Sie mir keine Nachricht hinterlassen, wenn Sie es nicht wollen. Und nochmals - ich verbitte mir jedwede Beleidigungen.«  

Kurzes, schwarzes Schweigen. Mir flimmert es vor den Augen. 

»Wie kann ich sicher sein, dass Sie nicht einfach sagen, ich hätte die falsche Nummer gewählt? Das ist doch alles - « 

Ich unterbreche mich gerade noch. Beinahe wäre mir etwas herausgerutscht, was ihn sicherlich wütend gemacht hätte. Ich darf ihn nicht reizen. Doch er weiß, was ich äußern wollte, und seine Stimme bebt vor unterdrücktem Zorn, wenn auch nur kurz. 

»Also, ich muss schon sagen, was für eine Unterstellung! Im Gegensatz zu Ihnen, Wertester, habe ich mich bisher strikt an unsere Absprachen gehalten. Schummeln würde Ihnen und mir doch den ganzen Spaß verderben. Ich bin ein ehrenwerter Spieler!« 

Was für ein kranker Hohn, geht es mir durch den Kopf, doch ich schweige. 

»Ist irgendetwas noch unklar?«  

Diese banale Frage zerrt mich aus dem nebligen Stacheldrahtgeflecht, in das ich gefallen bin. Bilder der Erinnerung. Ein mentales Fotoalbum. Ninas bezauberndes Lächeln, als ich sie das erste Mal ansprach. Nina in ihrem Brautkleid, so umwerfend schön. Nina, wie sie lustige Grimassen zieht beim Erzählen. 

Jetzt: Meine einst starke, liebevolle Nina irgendwo, vielleicht im Dunkeln. Verletzt. Verängstigt. Mit leeren Augen. Kein strahlendes Nina-Lächeln mehr.  

Stumme Schreie der Panik brennen in meiner Brust und der Geschmack von salziger Verzweiflung liegt auf meiner Zunge.  

Ich denke an seine Frage: Ist irgendetwas noch unklar? Ja.  

»Wieso ... tun Sie uns das an?«, flüstere ich ins Telefon, das ich mit schweißfeuchter Hand umklammere.  

»Werter Spielpartner, entscheiden Sie sich – aber rasch! Und wählen Sie richtig, damit Sie bezahlen können oder Ihr rehäugiges Frauchen die Chance auf den Wettlauf, auf die rettende Flucht, erhält. Hoppla, Sie haben bereits eine der drei Minuten verloren ... Wird es jetzt auch noch ein Wettlauf gegen die Zeit?«    

Er lacht.  

Vier Nummern. Dreimal Tod, einmal Leben. 

Denn den Wettlauf - wenn es ihn denn gibt - wird er Nina niemals gewinnen lassen. Das weiß ich.

Dann sticht mich das Freizeichen wie eine wütende Hornisse.  

Immer wieder. Ich drücke die Taste, die es abstellt.

Bitte, Gott, oh bitte, lass mich die richtige Nummer wählen. Hektisch tippe ich die Zahlen der zweiten Nummer. Es läutet. Einmal, zwei Mal, drei Mal. Ich halte den Atem an. Beim vierten Klingeln wird abgenommen. Ist es nur ein anspringender Anrufbeantworter? Ich höre ein Atmen.

»Hallo? Sind Sie das?«, wispere ich. Oder hat er sein Atmen auf dem Anrufbeantworter aufgenommen, als weitere Psycho-Schikane? Ich kann kaum noch Luft holen, spüre einen unsagbaren Druck auf der Brust. Übelkeit.

Ein leises Summen ertönt. Er intoniert die Mundharmonika-Melodie von Spiel mir das Lied vom Tod. Ist es der Dreckskerl oder ist es nur eine Aufnahme? Meine Finger umschließen den Hörer so fest, dass sie schmerzen.

»Sind Sie das? Bitte antworten Sie, bitte.« Ich verachtete mich für meinen flehenden Ton, aber ich hätte ihm auch die Füße geküsst, wenn er dafür persönlich am Apparat wäre.

»Bravo, mein Lieber. Und da Sie beim zweiten Mal höflich fragten, antworte ich.«

Pause. Mein Herz hämmert. Ich lecke mir über die trockenen Lippen.

»Ist es die Nummer für die Summe? Bitte, ich bitte Sie, nennen Sie mir die Summe. Ich kann nicht mehr. Bitte.«

Mein erbärmliches Winseln ist kaum mehr zu toppen, aber in meiner Lage existiert kein Stolz mehr.

»Ts,ts,ts« Das Schnalzen verrät seine ganze Verachtung. »Reißen Sie sich ein wenig zusammen, ja? So macht es keinen Spaß. Fragen Sie mich wie ein Mann!«

Kurz davor, loszuschreien, meine ganze Verzweiflung über diesen widerlichen Irrsinn hinauszubrüllen, schließe ich die Augen, atme lautlos ein und aus, langsam. Bis ich ein wenig Ruhe zurückerlangt habe. Ich verleihe meiner Stimme Festigkeit, hoffe ich jedenfalls.

»Welche Nummer habe ich gewählt?«

Er gluckst wieder. »Geht doch, mein Lieber. Also, was soll ich sagen? Ist schon ein großes Glück, dass Sie diese Zahlenfolge eingetippt haben. Oh ja, welch ein Glück.«

Schweigen. Meine Nerven liegen blank. Nicht ausrasten, mahne ich mich, reiße mich zum wiederholten Male am Riemen. Ich weiß nicht, wie lange das noch funktioniert. Der Kummer und der Schmerz drohen mich zu überwältigen. Und die Wut auf ihn, diesen Psychopathen, sowie auf meine Hilflosigkeit, meine Unfähigkeit, Nina zu helfen, zu retten.

Ich höre etwas durch den Hörer, dieses eindeutige Klack-Klack. Das Geräusch verursacht eine Gänsehaut, meine Nackenhaare stellen sich auf. Denn er hat gerade eine Waffe - ein Gewehr? - geladen! Nun höre ich Schritte, das Klappern seiner Absätze, als ob er sich auf einer steinernen Treppe bewegt.

»Was haben Sie vor?«, flüstere ich, während ich weiter angestrengt lausche. Ein metallener Riegel wird beiseite geschoben. Das Geräusch hallt. Er muss in einen Keller gegangen sein ... zu Nina!

Ich beiße mir in den Handknöchel, um nicht loszubrüllen. Wieder rinnen Tränen aus meinen Augen. Jetzt spricht er zu mir mit seiner säuselnden Vertreter-Stimme.

»Bevor ich da reingehe, werter Freund, noch eine Frage: Soll ich das Telefon laut stellen, damit Sie Ihrem Rehlein, meinem bezaubernden Jagdwild, noch ein sportives Toi!Toi!Toi! oder Hals und Beinbruch mit auf den Weg geben können? Sie wird gleich den Wettlauf ihres Lebens absolvieren ... «

Kein Wort, kein Ton kommt mehr über meine Lippen, gelähmt vor Entsetzen vernehme ich, wie die Tür quietschend aufgezogen wird.

»Ich nehme Ihr Schweigen als Zustimmung, also ...« Ihm entfuhr ein erstickter Laut, dann hörte ich ein Krachen. Was war da los? Hatte er geschossen? Mein Herz setzte einen Schlag aus, raste dann wie eine gefangene Ratte in meiner Brust.

»Du - wi - der - li - cher Mist - kerl!« Nina! Die Art, wie sie die Worte hervorpresste, ließ mich darauf schließen, dass sie bei jeder Silbe nach ihm trat oder schlug. Aber sie schien etwas entfernt vom Telefon zu sein.

»Nina! Liebling!«, schrie ich in den Hörer. Schöpfte ich vergebens Hoffnung? Hatte sie nur versucht, ihn abzuwehren? Hatte die Kugel sie getroffen? Lebte sie noch? Warum sagte sie nichts mehr? Stille. Bange Sekunden verstrichen, die mich quälten.

Schritte. Das Krachen des Riegels ertönte wieder. Hektisches Atmen. Aber es war ihr Atmen, das nun zu einem Schluchzen wurde. Erleichterung durchflutete mich.

»Nina! Sprich mit mir! Wo ist der Kerl?« Ich hörte an ihrer Stimme, ihrer so schmerzlich vermissten Stimme, dass sie zitterte, am Ende ihrer Kräfte war.

»Ich konnte meine Fesseln lösen ... hab' ihm die Wasserflasche auf den Kopf gehauen, als er reinkam. Er ist jetzt eingesperrt.«

Meine wunderbare, starke, unglaubliche Nina. So viele Gefühle stoben gleichzeitig in mir durcheinander, wie aufgescheuchte Fledermäuse. Erlösung. Sehnsucht. Sorge. Nach wie vor Angst. Und Liebe. Meine tiefe Liebe zu dieser Frau.

»Bist du verletzt? Hat er dir wehgetan? Er kann doch nicht da raus, oder? Wo bist du?« Ich konnte nicht anders, ich musste weinen, wie ein Kind. Nina antwortete nicht, sie weinte auch. Ich wollte zu ihr und sie fest an mich ziehen. Ihr versichern, dass alles gut werden würde.

»Geh raus da, Liebling, schnell. Sag mir, wo du bist. Ich hole dich. Und dann rufen wir die Polizei.«

Jetzt vernahm ich ihre Absätze auf den Stufen, sie stieg empor, keuchend, wie mit letzter Kraft. Dann hörte ich sie aufschreien, das Schreien wurde mit einem Mal dumpf. Presste sie sich eine Hand vor den Mund? Oder tat es jemand anders? War da noch einer? Die Panik erfasste mich erneut.

»Was ist los?«

»Ich ... ich war ...« Sie schluchzte fassungslos auf. »Ich war die ganze Zeit im Reihenhaus genau gegenüber von unserem ... von Frau Adam. Das kranke Schwein muss ihr Sohn sein ...«

Mein Atem stockte, bis mir die Luft wegblieb. Mein Rücken verkrampfte sich.

Der Soldat, einziger Sohn der alten Frau, die vor drei Wochen verstorben war. Der, von dem sie so oft erzählt hatte, der sie wegen seiner Auslandseinsätze nie besucht hatte. Der mich und meine beiden Telefone vom Haus gegenüber durch unser Terrassenfenster genau im Blick gehabt hatte. Von dort aus unseren Sam erschoss, ging es mir in Sekundenschnelle durch den Kopf. Es hätte nie einen Wettlauf über Wiesen oder durch den Wald gegeben ... Dann ließ ich das Telefon fallen und rannte los. Zu meiner Nina.

 

 

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Cover: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb November 2019, Platz 1

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