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24. November 1687, Kloster St. Magdalena, am Rande der Alpen   

Der Docht der ehemals dicken Kerze sitzt in einem Wachsklecks auf dem Boden. Die Flamme flackert ihrem Ende entgegen, taucht die bedrückende Enge in unstetes Dämmerlicht.   

Ein letztes Mal liest Mutter Agnes, was sie mit zitternden Fingern auf das Pergament geschrieben hat, sie fühlt, dass ihre Kraft schwindet. Ihre Schrift ist kaum lesbar, dabei war sie es bis vor Kurzem noch gewesen, die die Kunst des Schreibens am besten beherrschte. 

Doch seit sie die heidnische Reliquie so oft in den Händen hielt, wurden ihre Finger immer steifer, nutzloser, nahmen in den letzten Wochen gar eine dunkle Verfärbung an, als ob sie langsam verfaulten. Jede Bewegung dieser Glieder verursacht ihr nun Pein. Sie hat es mit Entsetzen, aber auch mit Demut hingenommen. Es ist ihre gerechte Strafe, denn sie hat sich einer Todsünde, der Habgier, schuldig gemacht ...

Mit einem Anflug von Hilflosigkeit lehnt sie ihre Schulter gegen die kalte Wand des Lochs, das sie vom Rest des Klosters trennt und in dem sie bald ersticken wird. Das weiß sie und betet für ihr Seelenheil. Aber noch hält sie Stand.    

Seit Stunden schon kauert sie hier in diesem Grab, in dem sie weder aufrecht stehen noch mit gestreckten Beinen sitzen kann. Es kostet sie Mühe, das Pergament wieder aufzurollen, sie greift nach dem verhüllten Gegenstand, mit dem sie hierher geflüchtet ist. Wie schwer er in ihrer Hand liegt!   

Einen Moment ringt sie mit sich, dann schlägt sie das Leinentuch auf. Furcht gepaart mit Gier steht in ihren Augen, als sie den Blick auf den alten Totenschädel senkt, aus dessen Augenhöhlen die scharf geschliffenen Facetten zweier Rubine im Kerzenlicht miteinander um die Wette funkeln. Etwas abgrundtief Böses aber auch so verführerisch Anziehendes geht von dem Schädel aus, das spürt sie umso mehr, seit sie gezwungen ist, hier in seiner Nähe auszuharren. Er glotzt sie an wie ein heimtückisches Raubtier, scheint ihr voller Bosheit zuzublinzeln, und sofort beginnt ihr Herz heftiger zu schlagen.   

So rasch ihre absterbenden Finger es vermögen wickelt sie den Schädel wieder in das Tuch, schiebt ihn von sich, wenn er auch durch die räumliche Beengtheit trotzdem viel zu nah ist.    

Um der teuflischen Macht zu entgehen, die in das Kloster St. Magdalena eingedrungen ist, hat sich Mutter Agnes, Oberin der „Gehorsamen Schwestern“, selbst hier eingekerkert. Sie hat das Eintreten dieses Moments stets gefürchtet, seit ihr voriges Jahr ein Bote des römischen Kardinals Buonacorso den Schädel zusammen mit der Nachricht über dessen schreckliches Geheimnis und dem Befehl, ihn zu verbergen, anvertraut hat.   

Niemand anderer als Ludwig XIV., Europas unumschränkter Herrscher, hatte vor zwei Jahren das Edikt von Fontainebleau unterzeichnet, in welchem er den Protestantismus untersagte, ein schwerer Schlag für die reformierte Kirche Frankreichs.  

Zeitgleich erließ der Monarch gemeinsam mit Papst Innonenz XI. den "Code Noir", ein Gesetz, dass den Katholischen Glauben in den französischen Kolonien durchsetzen sollte und die dortigen heidnischen Rituale, das Ausüben von Voodoo, verbot und ausrotten sollte, die Missachtung des Gesetzes mit Folter und Todesstrafe verfolgte.   

Ein todesmutiger Missionar hatte auf Haiti den Schädel in seinen Besitz gebracht, um den sich grausame Legenden der schwarzen Magie rankten und der dort fanatisch verehrt wurde, sollte es doch einst der Kopf eines mächtigen Voodoo-Zauberers gewesen sein. Seine Anhängerschaft tobte vor Wut, forderte ihre Reliquie zurück. Es hatte blutige Aufstände gegeben, sodass der Schädel außer Landes geschafft wurde, bis er letztendlich das Kloster St. Magdalena erreichte.  

Seitdem ist es Mutter Agnes Aufgabe, diese unheilvolle Heiden-Reliqiue für die römisch-katholische Kirche in der Abgeschiedenheit aufzubewahren und sie hat auch die weitere Anweisung des Kardinals befolgt: Sollte es geschehen, dass das Böse die Fährte des Schädels entdeckt und im Kloster auftaucht, ist es ihr Auftrag, sich mit diesem zu verstecken, ihn mit ihrem Leben zu beschützen.  

In aller Heimlichkeit traf sie deshalb Vorbereitungen und brach die versiegelte, längst in Vergessenheit geratene Zisterne im Kellergewölbe auf. Ihr Wasser bezog die Klostergemeinschaft schon seit Jahren aus dem Brunnen im Hof.

Keine ihrer Mitschwestern durfte von diesen Vorkehrungen wissen. Mutter Agnes unterlag dem Gebot des Schweigens.    

Heute war der Zeitpunkt gekommen. Sie nahm nur eine brennende Kerze, Pergament, Feder und Tinte sowie den Schädel mit, stieg in die kleine, vertrocknete Zisterne hinab, zog unter größter Kraftanstrengung die Steinplatte zu und verschloss die Fugen von innen mit Mörtel.  

Es schmerzt sie, dass sie selbst es gewesen ist, die das Böse auf die Spur des Schädels führte, doch erst zu spät ist diese Ahnung in ihr aufgekeimt und zur Erkenntnis gereift ...    

Hin und wieder befreite sie den Schädel aus seinem Versteck, um ihn zu betrachten. Es war wie eine Sucht gewesen, die immer schlimmer wurde, die Gier, ihn zu besitzen. Lange Zeit hat sie sich an das Verbot gehalten und versucht, der Verlockung zu widerstehen, zu vergessen.

Vor zehn Tagen aber hielt sie es nicht mehr aus. Abends holte sie den Schädel wieder hervor, hielt ihn im Schein des Kerzenlichts in ihren Händen, verzog angeekelt den Mund, während ihre Augen sehnsüchtig flackerten, ihr Atem sich vor Begierde beschleunigte. 

Dann jedoch unterlief ihr der verhängnisvolle Fehler, von dessen furchtbaren Auswirkungen sie keine Ahnung gehabt hatte: Sie hauchte die Steine in den Augenhöhlen zwei Mal an, polierte sie mit einem Zipfel ihres Gewandes, um ihr betörendes, erschreckendes Glitzern noch zu verstärken. Dabei schnitt sie sich an einer der goldenen Fassungen und sofort sprudelte Blut, tropfte auf die Rubine.  

Im selben Augenblick begann der Schädel zu summen und beide Steine glühten auf, als hätte sich ein Feuer in ihnen entzündet.    

Schmerzen wie Messerstiche fuhren durch ihre Finger, mit einem Aufschrei ließ Mutter Agnes den teuflischen Schädel fallen. Was hatte sie getan – was hatte sie nur angerichtet! Ihr Herz fing an, rasend zu pochen und so schnell sie es vermochte, griff sie nach dem Artefakt, wickelte es wieder in das Tuch und steckte es zurück in die geheime Mauernische. Betete voller Inbrunst.

Doch es war bereits zu spät.  

Das Böse - der Geist des Voodoo-Zauberers? -  war auf dem Weg, das spürte sie und schalt sich schwer dafür.  

Wie hat es sie hier in ihrer Abgeschiedenheit gefunden? Wie konnte es nur die alten, festungsgleichen Mauern des Klosters überwinden? Keine von ihnen hatte das Ungeheuer durch das Eichentor eingelassen.     

Mutter Agnes schaudert. Sie ringt nach Atem, kaum noch Luft ist in ihrem Gefängnis. Die sterbende Flamme im Wachsklecks ist inzwischen so klein, dass sie jeden Moment verlöschen wird und die alte Frau kämpft gegen die Bewusstlosigkeit.    

Da vernimmt sie Schritte, hält den Atem an. Lauscht. Obwohl noch entfernt, durchbrechen sie die Stille des Gewölbes, nähern sich.

Ein kalter Schauer kriecht über ihren Rücken, lässt sie die Zähne zusammenbeißen. Eine Stimme dringt vom Absatz der Treppe zu ihr in das Kellergewölbe herab, in ihr finsteres Versteck.  

„Mutter Agnes! Mutter Agnes! Wo seid Ihr? Helft mir, bitte, so helft mir doch!“   

Es ist die kindliche Stimme von Etienne, der dreizehnjährigen Novizin. Sie schluchzt.

Mutter Agnes muss einen Aufschrei unterdrücken, presst sich eine Hand vor den Mund, darf nicht antworten, auch wenn es ihr das Herz zerreißt. Das Entsetzen hält sie gefangen, als Etienne weiter klagt.  

„Wo seid Ihr, Mutter Oberin? Lasst mich zu Euch, bitte, ich habe solche Angst. Es verfolgt mich. Habt Erbarmen. Ich will nicht sterben, bitte, lasst mich nicht sterben!“    

Ihr herzerweichendes Schluchzen hallt durch das Gewölbe zu ihr in die versiegelte Zisterne, wird leiser, als sich das Mädchen von dem Versteck entfernt, Agnes' Herz klopft derart heftig, dass sie glaubt, es verrate  sie.   

Das ist nicht Etienne.

Erst an diesem Morgen hüllte sie deren sterbliche Überreste in ein Leichentuch, hob unter größten Kraftanstrengungen ein Grab in der winterharten Erde des Klosterfriedhofs aus und vertraute den zerschmetterten Körper Gottes Gnade an. Der eisige Novemberwind zerrte an ihrer Robe und ihrem Schleier, jagte kalte Böen über ihren Körper, als sie an diesem achten Grab trauerte.    

Etienne war die letzte ihrer Mitschwestern gewesen.   

Um keinen Preis darf der Schädel in die Hände dieser Ausgeburt der Hölle gelangen, die sie verfolgt, in den letzten Nächten schattengleich durch das Kloster glitt und den Gehorsamen Schwestern einer nach der anderen den Tod brachte. Deren Überreste nacheinander Tag für Tag hinter der Kapelle begraben werden mussten, seit der böse Heidengeist bei ihnen einfiel. 

Tränen laufen über Mutter Agnes Wangen. Sie schließt die Augen, hält sich die Ohren zu, kann das täuschend echte Wehklagen des Dämons nicht mehr ertragen. Lautlos bewegt sie ihre Lippen, betet zu Gott, er möge sie endlich erlösen.  

Als ob das Wesen spürt, dass sie nicht reagieren wird, lässt es die Maskierung fallen, verfällt plötzlich in einen fremdartigen, gutturalen Singsang, der sich steigert, bis er in ein tierisches Brüllen mündet, das abrupt endet.

Hinter ihren Lidern nimmt sie wahr, dass sich die Lichtverhältnisse in ihrem dunklen Versteck geändert haben und reißt die Augen wieder auf. Unter dem Leinentuch strahlen die Edelsteine mit der Helligkeit winziger, blutroter Sonnen, senden ihr Gleißen durch den Stoff, um kurz darauf wieder tiefschwarz zu werden, im Takt eines pulsierenden Herzens. Mutter Agnes vernimmt wieder das Summen.   

Er ruft seinen Meister! Das Böse darf ihn nicht finden!  

Mit zitternden Fingern nestelt sie an ihrem Schleier, bis sie es schafft, ihn abzunehmen, legt ihn über den unter dem Tuch gefangenen Schädel. Sie muss sein verräterisches Strahlen dämpfen. Hier in ihrem Verlies ist es egal, ob sie ihren Nonnenschleier trägt. Niemand wird sie mehr zu Gesicht bekommen. 

Sie hat ihre letzte Aufgabe zu erfüllen, muss das Unheil abwenden, mit allem, was in ihrer Macht steht.   

Während die Oberin sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht wischt und von Grauen erfüllt weiter horcht, ob die Stimme wieder erklingt, erinnert sie sich an die Ereignisse der letzten Tage und Nächte.

Ein gellender Schrei ließ sie nachts aufschrecken und über den Gang des Dormitoriums eilen. Kaum nahm sie die verängstigten Gesichter der Nonnen wahr, die aus ihren Zellen stürmten und sich ihr anschlossen.  

Sie pochten an Schwester Avas Tür, rüttelten daran, denn sie war verriegelt. Dahinter vernahmen sie ein dumpfes Krachen. Es klang, als würde ihr Körper durch die Zelle geschleudert, sie konnten das Schreien und Wimmern der Gepeinigten hören.  

Unter Aufbietung ihrer ganzen Kräfte versuchten die Schwestern sich Einlass zu verschaffen, doch sie vermochten es nicht, standen hilflos da. Ein letzter Klagelaut drang zu ihnen heraus, dann herrschte Stille.  

Einen Moment verharrten sie in Furcht, starrten mit angsterfüllten Augen auf die Tür, wichen zurück, als diese langsam und quietschend aufschwang.   

Etwas Kaltes, Dunkles wehte aus der Zelle, an ihnen vorbei, das spürten sie alle, und es ließ sie zusammenzucken und frösteln.

Voller Entsetzen blickten sie auf Avas Körper hinab, der in seltsamen Verrenkungen auf dem Steinboden lag. Niemand sonst war in dem Raum, aber es stank  – nach dem Atem des Bösen. 

Die Frauen jammerten, schlugen sich die Hände vor die Gesichter, bekreuzigten sich und fielen sich weinend in die Arme, denn eine dunkle Macht war unter ihnen gewesen.   

Im gleichen Moment zog erneut ein Hauch durch die Zelle, doch diesmal ging er von Avas Leichnam aus, strich grabeskalt über ihre Körper, stellte ihnen die Härchen im Nacken auf.    

Es hat sie mitgenommen!, dachte Mutter Agnes zu tiefst erschrocken, doch sie reagierte schnell.   

„Geht! Geht hinaus und holt eure Decken. Richtet eure Schlafstätten im Refektorium ein. Dort werden wir alle heute nächtigen“, befahl sie und scheuchte die hysterisch Weinenden aus der Zelle.  

Danach breitete sie das Bettlaken über den Leichnam. Sie würden Ava am nächsten Morgen für das Begräbnis herrichten – im Schutze des Tageslichts.   

Die Schwestern eilten mit ihren Decken in das Refektorium und schlugen dort ihr Nachtlager auf. Dicht gedrängt suchten die Frauen beieinander Schutz und Trost und weinten sich unter Gebeten in den Schlaf, während draußen der Wind um die Klostermauern heulte.    

Bei Tagesanbruch entdeckten sie Schwester Luitgard. Mit hervorquellenden Augen lag sie erkaltet zwischen den warmen Leibern der Nonnen, blickte sie in anklagender Starre an.

Außer Mutter Agnes brachen alle in Verzweiflung aus, flehten um Gottes Schutz und Gnade, durften sie doch nicht fliehen, denn ihr Gelübde fesselte sie an diesen Ort, der verdammt zu sein schien.    

In der folgenden Nacht nahm der Geist Kontakt zu Mutter Agnes auf. Sein leises Zischen ließ sie aus dem Schlaf hochfahren, eine körperlose Stimme dicht an ihrem Ohr: „Wo ist er?“  

Die Oberin konnte sich nicht bewegen, ihr Herz raste, sie zog den Kopf zwischen die Schultern und sah sich mit weit aufgerissenen Augen um, doch da war niemand! Sie war allein umgeben von den schlafenden Mitschwestern. Schwester Amalias Kopf ruhte auf ihrer Schulter, sie spürte ihre Wärme, hörte deren leisen Atemzüge.   

Mutter Agnes schien die einzige zu sein, die die unheimliche Stimme vernahm.    

Sie presste die Augen zu und krallte ihre Finger in die Decke, als die Stimme raunte: „Gib ihn mir.“   

Ein eisiger, übelriechender Hauch strich über ihre Wange und ließ die Oberin sich noch mehr verkrampfen.  

Geh! Weiche, Dämon! Hebe Dich hinfort im Namen des Herrn!  

Obgleich sie es nur voller Inbrunst dachte, erklang zeitgleich sein böses Lachen in ihren Gedanken, es verursachte ihr Schmerzen. 

„Weib, mach Dich nicht zur Närrin! Willst Du Deine Schwestern retten? Was bedeutet er Dir schon? Ist er mehr wert als das Leben der Dir anvertrauten Frauen?“    

Sie schluchzte leise auf und zog sich die Decke über den Kopf, begann, das Vaterunser zu beten, um die Stimme aus ihrem Geist zu vertreiben. 

Durch die grobe Wolle drang ein Fauchen, so bösartig und wütend, dass ihr Atem kurz aussetzte. Der bestialische Gestank des Dämons breitete sich aus und zog unter die Decke.

Schwester Amalia stöhnte. Zeitgleich spürte Mutter Agnes, wie die Nonne an ihrer Seite zu zittern begann, immer heftiger, bis es sie wie ein Fieberkrampf nur noch schüttelte. 

Die Oberin schlug die Decke zurück und starrte auf den zuckenden Leib, in die verdrehten Augen, in denen nur noch das Weiße zu sehen war, die wild verzerrten Züge. 

Er ist in ihr!, durchfuhr es sie.   

Ein letztes Mal erbebte die junge Schwester, bog weit den Rücken durch, die Finger verkrampft, dann ertönte ein widerliches Knacken und der Leib brach zusammen, während der Kopf in einem unnatürlichen Winkel ab stand.    

Stumme Tränen liefen Mutter Agnes über die Wangen, sie flehte Gott um Stärke und Willenskraft an, und darum, sie ihren Glauben nicht verlieren zu lassen. Aber allen Rosenkranzgebeten zum Trotz ging das Morden Nacht für Nacht weiter.    

Schwester Leonor wurde immer wieder von Schreikrämpfen und Anfällen von Wahnsinn geschüttelt. Die anderen, selbst zutiefst verängstigt, konnten sie kaum beruhigen.    

„Ich habe von einem dunklen Totenschädel geträumt, das Böse will ihn! Wo ist er?“    

Mutter Agnes erschrak. Es nahm auch Kontakt zu den Schwestern auf, schlich sich in deren Gedanken ein! 

Harsch wies sie Schwester Leonor zurecht, keinen Unfug zu erzählen, es sei nur ein Traum gewesen.

Doch innerlich zitterte sie und schämte sich für die Lüge. Schwester Leonor gab erst Ruhe, als ein schreckliches Fieber, begleitet von einem entstellenden Ausschlag, sie von einem Tag auf den anderen dahinraffte.    

Die verbliebenen Nonnen bedrängten die Oberin immer wieder mit der Frage, warum gerade ihr Orden, der so gottesfürchtig war, derart heimgesucht wurde. 

Mutter Agnes schwieg schweren Herzens, sie musste gehorsam sein. Verkündete den ihr anvertrauten Frauen nur, dass ihr aller Leben in Gottes Hand läge.    

An diesem Nachmittag nun begrub sie die jüngste Novizin, Etienne, betete für ihre Seele.

Von deren Grab eilte sie umgehend in das Kellergewölbe und verbarg sich in der Zisterne, die sie mit letzter Kraft verschloss.  

 

Es roch nach Moder und dem noch feuchtem Mörtel, als Mutter Agnes im Licht der Kerze ihre letzten Worte auf das Pergament schrieb: 

„In diesen heiligen Mauern hat das Böse gewütet, ein Wesen aus der Hölle. Es begehrt den Schädel eines mächtigen Voodoo-Zauberers aus den fernen Kolonien. Behütet diese Reliquie des Bösen und verbergt sie gut! Sie darf dem Gesichtslosen nicht in die Hände fallen. Finder, sei auf der Hut, übergebt den Schädel Vertretern der römisch-katholischen Kirche in Rom, auf das sie ein neues, sichereres Versteck für ihn finden. Gott sei meiner Seele gnädig. Agnes von Brabant, Oberin der Gehorsamen Schwestern, Kloster St. Magdalena, im Jahre des Herrn 1687.“

Voller Trauer denkt Mutter Agnes an Etienne, deren besessener Leib gerade zu ihr sprach. Dieses Mädchen war ihr die Liebste von allen gewesen, ein zartes Kind mit reinem Herzen. Und die alte Frau erinnert sich an die vergangene Nacht …  

Da der Dämon sie stets nachts heimsuchte, verschanzte sie sich mit der Novizin im Glockenturm, als der Abend hereinbrach. Das Mädchen verkroch sich völlig verängstigt in eine Ecke und weinte leise.    

Mitten in der Nacht drang etwas wie ein Trommeln aus der Ferne zu ihnen herauf. Zuerst hielt Mutter Agnes es für ihren eigenen, viel zu raschen Herzschlag, dann für etwas, dass im Nachtwind hin und her schwang.  Doch musste sie feststellen, dass es wirklich ein Trommeln war, das hier in der Abgeschiedenheit von den uralten Steinwänden widerhallte, zum Turm aufstieg, durch das Geäst der Bäume in den schwarzen Himmel empor.

Es wurde immer wilder und schneller, bis es abrupt aufhörte.  

Anstelle dessen erklangen nun ein Grollen, dann  fremdartige Klacklaute vom Hof.  

Mutter Agnes trat an die Brüstung, der nächtliche Wind zupfte an ihrem Schleier, während sie auf die frostigen Gräber hinabblickte. Erstarrte. Denn sie glaubte, dort einen schwarzen Schatten auszumachen, der immer wieder mit der Dunkelheit der Nacht verschmolz.

Der Wind verstärkte sich, fegte über den kleinen Friedhof, peitschte die Äste der Trauerweiden hin und her, wirbelte gefrorene Erdbrocken von den Gräbern durch die Luft.    

Was war das … 

Mutter Agnes' Herz wurde zu Eis, sie schlug sich die Hand vor den Mund, aber sie konnte den Blick nicht abwenden.

Die Angst drückte ihr die Kehle zu, und ihr war, als husche eine Schar langbeiniger Spinnen über ihren Rücken: Die Erdwälle der Grabstellen lagen nicht mehr still da. Sie waren in Bewegung geraten, als wollte etwas von unten empor stoßen!   

Und die Oberin spürte, wenngleich sie es in der Finsternis nicht sehen konnte: Das schattenhafte Wesen blickte zu ihr empor. Da - als es in das Mondlicht glitt, glaubte sie einen Moment lang, ein zähnefletschendes Grinsen in ihre Richtung wahrzunehmen, ehe der Schemen in der Finsternis des Kreuzgangs verschwand.  

Oh Mutter Gottes und Jesu Christ! Er ruft sie zu sich!  

Sie umklammerte die kalten Steine der Brüstung, schloss die Augen, wollte nicht sehen, was sich dort unten aus den Gräbern herauswühlte, erschauerte erneut, bekreuzigte sich. Eilte zu der zitternden Etienne, die noch immer in der Ecke kauerte, drückte das Mädchen fest an sich und wiegte sie wie ein kleines Kind in ihren Armen. 

Herr im Himmel, steh' uns bei!  

Doch sie vermochte Etienne nicht zu retten, die plötzlich wie eine Furie zu kreischen begann, sich die Hände auf den Ohren presste, ihren Körper in den Armen der Oberin wie eine Schlange hin und her wand. Ihr Schreien steigerte sich zu einem Crescendo, bevor sie sich endlich aus Mutters Agnes festem Griff befreite, auf die Brüstung zu stolperte und sich in die Tiefe hinab stürzte.

 

Die Kerzenflamme erlischt. Finsternis umfängt sie. Gleich wird es vorbei sein.

Die Luft ist inzwischen so dünn, dass ihr schon ganz schwindelig ist. Sie lehnt sich zurück, kann ihr belastetes Gewissen und die tiefe Trauer nicht mehr ertragen. Schluchzer wollen ihren Körper schütteln, doch sie erlaubt keinem Ton, ihn zu verlassen, atmet ganz flach.    

Ein Geräusch lässt sie hochschrecken, horchen.  

Das Böse sucht weiter nach ihr. Nach dem Schädel.   

Sie kann etwas wie ein Kratzen vernehmen, als ob jemand scharfe Fingernägel über die Wand des Kellergewölbes zieht, während er an ihr entlangläuft. Gedämpft hört sie wieder Etiennes zarte Stimme, sie nähert sich beim Sprechen.

„Mutter Agnes, wo seid Ihr? Kommt heraus. Nehmt mich doch bitte wieder in den Arm.“   

Die Novizin kichert leise. Es ist ein boshafter Laut, der aus der Kehle des ehemals unschuldigen Kindes dringt und erschüttert die Oberin mehr als das Weinen von vorhin.  

Wie ein Eiszapfen bohrt sich die Furcht in ihren Magen, presst mit eisiger Faust ihr Herz zusammen, als sie weitere Stimmen vernimmt, sie wispern in einer fremden, heidnischen Sprache, gesellen sich hinzu.

Es sind die anderen Schwestern, sie schwirren wie Fledermäuse durch das Kellergewölbe. Beschwörendes Flüstern. Sie zischen leise ihren Namen. Rufen und locken sie.  

Neben Etiennes Nägeln hört sie nun noch weitere über die Wand und den steinernen Boden kratzen. 

Das Grauen, das Mutter Agnes empfindet, treibt sie an den Rand des Wahnsinns. Den Impuls unterdrückend, aufzuschreien, in irres Gelächter auszubrechen, legt sie sich die Hände auf die  Augen und hält den Atem an.   

Sie dürfen mich nicht finden! Oh, Herr, lass sie mich nicht finden!  

Das Kratzen wird zu einem rhythmischen Klatschen von acht Paar Händen auf Stein, es steigert sich in Kraft und Lautstärke, bis sie gleichzeitig aufhören und wieder auf allen Vieren herumkriechen, auch über ihr Versteck, witternd wie Tiere.   

Dann verstummen die Geräusche plötzlich. Kurze, herzklopfende Stille.   

Über der Zisterne vernimmt Mutter Agnes ein vielstimmiges Knurren und Fauchen. Zähne knallen aufeinander, als schnappten sie nach ihr wie ein geiferndes Wolfsrudel. Sie sind direkt über ihr.    

„Ich weiß, dass Du da bist. Ich kann Dich spüren.“ Schwester Ava.   

Wieder grollen die toten Schwestern, spucken und zischen ihre ganzen Zorn heraus, um kurz darauf wieder zu verstummen.

Mutter Agnes hört jetzt Schwester Luitgard, die mit hassverzerrter Stimme ins Kellergewölbe brüllt: „Hörst Du mich, altes Miststück? Ich weiß, dass Du hier bist!“    

Sie unterdrückt ein Wimmern, erlaubt sich nicht, Atem zu holen, obwohl ihre Lunge furchtbar schmerzt, fast zu platzen droht, ihr Leib von Qual erfüllt nach Luft verlangt.   

Das ist nicht wahr. Das Böse weiß nicht, wo ich bin. Warum sollte es mich sonst rufen und einschüchtern?   

Die alte Frau krümmt sich auf dem Boden zusammen, bedeckt den summenden Schädel, der nun wie ein Höllenfeuer unter den Tüchern glüht, mit ihrem Leib. Fühlt sich so unsagbar alt und schwach.    

Er darf uns nicht verraten.  

Sie muss nur still bleiben, den Atem anhalten. Den Schädel nicht sprechen lassen.  

Weiter suchen die untoten Schwestern nach ihr, kratzen, schnüffeln, locken und drohen. Kriechen umher, an den Wänden und unter der Decke entlang.   

Sie spüren den Schädel des Meisters, er ist in ihrer Nähe, so greifbar! Ihr Zorn wird rasender.   

Doch Mutter Agnes hört sie nicht mehr.   

Gott hat sie endlich zu sich geholt.

 

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Cover by susymah, unter Verwendung folgender Quellen: Feuer: Rolf van Melis / pixelio.de Kreuze: Petra Dirscherl / pixelio.de Schädel: A.Dreher / pixelio.de Rubine: Ich / pixelio.de
Tag der Veröffentlichung: 01.07.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Geschichte wurde zum Juni-Wettbewerb der thrilling stories zum Thema "Voodoo" verfasst und erreichte gemeinsam mit webmaus' Beitrag Platz 1. :-) Vielen Dank an meine liebe Susy, die mir wieder ein wundervolles Cover gestaltet hat!

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