Wie verloren sie aussieht.
Durch die Glasscheibe betrachtete Susanne Schäfer das etwa sechsjährige Mädchen im Jeanskleid, das dort draußen im Wartebereich des Flures saß, die Hände im Schoß. Es war so klein, dass seine Füße nicht einmal den Linoleumboden berührten, ganz ruhig hingen die Beine herab, als wäre das Kind eine Puppe. Es machte keinen ungepflegten oder unterernährten Eindruck, ganz im Gegenteil.
Was mag dir nur widerfahren sein? Hoffentlich werden deine Eltern bald gefunden …
Ein Paar, das am späten Nachmittag mit seinem Hund im Stadtpark spazieren ging, war auf das Kind aufmerksam geworden, das scheinbar allein durch die Anlage irrte. Es hatte keine Fragen beantwortet, kein Wort gesprochen. Die älteren Leute hatten vergebens den Park nach den Eltern abgesucht.
Als Oliver Hahn neben ihr die Stimme erhob, löste Susanne die Augen von dem Kind und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kollegen zu. Er telefonierte gerade mit der Pflegefamilie, die das Mädchen – voraussichtlich nur für das bevorstehende Wochenende – bei sich aufnehmen sollte.
„Wie ich sagte, ein Ehepaar hat das Mädchen allein aufgegriffen, zur nächsten Polizeiwache gebracht und die haben sie bei uns abgeliefert. Es ist unverletzt, doch es spricht nicht, hat uns nur seinen Vornamen nennen können. Es heißt Lilli … Nein, es scheint nicht traumatisiert, soweit der Arzt das feststellen konnte …“ Er hielt kurz inne.
Derartig still war es in dem Büro des Jugendamtes, dass Susanne die weibliche Stimme aus dem Hörer quäken hören konnte, bevor Oliver wieder sprach.
„Ja, das ist sehr kurzfristig, das wissen wir, aber Sie würden uns einen großen Gefallen tun.“
Noch einmal lauschte Oliver aufmerksam, dann erschien ein zufriedener Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Danke, Frau Hartmann. Wir sind in etwa einer halben Stunde bei Ihnen.“ Er legte auf.
„Die Hartmanns nehmen das Mädchen übers Wochenende auf. Erzähl' du ihm, wo wir es hinbringen, ich mache hier klar Schiff, und dann los.“
Sich vom Stuhl erhebend griff er nach seiner Jacke, hatte es nun eilig. Seine Familie wartete zu Hause auf ihn, er wollte endlich ins wohlverdiente Wochenende.
Über Susannes Züge huschte ein besorgter Schatten, doch sie riss sich zusammen und stand ebenfalls auf. Ihr Kollege hatte Recht. Es war schon spät, sie beide hatten längst Feierabend und das Mädchen musste irgendwo unterkommen, bis die Polizei seine Eltern oder Verwandte gefunden hatte.
Während Oliver den PC hinunterfuhr und die Akten wegräumte, lief sie zum Wartebereich, setzte ein zuversichtliches Lächeln auf, das sie nicht empfand, denn in ihrem Inneren sträubte sich alles.
Familie Hartmann, die schon des Öfteren Kinder vom Jugendamt für gewisse Zeiträume zugewiesen bekommen hatte, war ihr - aus für sie selbst unerklärlichen Gründen – suspekt.
Bevor sie als Pflegefamilie anerkannt und eingesetzt worden waren, hatte das Ehepaar einen Lehrgang absolviert und war auf Herz und Nieren geprüft worden. Alles war in Ordnung mit ihnen, laut der Unterlagen. Vor einem Jahr war ein Pflegekind bei ihnen verunfallt und ins Krankenhaus eingeliefert worden, doch konnte keine Aufsichtspflichtverletzung nachgewiesen oder ein sonstiger Vorwurf gegen die Hartmanns erhoben werden, und so verblieben sie in der Kartei.
Aber irgendetwas hatten das Ehepaar und seine drei leiblichen Kinder an sich, das Susanne abstieß, und es wäre ihr lieber, jemand anderes würde die kleine Lilli bei sich aufnehmen. Doch die Hartmanns waren momentan die einzigen, die zur Verfügung standen.
Nun ging Susanne vor dem zierlichen Mädchen mit dem braunen Haar, das noch immer still auf dem Plastikstuhl saß, in die Hocke, sodass sie auf Augenhöhe waren.
„So, Lilli, wir werden dich jetzt zu einer ganz netten Familie bringen, die auf dich aufpassen wird, bis man deine Eltern gefunden hat.“ Sie zögerte einen Moment, um dann zu fragen: „Kannst du mir wirklich nichts über deine Mama, deinen Papa sagen? Wie sie heißen? Wo ihr wohnt?“
Lilli blickte sie aus großen, blauen Augen an, schüttelte kaum merklich den Kopf und Susanne seufzte innerlich.
„Darf ich dich an die Hand nehmen?“, fragte sie, als Oliver neben sie trat.
Das Kind erhob sich, schob seine kleine, warme Hand in Susannes und sie verließen das Gebäude.
Draußen dämmerte es bereits, als sie zum Haus der Hartmanns fuhren, die einige Kilometer außerhalb der Stadt wohnten.
Susanne warf einen Blick in den Innenspiegel, beobachtete das Mädchen, das auf dem Rücksitz aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft starrte.
Innerlich seufzte sie wieder auf, als sie an Lillis bisher noch im Dunkeln liegendes Schicksal dachte.
Warum redete sie nicht? Sie hatte weder mit einem der sie umringenden Menschen im Park noch mit den hinzugerufenen Polizisten gesprochen, die ihr immer wieder dieselben Fragen gestellt hatten. Nach der ärztlichen Untersuchung, laut deren Befund das Kind - zumindest körperlich - keinerlei Verletzungen aufwies, hatten die Beamten es zu ihnen aufs Jugendamt gebracht, wo sich vor allem Susanne seiner angenommen hatte. Irgendwann hatte das Mädchen nur seinen Namen gewispert.
„Du heißt Lilli?", hatte sie nachgehakt und das Kind hatte sacht genickt, aber seitdem keine mehr Frage beantwortet.
Erneut musterte sie das Mädchen im Spiegel. Arme Maus ... , dachte sie, um sich im gleichen Moment zu schelten. Sie war viel zu weich für diesen Job beim Jugendamt, in dem man tagtäglich mit Gewalt, Leid, verletzten Kinderseelen und den Abgründen menschlichen Handelns zu tun hatte.
Sie erreichten das Heim der Hartmanns, inzwischen war es dunkel geworden. Der schlichte, grau gestrichene Bungalow war gepflegt, wie sie im Schein der Straßenlaterne erkennen konnte. Auch der hauptsächlich mit Lebensbäumen bepflanzte Garten war in Ordnung gehalten, doch irgendwie hing ein Hauch von Düsterkeit und Kälte über der Szenerie, den auch die bunten, in der Einfahrt lehnenden Kinderfahrräder nicht auflockern konnten, hinter denen sie den Wagen parkte. Die Lampe, die neben dem Eingang brannte, verbreitete kaum Helligkeit, gerade genug, um das verwitterte "Herzlich Willkommen"-Schild an der Haustür zu beleuchten. Doch verspürte Susanne in keinster Weise die Aussage auf dem fröhlichen Holzschild, stattdessen lief ihr ein Schauer über den Rücken.
Was ist nur los mit mir?
Als ihr Kollege ausstieg, um zu läuten, drehte sie sich zu dem Mädchen um, schaute ihm fest in die Augen. „Wir sind da. Alles wird gut."
Unverändert in seinem starren Ausdruck war das Gesicht des Kindes, doch Susanne glaubte, eine gewisse Furcht und Anspannung hinter der Fassade wahrzunehmen.
„Die Hartmanns haben selbst drei Kinder, nur wenig älter als du. Du wirst gut bei ihnen aufgehoben sein."
Lilli blickte sie nach wie vor unverwandt an, mit ihren riesigen, blauen Teichen von Augen, und Susanne hoffte, dass ihre aufmunternden Worte und die zuversichtliche Miene, die sie aufgesetzt hatte, das Kind überzeugten. In ihrem Inneren jedoch tobten ganz andere Gefühle.
Nein, du kannst sie dort nicht abgeben ... Sie kam sich wie eine Verräterin vor, als ob sie dieses kleine, hilflose Wesen an einen ganz fürchterlichen Ort abschieben und sich selbst überlassen würde ... Es wurde heller im Auto, jemand hatte Licht im Flur gemacht und die Haustür geöffnet.
Dort stand Frau Hartmann, eine große, schwere Blondine, neben der ihre drei Kinder auftauchten und die Hälse reckten, um zu sehen, wer im Auto saß.
Susanne hörte ihren Kollegen die Frau begrüßen und mit ihr sprechen, legte bereits eine Hand auf den Türgriff, als sie ein glöckchenhelles Flüstern vernahm, leise wie ein Hauch. „Alles wird gut ..."
Abrupt wandte Susanne den Kopf zur Rückbank, blickte das Mädchen an.
„Was hast du gesagt?", fragte sie hoffnungsvoll. Vielleicht war ihm doch noch etwas zu entlocken!
Doch Lilli blieb stumm, unbewegt ihr Gesicht, und Susanne zweifelte an ihrer Wahrnehmung.
Ich habe es mir wohl nur eingebildet.
Trotzdem begann ihr Herz stark zu klopfen.
„Es wird dir gutgehen bei dieser Familie", sagte sie, um das Kind und auch sich selbst zu beruhigen.
In dem Moment pochte Oliver mit dem Fingerknöchel an die Seitenscheibe, er wunderte sich wohl, warum sie nicht ausstiegen. Einer inneren Eingebung folgend drückte sie dem Mädchen zart die Hand.
„Ich werde morgen anrufen und dich fragen, wie's dir geht, ja?"
Dann stieg sie aus und öffnete die hintere Tür, durch die Lilli langsam herausglitt, um sich dicht neben sie zu stellen.
„Hallo Lilli, ich bin Barbara Hartmann. Wir wollen gerade Abendbrot essen. Komm rein, dann können wir uns kennenlernen."
Obwohl die große Frau lächelte, klangen ihre Worte in Susannes Ohren falsch und ihr war, als ob die verzogenen Lippen zu viele Zähne enthüllten. Frau Hartmann streckte dem Kind ihre Hand entgegen.
Lilli schien dasselbe zu empfinden wie Susanne, an die sie sich noch näher drängte, denn sie bewegte sich nicht vom Fleck. Die Augen der drei Kinder, die abwartend neben ihrer Mutter standen, glitzerten im Halbdunkel.
„Nun geh, Lilli", drängte Oliver sanft.
Spürt Olli es nicht?, schrie sich Susanne innerlich an.
Reiß dich zusammen!, hielt eine zweite Stimme dagegen. Es ist nur für ein, zwei Tage, dem Mädchen wird nichts passieren. Du bist nur müde, überdreht.
„Na, nun komm herein", forderte Frau Hartmann Lilli freundlich auf und beugte sich ihr entgegen. Susanne unterdrückte den Impuls, sich vor das Kind zu stellen, schob es stattdessen sanft in Richtung Haustür, wo Frau Hartmann sofort seine Hand ergriff.
„Danke, Frau Hartmann", sagte Oliver, wandte sich zum Auto, und seine Kollegin hob, unfähig zu sprechen, nur eine Hand. Sie glaubte, im Gesicht der Kleinen einen traurigen Vorwurf zu sehen, es riss ihr eine tiefe Wunde ins Herz. Die Haustür fiel mit einem endgültig klingenden Geräusch zu. Endlich wandte sich auch Susanne ab, stieg zu ihrem Kollegen ins Auto und einen Augenblick später fuhren sie davon, zurück zu den hellen Lichtern der Stadt.
Kaum war die Haustür geschlossen, ließ Frau Hartmann Lillis Hand los, ihr Lächeln erstarb, auch ihr zugewandter Tonfall wurde sachlicher.
„Zieh deine Schuhe aus, häng' deine Jacke auf, und dann Hände waschen."
Sie wies mit der Hand auf eine Tür. „Da ist das Klo. Den Rest zeigen wir dir nach dem Essen."
Damit watschelte sie in Richtung Küche.
Während Lilli sich auf den Boden setzte, um ihre Schuhe auszuziehen, rückten die Hartmann-Kinder näher, ein seltsames Funkeln in den Augen, als ob sie ein langerwartetes Geschenk unter die Lupe nahmen. Doch ihre Gesichter sahen nicht freundlich aus. Nun hatten sie das Mädchen umringt, das furchtsam zu den Älteren hinaufsah.
„Wir werden viel Spaß zusammen haben", sprach der zehnjährige Daimon, und seine Mundwinkel zuckten.
„Ja, nach dem Essen kann der Spaß beginnen", fügte seine Schwester Mallory hinzu, die Älteste der Geschwister. Kevin, der Jüngste, begann glucksend zu kichern und trat Lilli leicht an den Fuß, die zusammenzuckte. Obwohl es nicht wehgetan hatte, war es eine bedrohliche Geste gewesen und sie senkte ihren Blick, wagte nicht, sich zu bewegen.
„Wo bleibt ihr denn! Das Essen steht auf dem Tisch!", rief es aus der Küche und die drei Geschwister strebten sofort dem Duft nach Auflauf entgegen. Auch Lilli erhob sich endlich und folgte ihnen, mit zögerlichen Schritten.
Beim Essen stellte Frau Hartmann sich und ihre Kinder vor, stellte aber keine Fragen. Wieder zerschnitt ein breites, zahnreiches Lächeln ihr Gesicht, als sie sagte: „Es ist nicht schlimm, dass du nicht redest. Dann ist wenigstens nicht noch mehr Lärm im Haus." Sie begann den Tisch abzuräumen. „Jetzt macht euch bettfertig. Lilli, du wirst bei Mallory auf dem Sofa schlafen. Sie gibt dir ein Nachthemd und eine Zahnbürste. Bevor Papa nach Hause kommt, will ich hier aufgeräumt haben und ihr seid im Bett, verstanden?"
Die Kinder begaben sich folgsam nach oben. Im Flur hatte Mallory Lillis Handgelenk gepackt und schleifte sie nun recht unsanft mit sich die Treppe hinauf. Wieselflink verschwanden die Jungen in ihren Kinderzimmern, während die ältere Schwester Lilli in ihr eigenes Zimmer zerrte und dort auf die zum Bett umgebaute Couch schubste.
„Zieh dich schnell um. Mama wird böse, wenn man ihr nicht sofort gehorcht."
Im Schein der Nachttischlampe glänzten die Augen des älteren Mädchens wie die eines lauernden Marders, als sie rasch in ihr in Nachthemd schlüpfte. Ständig fixierte sie die Jüngere, ihre Oberlippe wie Lefzen leicht angehoben.
Mit bebenden Fingern zog sich auch Lilli um und folgte Mallory dann ins Bad, wo sich die Jungen gerade die Zähne putzten. Ihre Schwester entnahm einem Schränkchen eine Zahnbürste und schälte sie aus der Plastikverpackung, hielt sie Lilli hin, die ihre Hand danach ausstreckte. Die Jungen hielten in ihren Putzbewegungen inne und beobachteten, wie Mallory die Zahnbürste wieder aus Lillis Reichweite zog. Kevin gluckste wieder in sich hinein.
„So einfach machen wir's dir nicht, Schätzchen", zischte sie bösartig.
Schnell wie ein herabstoßender Falke schoss ihre Hand in die Toilettenschüssel, um dann ganz langsam und genüsslich die Zahnbürste am inneren Rand entlang zu ziehen, während ihre Brüder dreckig zu kichern begannen. Als sie die Bürste wieder hervorzog, waren die Borsten schmutzig grau, und Mallory drückte ein wenig Zahnpasta darauf.
„Bitte sehr, lass es dir schmecken", stieß sie mit vor Hohn triefender Stimme hervor. Ihren Worten folgend entwich ein seltsamer Klacklaut aus Mallorys Mund, auf den hin die Jungen augenblicklich Lillis Arme packten und sie eisern umklammert hielten, während ihre Schwester dem Mädchen die Zahnbürste in den Mund rammte.
Es riss die Augen auf, ein Stöhnen entwich dem Hals, der zu einem Schrei werden wollte, doch Daimon boxte Lilli so heftig in den Magen, dass ihr der Atem wegblieb.
Auf der Treppe waren schwere, knarzende Schritte zu vernehmen. Sofort ließen die Brüder das heftig atmende Mädchen los, das zu Boden sackte, die Zahnbürste fiel klappernd auf die Fliesen. Mallory packte in Lillis Haar und zog sie daran wieder auf die Füße, brachte ihr zu einer gemeinen Fratze verzerrtes Gesicht direkt vor das der Jüngeren. „Ein Wort davon und du bist tot, kapiert?"
Lilli blieb stumm, ihr Blick huschte zwischen den bedrohlichen Gesichtern der Kinder hin und her.
Mallory versetzte ihr einen Stoß in Richtung der Tür und gab erneut diesen fremdartigen Laut von sich, der wie ein Befehl wirkte. Sofort wandten sich auch die Jungen ab und alle verließen das Bad.
Im Flur stand Frau Hartmann, die Arme in die Hüften gestützt und ließ ihre Augen über die vor ihr stehenden Kinder schweifen.
„Euer Vater ist da. Wir werden heute Abend ausgehen. Hier bleibt alles ruhig, klar?" Sie tippte Lilli mit ihrem fleischigen Zeigefinger vor die Brust, bis diese den Blick erhob. „Dass wir abends weg waren, brauchen die Leute vom Jugendamt nicht zu wissen ..."
Als keine Reaktion erfolgte, beugte sich die Frau so weit herunter, dass Lilli ihren Zwiebelatem riechen konnte. „Hast du das verstanden?", knurrte sie etwas lauter und richtete sich erst wieder auf, als ihr Gast nickte.
„Gute Nacht!", herrschte Frau Hartmann die Kinder an und augenblicklich verschwanden alle in den Zimmern, wobei Mallory Lilli wieder mit sich zog.
Kaum war kurze Zeit später die Haustür ins Schloss gefallen und der Wagen der Hartmanns davon gefahren, da platzten bereits die beiden Jungen in Mallorys Zimmer.
Lilli saß mit angewinkelten Beinen auf der Couch, presste fest ihren Rücken an die Wand. Sie musterte die Kinder, die sich langsam auf sie zubewegten, wie Raubtiere, die ihre Beute einkreisten. Ganz unverhohlen strahlte nun der Sadismus aus ihren Zügen, die Gier danach, jemandem weh zu tun, ihn bis aufs Blut zu peinigen. Daimon ließ eine Faust in Handfläche krachen.
„Ich will diesmal anfangen."
„Pass auf, dass du sie nur dort triffst, wo man es später nicht sieht", erinnerte ihn Mallory in fröhlichem Ton und zog sich mit Kevin auf ihr Bett zurück, das der Couch gegenüber stand. Ungerührt begannen die Geschwister, in eine knisternde Chipstüte zu greifen und geräuschvoll zu essen, als ob sie in einem Kinosaal säßen.
„Hau ordentlich drauf, ich will sie schreien hören", krächzte Kevin mit vollem Mund.
Lilli wandte sich ab von ihnen, krümmte ihren Rücken und hob einen Arm über den Kopf, drückte sich noch fester an die Wand, als Daimon mit erhobenen Fäusten auf sie zuschritt.
Als der erste Schlag auf ihren Kopf krachte, begann plötzlich das Licht der Deckenlampe zu flackern, dann erlosch es. Im selben Moment, in dem sich Dunkelheit über den Raum legte, flog Daimons Körper vor die Füße seiner Geschwister.
Kevin hielt im Kauen inne. „Warum ist das Licht aus?"
Das Zimmer wurde nur noch vom schummerigen Schein der Straßenlaterne erhellt. Doch Mallory ignorierte seine Frage und sprang auf.
„Du Opfer!", keifte sie Daimon an. „Du wirst dich doch wohl von so einem Baby nicht fertigmachen lassen!"
Mit zwei Schritten war sie beim Sofa, wo sie im Halbdunkel eine kauernde Gestalt ausmachte und sie am Arm packte. Ein tiefes, bedrohliches Grollen ließ sie zurückzucken.
Nun richtete sich die Gestalt auf, der Körper schien während der Bewegung zu wachsen, bis ihr Schatten beinahe die Decke erreicht hatte. Das Licht flammte wieder auf und als sie den Hartmann-Kindern endlich ihr Gesicht zuwandte, kreischten diese wie aus einem Munde auf und robbten rückwärts von ihr fort.
Schwarz wie die Nacht waren die furchterregenden Augen, die ihnen aus einem bleichen, zerfurchten Antlitz entgegenglühten, der verzerrte Mund, dem ein neuerliches Knurren entfuhr, enthüllte eine Reihe grauenhafter Reißzähne. Eine gespaltene, schwarze Zunge schoss hervor und leckte Mallory über das Gesicht. „Ihr lächerlichen Narren haltet euch für böse!"
Die tiefe Stimme toste derart laut in den Ohren der verängstigten Kinder, vibrierte schmerzhaft in ihren Brustkörben, dass sie sich wimmernd aneinander drängten. Das folgende Lachen klang, als käme es aus den tiefsten Abgründen der Hölle, die Kreatur hob seine krallenbestückte Hand.
„Was ist das?", hauchte Mallory entsetzt. Die Antwort erfolgte als unmenschlich lautes Dröhnen in ihren Köpfen.
Ich bin so alt wie die Erde selbst und böser und mächtiger als alles, was ihr euch vorstellen könnt ...
Die Kinder kreischten, doch das Wesen übertönte sie mühelos.
„So, wer will jetzt der Erste sein?"
Mit einer derart raschen Bewegung, die ein menschliches Auge nicht wahrnehmen konnte, packte es Mallory, schleuderte sie wie eine Puppe durch die Luft, ließ sie links und rechts an die Wand krachen, um ihr dann mit einer einzigen Klauenbewegung das Genick zu brechen. Das Geräusch klang ekelerregend, wie auch der dumpfe Aufprall des toten Körpers auf dem Boden, so dass sich Kevin schockiert die Hände vor den Mund schlug. Daimon begann zu hyperventilieren, als ob er vor einem Schreikampf stünde.
„Hier bleibt alles ruhig, klar?", imitierte die Kreatur perfekt die Stimme ihrer Mutter, was den Brüdern die Haare im Nacken aufstellte.
Wieder fuhr es wie ein mächtiger Windstoß auf sie zu, erwischte mit der Präzision eines Samuraischwertes den mittleren Bruder. Das Blut bespritzte die Wände und lief an Kevins Gesicht hinunter, sammelte sich zu dicken, trägen Tropfen an seinem Kinn.
„Ja, das macht Spaß, den habt ihr mir ja versprochen!"
Jetzt endlich löste sich Kevin aus seiner Erstarrung, rappelte sich auf, rannte aus dem Zimmer, die Treppe hinab. Sein Puls dröhnte in seinen Ohren, er vergaß zu atmen, war allein auf seine Flucht konzentriert. Keuchend blickte er hinter sich, während er weitersprintete, riss die Haustür auf und - sah direkt in das Antlitz der Bestie, die ihn ins Haus zurückschleuderte. Der Junge prallte mit dem Kopf gegen die Wand und spürte nicht mehr den wie ein Wirbelsturm über ihn kommenden Tod.
Das Gemetzel hatte nicht mal eine Minute gedauert. Aber was war schon Zeit ...
Sein Abgang dauerte nicht viel länger. Feuer schoss aus seinem Mund und seinen Krallenhänden. Mit einer einzigen Armbewegung ließ es den Raum in Flammen aufgehen, setzte auch den Korridor in Brand, zog eine Feuerspur durch das ganze Haus, das es dann mit dem Telefon in der Hand verließ.
Im Schatten eines Baumes betrachtete es zufrieden das flammende Inferno, den hell in den schwarzen Himmel lodernden Scheiterhaufen, in den sich das Haus verwandelt hatte. Dann wählte es die Nummer der Feuerwehr und sprach mit Mallorys ängstlicher Stimme: „Hier ist Mallory Hartmann, es brennt, das ganze Haus brennt! Finkenweg 5. Ein Mann hat es angezündet und das Pflegekind entführt. Oh Gott, meine Geschwister sind noch drin, ich muss sie da rausholen!"
Mit einem zufriedenen Klacken der spitzen Zähne warf es das Telefon ins Feuer.
Die schwarzen Seelen der Hartmann-Brut waren längst bei seinem Meister.
Während die Gestalt zu einem Schatten zerfloss und sich dahingleitend vom Tatort entfernte, erschien wie von Zauberhand eine uralte Silbermünze zwischen seinen Nebelfingern, die es zwischen ihnen umherwandern ließ wie ein Taschenspieler. Sein Schöpfer hatte sie ihm vor langer Zeit zukommen lassen, für treue Dienste, einen der dreißig Silberlinge, die Judas einst für seinen Verrat erhalten hatte.
Es schnippte die Münze in die Luft, fing sie wieder auf und klatschte sie sich auf die durchscheinende dunkle Hand.
Wieder ein Mädchen. Nun gut, so sei es.
Im Augenblick eines Lidschlags vollzog sich die Metamorphose und über die dunkle Landstraße lief ein kleines, blondgelocktes Mädchen mit milchweißer Haut und seelenvollen, rehbraunen Augen.
Es musste unbemerkt den nächsten Bahnhof erreichen und in eine neue Stadt fahren.
Wie heiße ich dieses Mal?
Das Kind kicherte in sich hinein, das Gelächter klang wie in Nebel eingehülltes Silber.
Luzie, als Lobpreisung meines Schöpfers ...
Ein dämonisches Lächeln legte sich um seinen Mund, bevor es wie eine Windbö in der Dunkelheit verschwand.
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Pixabay/ Stefan Keller
Tag der Veröffentlichung: 01.05.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Beitrag zum April-Wettbewerb der Thrilling Stories mit dem Thema: "Die Brut des Bösen" (Platz 2)