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Im Jahr 1990 wurden meine beste Freundin Heike und ich gefragt, ob wir Lust hätten, an einer Jugendfreizeit des Volksbundes Kriegsgräberfürsorge e.V. Bremen teilzunehmen. Da wir für die Sommerferien noch nichts geplant hatten und die Reise nach Frankreich gehen sollte, waren wir gleich Feuer und Flamme.

Zugegebenermaßen stand die Pflege der Gräber in Compiègne für uns als abenteuerhungrige Siebzehnjährige nicht im Vordergrund, eher die Tatsache, für zwei Wochen mit anderen Jugendlichen ins Ausland zu fahren.

Heike und ich befanden uns gerade in unserer »Tussiphase«, wie wir sie aus heutiger Sicht amüsiert nennen. Stets sorgfältig geschminkt, geföhnt und gestylt. Meine Mutter hatte nur die Augenbrauen hochgezogen, als sie das Chaos betrachtete, das ich zwei Tage vor Antritt der Reise in meinem Zimmer vor dem großen Koffer ausgebreitet hatte: Pumps, Shorts und Röckchen, Tops und Seidenblusen, Kosmetik und Haarspraydosen …

»Pack lieber auch Turnschuhe und bequeme Jeans ein«, mahnte sie, um ironisch hinzuzusetzen: »Ihr seid übrigens zum Arbeiten da.«

Gott-sei-Dank folgte ich ihrem Rat, die empfohlene Bekleidung sollte sich noch auszahlen.

Im Flyer hatte es u.a. geheißen: »Einen Ausgleich zur körperlichen Arbeit schaffen die Begegnungen mit Menschen des Gastlandes (dazu später – oh je …), Ausflüge in die nähere Umgebung (Paris!!), Besichtigungen (gääähn!) und andere gemeinsame Aktivitäten (oho …).«

Der Tag der Abreise. Morgens in der Frühe, es dämmerte gerade, wurden Heike und ich von meiner Familie zum Treffpunkt gekarrt, an dem uns bereits ein dunkelgrüner Bundeswehrbus und die meisten Mitreisenden erwarteten. Mir waren nur zwei Mädchen bekannt, mit denen ich einige Kurse an meiner Schule besuchte.

Friederike war ein hübsches, elfengleiches Mädchen mit kastanienfarbenen Lockenhaar bis zum Po, irgendwie erinnerte sie mich immer an Lady Marian von Robin Hood. Sandra sah eher wie ein Junge aus. Kurze Haare, Brille, über 1,80 m groß, mit leichtem Überbiss. Die anderen zwanzig Mitreisenden kannten wir nicht.

Mein Bruder hatte mir den Rat gegeben, mir mit Heike möglichst die Rückbank des Busses zu sichern, da sie als einzige eine gepolsterte Sitzfläche besaß. Das taten wir auch, denn die Busfahrt nach Compiègne sollte etwas über zehn Stunden dauern.

Nachdem wir unsere Sachen auf der letzten Bank verstaut hatten, stiegen wir wieder aus und stellten uns zu den anderen, die genauso verschlafen und zerknittert aussahen wie Heike und ich.

Unser Reiseleiter stellte sich vor. Er hieß Heinz, war um die sechzig, hatte graues Haar und eine Brille, hinter der seine Augen riesengroß wirkten. Aber das Faszinierendste an seinen Augen waren die dichten, dunklen Wimpernkränze darum, die ihm ein fast geschminktes Aussehen verliehen. Ein bisschen ähnelte er Altbundeskanzler Helmut Kohl. Darum wurde Heinz von Heike und mir im Geheimen respektlos als »Smokey eyes« tituliert.

Neben diesem stand seine »rechte Hand«, Norbert, ein aknegeplagter Jüngling, kaum älter als wir, der sich unheimlich wichtig vorkam, aber Blicken auswich und wirkte, als ob er sich kaum würde durchsetzen können.

Zuletzt stellten sich die beiden Busfahrer vor, die in der Unterkunft in Compiègne auch die Funktion der Köche übernehmen würden. Wie sie hießen, weiß ich nicht mehr, aber der eine war groß und dürr und der andere klein und dick, so dass die beiden die Namen »Pat und Patachon« erhielten.

Endlich ging es los. Von der letzten Bank aus nahmen meine Freundin und ich die mitreisenden Jugendlichen unter die Lupe, die sich unterhielten oder an die Fensterscheibe gelehnt unter dem Gedudel ihrer Walkmen vor sich hin dösten.

Im Laufe der Fahrt, als wir sie besser kennenlernten, kamen wir bestens mit ihnen aus. Außer mit Christine, einem Mädchen mit Pagenkopf und »Habsburger Lippe«, die später den Spitznamen »Goldfisch« erhielt, freundeten wir uns im Laufe der Zeit mit allen an. Christine war die Einzige, die sich als Katastrophe entpuppen sollte.

Nach einer endlos anmutenden Fahrt mit nur wenigen Pausen erreichten wir endlich unser Ziel. Wir wurden in einer Jugendherberge untergebracht, Jungen und Mädchen natürlich streng getrennt. Alle Mädchen schliefen zusammen in einem großen Raum unter dem Dach. Die Jungs ein Stockwerk tiefer, ebenfalls in einem gemeinsamen Saal.

Heinz pochte an die Tür des Mädchenzimmers, als wir gerade unsere Betten bezogen und erzählte etwas über Tagesablauf, Nachtruhe und Essenszeiten. Zum Schluss räusperte er sich und dröhnte: »Übrigens kann es sein, dass abends Jungen aus dem Dorf hier herkommen, die Feuerleiter hochsteigen und bei euch ans Fenster klopfen. Ich möchte euch bitten, sie nicht einzulassen und mir auf jeden Fall Bescheid zu sagen.«

Damit verschwand der Leiter und wir begannen zu kichern. Oh la, la - das wurde ja immer aufregender ...

Und wirklich - gleich am zweiten Abend klopfte es gegen elf Uhr ans Fenster. Die meisten von uns Mädchen huschten erwartungsvoll an die Glastür. Dort standen auf der kleinen Plattform zusammengedrängt sechs französische Jünglinge und gafften zu uns herein, wild gestikulierend, wir sollten ihnen aufmachen. Och nö ... Enttäuschung machte sich breit. Friederike sprach aus, was alle dachten: »Was sind das denn für Spacken?«

Es sah aus, als hätte sich die Truppe der Dorf-Verlierer zu uns aufgemacht.

Friederike wedelte verneinend mit dem Zeigefinger und schüttelte den Kopf. Doch die aufdringlichen Franzosen gaben noch nicht auf und hielten Weinflaschen in die Höhe, die sie wohl mit uns zu leeren gedachten. Da sie nicht aufhörten, das Glas zwischen uns zu bearbeiten, schrieb ich auf ein Blatt Papier: »Non, merci. Pas d’intérêt!« («Nein, Danke. Kein Interesse!«) und hielt es ans Fenster, was die anderen Mädchen zum Lachen brachte.

Eine Weile noch starrten die Franzosen wütend zu uns rein und einer schlug mit der Faust an die Scheibe, dass es krachte. Das ließ »Goldfisch«, die sich als einzige schon im Tiefschlaf befunden hatte, hochschrecken, während die Jungs endlich abzogen.
»Was war das denn?«, wollte Christine wissen.
»Ach, die Franzosen waren da. War aber leider nix Brauchbares dabei«, antwortete Friederike, wieder lachten alle, außer Spaßbremse Goldfisch. Plötzlich hellwach stand sie sofort auf, schlüpfte wortlos in Hausschuhe und Bademantel und schlurfte um fast 0 Uhr hinunter, um bei Heinz zu klopfen und zu petzen.

Fünf Tage die Woche wurden wir gleich nach dem Frühstück zum riesigen Kriegsgräber-Friedhof gefahren um dort bis nachmittags die unzähligen Reihen von Kreuzen zu reinigen und gegebenenfalls verwitterte Namen mit Farbe nachzupinseln. An den meisten Tagen war es sehr heiß, die Sonne brannte auf uns herunter, und wir waren froh über jede Trinkpause.

Christine versuchte stets, als erste aus dem Bus zu springen und auf den Friedhof zu eilen, damit sie sich einen Arbeitsplatz im Schatten der Bäume sichern konnte, was ihr auch jedes Mal gelang. Das machte sie bei den anderen nicht gerade beliebter. Doch auf Kritik reagierte sie schnippisch.

Das Essen war teils gewöhnungsbedürftig. An einem Mittag kredenzten uns die Köche eine Suppe, in der schwarze Schnecken schwammen. Laute des Ekels entfuhren vielen. Am liebsten hätte ich behauptet, ich sei Vegetarierin wie Sandra, doch die bekam dieselbe Brühe wie wir, nur ohne die Schnecken. Da kam das erste Mal Protest auf und Pat und Patachon zogen sich - etwas von französischen Genüssen, Kultur und ebensolchen Banausen faselnd - aus der Schusslinie zurück, um eine Weile beleidigt zu schmollen.

In der ersten Woche kam ein junger Reporter der lokalen Zeitung vorbei, um ein Interview mit einem oder einer von uns über die Kriegsgräberpflege zu führen. Wir standen alle im Speisesaal aufgereiht und er ließ seine Blicke über uns schweifen.

Dann trat er auf mich zu und fragte, ob ich seine Interviewpartnerin sein wollte.

»Ich kann aber nicht so gut französisch sprechen«, gab ich zurück. Er lächelte, dann raunte er mir in der Landessprache zu: »Ist doch egal, den Text schreibe sowieso ich, Völkerverständigung und so. Aber was ich dringend brauche, ist ein hübsches Foto!«

Das schmeichelte mir ungemein, nur Goldfisch, die neben Heike und mir stand, und die Antwort vernommen hatte, kratzte an dem schönen Moment.

»Das ist jawohl das Letzte, mit mir können Sie ein richtiges Interview führen, ich spreche viel besser Französisch als die!«

Doch er ignorierte ihren in sicherem Französisch hervorgestoßenen Ausbruch.

Es wurde ein äußerst netter Nachmittag, wir saßen in einem Café und plauderten und flirteten. Und am nächsten Tag erschien der Artikel in der Zeitung, neben meinem Foto die Überschrift: »Uschi est ravissante« (»Uschi ist bezaubernd«), was mir natürlich sehr gefiel. Goldfisch guckte sich - als Einzige - den Artikel demonstrativ nicht an.

 

Die Besichtigungstouren stellten sich als besser heraus, als wir zuvor gedacht hatten. Schloss Versailles war interessant und es folgte ein Abstecher zur Champagnerkellerei Tattinger, die ihren Sitz in Reims hat.

Nach einem arbeitsreichen, heißen Vormittag auf dem Friedhof fuhren wir gegen 12 Uhr etwa eineinhalb Stunden mit dem Bus nach Reims, wo wir einen kleinen Imbiss und anschließend eine Führung durch die Kellerei erhielten.

Am besten war die Verkostung im kühlen Keller. Dort standen Tabletts, auf ihnen kleine Plastik-Sektgläser mit dem kostbaren Gesöff. Viele unserer Mitreisenden probierten jedoch nicht einmal, während der französische Kellermeister sich über die Qualitäten des Champagners ausließ. Nur wenige, unter ihnen Heinz' Adjutant Norbert, ließen sich mehrere Proben schmecken, woraufhin er bald glasige Augen bekam und äußerst redselig zu lallen begann, was uns zum Kichern brachte und Heinz seinen Assistenten beiseite ziehen und einnorden ließ. Armer Norbert!

Aufgrund der allgemeinen Zurückhaltung blieb mehr für Heike und mich. Unbemerkt von den anderen, vor allem von Heinz, leerten wir nach und nach eine Vielzahl Probegläschen, insgesamt wohl die Menge von fast zwei Flaschen. Im kühlen Keller war das auch nicht problematisch.

Erst, als es an die Rückfahrt ging und wir aus dem klimatisierten Gebäude in die Hitze im Freien traten, schlug der Alkohol mit voller Wucht zu. Mir war schwindelig, aber Heike taumelte regelrecht in den Bus und fiel dort in einen fast komatösen Schlaf. Als Heinz während der Fahrt zu uns nach hinten kam und mich fragte, was mit meiner Freundin los wäre und warum sie solch ein rotes Gesicht hätte, murmelte ich etwas von Müdigkeit und Sonnenbrand. Zum Glück hakte er nicht weiter nach.

Am folgenden Wochenende wurden wir, immer zu zweit, französischen Gastfamilien aus dem Dorf zugeteilt, mit denen wir einen gemütlichen Abend verbringen sollten.

Heike und mich holte ein kinderloses Ehepaar mittleren Alters ab. Die Legrandes sprachen nur Französisch. Mein Englisch war zu dieser Zeit sehr gut, ich hatte es auch als Leistungskurs belegt. Französisch hingegen hatte ich abgewählt und besaß nur Grundkenntnisse. Heike war auch keine Hilfe, sie konnte es überhaupt nicht sprechen.

So gestaltete sich das Kennenlernen und Konversieren nicht ganz leicht.

Wie bei den Franzosen üblich, wurde ein opulentes Abendessen aufgetischt. Wie umfangreich es werden sollte, war uns beiden jedoch anfangs nicht bewusst.

Nach einem langen Tag auf dem Friedhof hatten wir großen Hunger. Die Dame des Hauses trug »Coq au vin« auf und wir griffen beherzt zu. Es schmeckte göttlich.

Als wir der Frau unsere Teller ein zweites Mal entgegenstreckten, zog sie überrascht die Augenbrauen hoch und sagte etwas zu ihrem Mann wie: »Oh lala, die hauen aber rein!« und Monsieur Legrande grinste.

Jetzt waren wir eigentlich nahezu satt, aber schon verschwand Madame wieder in der Küche und kehrte mit Salat und einer Enten-Pastete zurück, die sie uns auf die Teller lud. 

Die Aufgabe des Hausherrn bestand hauptsächlich darin, die stockende Konversation mit Heike und mir - über mich als Übersetzerin ins jeweils Deutsche oder Französische - aufrecht zu erhalten und uns immer wieder die Gläser mit Rotwein und kleinen Likören aufzufüllen. Ein »Non, merci« wurde nicht akzeptiert.

Nicht nur das Essen zeigte langsam Wirkung. Heike und ich waren inzwischen abgefüllt bis oben, und ich öffnete heimlich den Hosenknopf unter der Tischplatte. Nach zwei Stunden »Begegnung mit Einheimischen« war ich bereits fix und fertig und fühlte mich wie bei einer mündlichen Prüfung.

Meine Sprach- und Ausdrucksfähigkeiten sanken zeitgleich mit jedem geleerten Glas Alkohol, und Heike quasselte mit glasigen Augen ohne Punkt und Komma auf Deutsch, und reagierte nicht mehr auf mein Anstupsen, dass das unhöflich sei.

Der dritte Gang wurde aufgetragen, wieder irgendetwas Warmes. Oh non, ich konnte nicht mehr, und wehrte lächelnd ab. Doch Madame war unerbittlich, wenn es um ihre Kochkünste ging. Gnadenlos legte sie vor, während ihr Gatte uns wieder nachschenkte und zuprostete. Auch seine Augen glänzten schon, und hatte er zuvor wenigstens versucht, langsam zu sprechen, verstand ich bei seinen nunmehr rasend schnellen Erzählungen kaum noch ein Wort.

Heike war inzwischen vollkommen betrunken. Sie musste dauernd kichern und lallte Sachen wie: »Oh Gott, bin ich breit ... was ist das eigentlich für eine schreckliche Stehlampe?«

Madame Legrande fragte daraufhin: »Pardon?«, und ich schwitzte Bäche, ihr in meinem stoffeligen Französisch zu übersetzen, dass Heike sehr zufrieden hier sei und die Vorhänge und die Lampe bewundere - was aber so gar nicht zu derem ausgelassenen Gegacker passen wollte.

Die Stimmung der Gastgeberin sank um einige Grad und sie setzte uns das Dessert auf den Tisch, ein Himbeerparfait. Mir drehte sich der Magen um, aber Heike war es, die nach den ersten Löffeln plötzlich aufsprang, zu würgen begann und in Richtung Toilette rannte, wobei sie die (wirklich abscheuliche) Stehlampe zu Fall brachte. Es klirrte.

Jeder Laut aus dem Bad war zu hören, weil sich über das Wohnzimmer eine eisige Stille gelegt hatte. Was für ein Fiasko! Ich sank auf meinem Stuhl zusammen.

Monsieur Legrande rang sich ein gequältes Lächeln ab und kündigte an, uns wieder in die Herberge zu fahren. Ich stammelte noch eine Entschuldigung und ein Kompliment für das großartige Essen, was Madame mit unbewegter Miene und einem frostigen »Merci« entgegennahm. Eine käsebleiche, torkelnde Heike erschien im Türrahmen und wir verfrachteten sie ins Auto. Es war erst 22 Uhr, als Monsieur Legrande uns bei Heinz ablieferte. Alle anderen kehrten erst Stunden später zurück.

Der Tagesausflug nach Paris war toll. Abends spielten wir Tischkicker oder Billiard, ein anderes Mal organisierten die Köche ein Lagerfeuer und grillten. Es hatten sich inzwischen kleinere Romanzen zwischen den Teilnehmern entwickelt, obwohl der Tag des Abschieds näher rückte.

Drei Tage vor der Abreise verkündete Heinz beim Frühstück, dass es üblich war, für den letzten Abend die französischen Gastfamilien zu einem Abschiedsfest einzuladen. Wir sollten zum Dank für die Einladungen eine kleine Darbietung einstudieren. Er drückte uns einen Hefter mit französischen Liedern in die Hand.

»Oh nee - Sollen wir uns mit so was zum Affen machen?«, fragte Friederike in die Runde, als wir auf unserem Zimmer waren.

Wir überlegten. Zu dieser Zeit waren Friederike und ich Mitglieder in der Theater-AG unserer Schule und uns schwebte etwas ganz anderes vor. Eine Idee nahm Gestalt in unseren Köpfen an, und wir unterbreiteten sie den anderen Mädchen: Eine Performance der besonderen Art für die französischen Gastgeber. Erst ernteten wir einige skeptische Blicke, Goldfisch lehnte eine Teilnahme mit dem Kommentar: »Wie peinlich!« kategorisch ab, was ich aber nicht weiter tragisch fand.

Doch auf die Gesichter der anderen legte sich breites Feixen, vor allem als ich sagte, dass Sandra gewissermaßen die Hauptrolle zu spielen hätte. Die sträubte sich erst, war sie doch eher schüchtern, doch als alle vehement auf sie einredeten und bettelten, schlug sie irgendwann ein. Ich grinste und raste zur Küche, denn ich musste beim langen Koch etwas ausborgen. Und dann konnten die Proben beginnen.

Der Abschiedsabend war lauschig, die Grillen zirpten. Vor der Terrasse der Herberge, unserer Bühne, hatten wir Stuhlreihen und die Stereo-Anlage inklusive der großen Boxen aufgebaut. Irgendwann war jeder Platz mit den schnatternden, französischen Familien besetzt. Unsere Aufregung stieg. Wie würden die Gäste unseren Auftritt aufnehmen? Und nicht nur sie, sondern auch Heinz, der mit einer konventionellen Darbietung rechnete ...

Heike wollte unbedingt die Ansagerin sein, sie las - oft geübt - auf Französisch vor: »Guten Abend, sehr verehrte Damen und Herren. Da heute ein besonderer Abend ist, haben wir einen ganz besonderen Stargast für Sie eingeladen, um Danke zu sagen. Begrüßen Sie bitte mit einem herzlichen Applaus: The charming René und seine Girls!«

Die Tür ging auf und verhaltenes Applaudieren setzte ein, als ein junger Mann in einem weißen Anzug, mit schwarzem Hemd und weißer Lederkrawatte sowie Cowboystiefeln erschien, in einer Hand ein Mikrofon, das kurze braune Haar zurückgegelt. Er trug eine Sonnenbrille, seine Wangen zierte ein dunkler Bartschatten, und er schwankte leicht.

Hinter ihm tauchten wir Mädchen auf, alle in schwarzen Leggings und weißen T-Shirts, an die wir Kreppblumen in blau-weiß-rot geheftet hatten.

Die ersten Töne von »Sugar Baby Love« von den Rubettes erschallten ohrenbetäubend laut aus den Boxen und der Stargast startete gleich durch. Klopfte mit der Hand ans Mikro und mit dem Fuß auf den Boden, während wir im Hintergrund im Takt die Hüften schwangen. Kaum ertönte der hohe Schrei des Sängers, beugte sich the Charming René mit zum Playback geöffneten Mund derart weit nach hinten, wie ich es noch nie bei einem Menschen zuvor gesehen hatte. Schon bei den Proben hatten wir uns darüber kaum eingekriegt.

Ihr wisst es schon, wer hinter der Maske des jungen Aufreißers steckte: Die großgewachsene Sandra, die den Anzug des Kochs trug, zuvor eine Stunde in der »Maske« gewesen und von uns mit geschmuggeltem Likör abgefüllt worden war, um sich Mut anzutrinken.

Da die Franzosen während der Vorführung in immer größere Begeisterungsstürme ausbrachen, wurde auch »René« immer forscher. Bei »People, take my advice«, das der Sänger sprechend ins Mikrofon haucht, ging »er« auf die ersten Stuhlreihen zu, strich den Damen über die Wange, schob kurz die Sonnenbrille hinunter, um ihnen glutvolle Blicke zu schenken.

Wir sangen fleißig unser »Bab-schuwabib« und umgarnten den Star, der immer wieder bei seinem »Schrei« Kopf und Rücken derart weit zurückbeugte, dass er fast umfiel.

Heinz stand der Mund offen, wie ich belustigt feststellte. Am Ende der Darbietung erscholl frenetischer Applaus. Wir verbeugten uns und verschwanden mit René im Haus, um uns umzuziehen.

Am nächsten Morgen beim Frühstück stand Heinz plötzlich auf. Sein Gesicht wirkte streng, als er in die Runde blickte, bis alle verstummten.

»Also, der Auftritt gestern, war ja komplett anders gelaufen als vorgesehen.«
Sein Blick ruhte nun auf Sandra, die schluckte und errötete.

»Aber - « Jetzt strahlte der Leiter plötzlich über beide Backen. »Die Familien waren begeistert! Wisst ihr, was mich die ältere Dame neben mir fragte, als ihr abgegangen ward?«
Wir schauten ihn gebannt an. Sein Grinsen wurde noch breiter und er zeigte einmal wirklich Humor, indem er mit verstellter Stimme sprach:
Mon dieu, Einz, wo aben Sie nur die ganze Zeit diese übsche, junge Mann versteckt?«

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: eigenes Foto 1990 , links Uschi, rechts Heike
Tag der Veröffentlichung: 01.03.2013

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Bio-Wettbewerb Februar 2013: "Alleine weg von zu Hause" Seit 1961 unternimmt der Volksbund Kriegsgräberfürsorge Bremen diese Fahrten in die kleine Stadt bei Paris. Am 11. November 1918 war im Wald von Compiègne in einem Eisenbahnwaggon der erste Waffenstillstand geschlossen worden, der den Ersten Weltkrieg beendete.

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