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Tiefste Dunkelheit umfing ihn. Er wusste nicht, wie lange er geruht hatte, aber er musste geträumt haben, denn er verharrte in banger Erwartung – weshalb?

Einen Augenblick blieb er liegen, lauschte. Nichts.

Horchte in sich hinein, ob ihm irgendetwas wehtat, er möglicherweise verletzt war. Nein, er fühlte sich weder krank noch verspürte er Schmerzen, aber unter seinem Rücken einen weichen Untergrund. Seine Hände, die sein Augenlicht ersetzen mussten, ertasteten eine Matratze, eine Federdecke, einen gewundenen Pfosten und einen Vorhang – er lag in einem Himmelbett.

Weiter glitten seine Finger, bis sie endlich eine Lücke in dem samtig-schweren Stoff entdeckten und diesen zur Seite schoben.

Fahles Mondlicht fiel durch die Butzenscheiben einer Flügeltür und tauchte den Raum in eine silbrige Dämmerung. Er befand sich in einem herrschaftlichen Schlafzimmer. Seine Augen blieben an einem Kamin hängen, der ihn aus der Wand gegenüber kalt und leer angähnte, wie ein aufgerissenes, schwarzes Maul. Kein Holz lag daneben. Das Zimmer wirkte verlassen … Fremd.

Wo befand er sich - und, warum war er hier?

Er trat ans Fenster. Jetzt erst vernahm sein Gehör den Wind, der leise um die Mauern heulte. Draußen erspähte er einen weitläufigen, einsamen Schlossgarten. Kahle Bäume reckten ihre schwarzen Arme empor, Raureif glitzerte auf der Terrasse, und die kalte Luft, die durch die Fugen der Fenstergläser zog, roch nach Schnee. Es war Winter.

Eisig war es auch in dem Zimmer, doch ihn fröstelte nicht.

Obwohl er gerade noch geschlafen hatte, fühlte er sich nicht ausgeruht, nein, eher zerschlagen, erschöpft. Als hätte ich eine lange, durchzechte Nacht hinter mir, dachte er, während er durch den Raum schritt.

Vor einem vergoldeten Spiegel, der ihn in seiner ganzen Größe zeigte, blieb er stehen und betrachtete sich: einen stattlichen Mann, die aristokratischen Züge eingerahmt von einem kleinen Bärtchen und bis auf die Schultern fallendem, gewelltem Haar. Eine Weile musterte er den Mann im Spiegel, doch er blieb ein Fremder, und Beklemmung begann aus seinen Eingeweiden emporzukriechen. Wer bin ich? Seine Erinnerung schien wie ausgelöscht.

Doch zweifelsohne musste er ein Adliger sein. Das verrieten ihm nicht nur die prächtigen Stoffe, aus denen Hemd, Wams und Hose gefertigt waren und das weiche Leder der Stiefel, sondern auch sein wohlgenährter Körper, seine aufrechte, stolze Haltung.

Erneut ließ er seinen Blick durch das Zimmer schweifen. Vor dem Bett lag etwas, das im Mondlicht aufglänzte. Er trat heran und hob einen Degen auf, wendete ihn hin und her, ließ die Klinge mit gewaltigen Hieben die Luft zerschneiden, machte einen Ausfallschritt und durchbohrte einen imaginären Gegner, bevor er sich die Waffe umschnallte. Es fühlte sich vertraut und gut an, sie zu tragen.
Entschlossen zog er die Tür auf und verließ das Zimmer. Er musste herausfinden, wer und wo er war, und was das alles zu bedeuten hatte.

Der finstere Gang vor dem Schlafgemach wurde einzig von einigen in Wandhalterungen steckenden Fackeln erhellt. Sie flackerten und rußten in der winterkalten Zugluft und warfen gespenstisch tanzende Schatten an die Mauern.

Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er ein Seufzen zu hören glaubte, während ein frostiger Lufthauch an ihm vorüberstrich, doch er schüttelte den Kopf und straffte die Schultern. Seine Nerven waren überreizt.

Mit selbstbewusstem Gang schritt er aus, dennoch konnte er das Gefühl, beobachtet zu werden, nicht abschütteln. Als ob ihn feindliche Augen aus allen Richtungen belauerten. Aber weder wandte er sich um, noch verlangsamte er seinen Schritt, denn trotz seines verlorenen Gedächtnisses spürte er, dass er stark und mächtig war, jemand, mit dem man sich besser nicht anlegte ...

Aus der Ferne wehte Musik zu ihm heran, die Stimmen vieler Menschen – oder bildete er sich auch das nur ein? 

Nein, je weiter er den Korridor hinab lief, desto lauter wurde das Treiben und irgendwann befand er sich vor einer massiven Eichenholztür, die mit aufwendigen Schnitzereien verziert war. Dahinter musste ein Fest im Gange sein. Hier konnte ihm sicherlich jemand mitteilen, wo er sich befand – vielleicht auch wer er war. Mit angespannten Muskeln und gebieterischem Gesichtsausdruck zog er die Tür auf und trat ein.

Drinnen erwartete ihn ein prächtiger Ballsaal. Kostbare Teppiche und Spiegel zierten die Wand gegenüber einer Fensterfront, riesige Kronleuchter mit hunderten brennender Kerzen hingen von der Decke herab, die mit herrlichen Fresken bemalt war.

Der Saal war voller Menschen, Männer, Frauen und Kinder unterschiedlicher Herkunft. Er sah edel gewandete Herrschaften wie sich selbst, aber auch ärmliche, magere Gestalten, deren Kleidung und derbe Gesichter an die von Bauern und zerlumpten Bettlern erinnerten. Was für eine seltsame Gesellschaft, durchfuhr es ihn. Der Pöbel hatte nichts auf diesem Fest verloren! Der Anblick der Leute des Dritten Standes erzürnte ihn.

Der Duft köstlicher Speisen zog ihm in die Nase. Im Hintergrund spielte ein livriertes Orchester auf. Die Herrschaften tanzten eine Gavotte, bewegten sich graziös durch den Raum, verneigten sich, stolzierten weiter im Takt der Musik. Die Tanzschritte waren ihm vertraut und instinktiv wusste er, dass er ein fabelhafter Tänzer war.

Die übrigen Menschen füllten sich Teller am reichhaltigen Buffet, aßen und tranken Wein, beobachteten die Tanzenden. Zwischen den Umstehenden wuselten Kinder herum, spielten Fangen, ihr helles Gelächter flatterte durch den Saal wie zwitschernde, freche Spatzen. Welch Unverfrorenheit! Auch über diese Impertinenz fühlte er hitzige Wut in sich aufsteigen, seine Hand legte sich auf den Degen.

Da löste sich die Gestalt einer Dame aus der Menge. Es sah aus, als würde sie über das Parkett auf ihn zu schweben. Einladend hatte sie ihre lilienweißen Arme ausgestreckt, auf ihrem rosigen Mund lag ein leichtes Lächeln und eine Wolke honigfarbenen Haars schmiegte sich um ihr herzförmiges Gesicht. Als er in ihre leuchtend blauen Augen blickte, durchfuhr ihn ein Stich, ein winziger Hauch des Erkennens, um nur einen Wimpernschlag später wieder in der Dunkelheit seines Geistes zu versinken.

Jetzt stand die Dame vor ihm und deutete einen Knicks an, sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. „Da seid Ihr ja, mein Gemahl!“

Alle Anwesenden hatten ihn nun bemerkt. Die Musiker hielten inne und erhoben sich von den Stühlen, die Adligen neigten grüßend ihr Haupt, die Bauern und Bettler versanken in tiefe Knickse und Verbeugungen.

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Jeder hier schien zu wissen, wer er war, doch er kannte kein einziges Gesicht, nicht einen Namen, niemand war ihm vertraut, nicht einmal die Schönheit, die sich als seine Frau vorgestellt hatte. 

„Nicht mehr lange bis Mitternacht,“ raunte seine Gemahlin, zog ihn auf die Tanzfläche und gab dem Orchester mit einer eleganten Handbewegung zu verstehen, weiterzuspielen. Er war wirklich ein guter Tänzer, wie er bereits bei den ersten Bewegungen feststellte.
„Madame ..." Fragend blickte er in das engelsgleiche Gesicht hinunter, das sich ihm sofort zuwandte, aber seine Züge verschlossen sich wieder und er schluckte die Worte hinunter, die er hatte aussprechen wollen. Er würde sich lächerlich machen, wenn er seine eigene Frau bat, ihm zu erläutern, wer und wo sie waren. Und er war niemand, der sich der Lächerlichkeit preisgab! Stattdessen stieg dieses brennende Gefühl in ihm auf - Zorn. Er musste ein jähzorniger Mann sein, das spürte er, und versuchte mit mäßigem Erfolg, eine gleichmütige Miene aufzusetzen. Seine Gemahlin musterte ihn. „Ja, mon cher ?" 

Doch er schüttelte nur den Kopf. Irgendwer hier würde ihn schon mit seinem Namen anreden, und dann füllten sich auch die Gedächtnislücken, da war er sich sicher.

Während des Tanzens verspürte er wieder das Gefühl, beobachtet zu werden, als ob sich hasserfüllte Blicke in seinen Rücken und Hinterkopf bohrten. Aus dem Augenwinkel glaubte er, zu hasserfüllten Fratzen verzerrte Gesichter wahrzunehmen, die ihn anstarrten, doch jedes mal, wenn er sich umwandte, und die Betreffenden anblickte, sah er sie plaudern und lachen, einer prostete ihm zu. Verdammt - was war nur los mit ihm?

Plötzlich erfasste eine gewisse Spannung und Unruhe die Menschen, sie begannen zu tuscheln und aufgeregt in eine bestimmte Richtung zu sehen. Er folgte ihren Blicken und entdeckte eine große goldene Uhr über der Tür. Gleich würde es Mitternacht sein. Das Orchester hörte abrupt auf zu spielen, die Tänzer blieben stehen, auch die letzten Stimmen verstummten. Alle standen wie festgefroren, mit steinernen Mienen, wie auf ein Gemälde gebannt, selbst die Kinder. Eine unheimliche Stille senkte sich über den Saal, während aller Augen auf den großen Zeiger des Stundenmessers gerichtet waren, der unablässig fortschritt.

„Gleich ist es so weit ...", flüsterte seine Frau ihm zu und umschloss fest seine Hand.

Etwas in ihrer Stimme jagte einen kalten Schauer über seinen Rücken, ließ eine Gänsehaut über seine Arme und seinen Nacken kriechen und Kälte breitete sich in seinem Magen aus.

Er schluckte und schloss die Augen. Der Schatten einer bösen Erinnerung stieg in ihm auf ... Noch konnte er sie nicht greifen ... Irgendetwas stimmte hier nicht.

Das einsetzende Glockengeläut ließ ihn zusammenzucken, vom Hof her tönte es durch die Fenster. Mitternacht.

Der Griff um seine Hand wurde so eisern, dass es schmerzte, und er riss die Augen auf. Was er sah, ließ sein Blut zu Eis erstarren: Seine Hand wurden von schwarzverkohlten Knochenfingern umklammert die zu einem ebenso von Feuer zerstörten Körper gehörten.

„Willkommen im Neuen Jahr", fauchte es heiser an sein Ohr und noch bevor er der Kreatur, die sich seine Frau genannt hatte, ins Gesicht blickte, roch er den Gestank von verbranntem Fleisch. Ihr Anblick war so entsetzlich, dass er ihm den Atem raubte: Ein verrußter Totenschädel, der ihm lippenlos entgegengrinste, leere schwarze Augenhöhlen. Er schrie auf und riss sich los von ihr. Taumelte weiter. Doch wohin auch er blickte, überall erwarteten ihn grauenhaft zugerichtete Anlitze, verstümmelte oder verweste Körper, Tod und Elend. Die Livrees des Orchester waren rot vor Blut, manchen fehlten Arme oder gar ihre Köpfe, trotzdem schritten die toten Musiker langsam aber unaufhaltsam auf ihn zu ... Die Augen in den eingefallenen, nur noch von Haut überzogenen Gesichtern der Kinder fixierten ihn, auch sie näherten sich, die spindeldürren Arme nach ihm ausgestreckt ... Einem Adeligen war die Kehle durchschnitten worden, sein Kopf war auf die Seite gefallen. Dunkle Geschwulste und Beulen leuchteten auf den totenbleichen Gesichtern und Hälsen der Bauern und Bettler - die Pest!

Er wich vor der Meute zurück, die ihn bedrohlich einzukreisen begann, ohne einen einzigen Laut von sich zu geben, tödliche Stille lag über der grauenhaften Szenerie.

„Was ist das hier? Ein Albtraum? Genug! Hinfort mit euch!"

Panik stieg ihn ihm auf, er stolperte und fiel, stieß gegen den verrotteten Leib einer Adligen, deren klauenhafte Hand nach ihm griff. Er robbte aus ihrer Reichweite, rappelte sich auf, zog seinen Degen und drehte sich hektisch im Kreis.

„Packt euch! Was wollt ihr überhaupt?"

Wieder war es seine Frau, die auf ihn zutrat und mit dieser tonlosen Stimme zu ihm sprach: „Erinnerst du dich noch immer nicht? An all diese hier - " Sie streckte ihren skelettierten Arm aus und wies mit einer ausholenden Bewegung auf die sie umgebenden Leichen.
„All die armen Seelen, die du auf dem Gewissen hast! Die du verhungern und verrecken ließest, als sie in Not an dein Tor klopften! Die du der im Dorf einfallenden Pest zum Fraß vorwarfst, als du ihnen Obdach im sicheren Schloss verwehrtest! Die du in die zahllosen, sinnlosen Scharmützel mit den Nachbargrafen sandtest, ohne richtige Waffen. Die du vergiftet und erschlagen hast, aus Habgier oder enttäuschter Eitelkeit."

Nun zeigte sie auf die Kadaver der Musiker. „Jene, die du eigenhändig aufgeschlitzt hast, allein, weil dir ihr Repertoire nicht gefiel? Noch immer keine Reue? Keine Demut?"

Die schwarzen Augenhöhlen schienen zu brennen. „Von der bestialischen Ermordung meiner Wenigkeit gar nicht zu sprechen! Dann büße weiter für deine Sünden, du gottlose Bestie, Jahr für Jahr, und nimm unsere Rache!"

Das letzte Wort hatte sie gebrüllt wie einen Schlachtruf und Hunderte von Stimmen begannen einzufallen, zu gellen, brandeten auf ihn ein, während die schauderhafte Gesellschaft immer näher rückte, ihn umzingelte.

Er kniff die Augen zu und presste seine Hände auf seine Ohren, doch die unzähligen zornigen Rufe und gezischten Vorwürfe tosten weiter in seinem Kopf, bis sie sich zu einem einzelnen, gewaltigen Schrei vereinigten, der nicht enden wollte. Das Brüllen klang so unmenschlich und laut, dass er glaubte, sein Kopf platze.

Und als er kalte Hände spürte, die ihn packten, reißende Nägel sich in seinen Leib bohrten und Spuren zogen, schrie auch er auf wie ein wildes, verwundetes Tier, wurde ein Teil ihres kollektiven Schmerzes und - verstand.

Er hatte all das schon gesehen ... nicht nur einmal ... so oft, den Saal, die Uhr, die Menschen, ihre grauenhafte Verwandlung in diese Monstren ...

Als die Meute ihn zu Boden zwang und wie ein ausgehungertes Wolfsrudel über ihn herfiel ihren Rachedurst zu stillen, zogen all die vergessenen Erinnerungen an sein wenig ruhmreiches Leben an seinem Geist vorrüber, Unrecht, Mord, Folter, Gewalt, Gier.

Die Bilder und Stationen wirbelten durcheinander.

Bevor er endlich das Bewusstsein verlor und wieder in tiefstem Schwarz versank, tauchte vor seinem inneren Auge ein Name auf ... Sein Name.

 


„Wenn ihr mir bitte folgen würdet." 

Der Museumsführer hatte gerade seine Eingangsrede über die Architektur und die Geschichte Schloss Belleforts beendet. Nun trappelte ihm die Schulklasse im Schlepptau ihrer Lehrerin hinterher, die Schritte von vierundzwanzig Paar Schuhen hallten von der hohen Decke und den Wänden wieder.

Die Jungen und Mädchen erinnerten den Führer an eine Schar junger, schnatternder Gänse, befanden sich gerade mitten in der Pubertät, und hatten bestimmt ganz andere Interessen, als auf einer Klassenfahrt durch ein verstaubtes Museumsschloss zu wandern und den langweiligen Vorträgen eines alten Mannes zu lauschen. Henry Beaumont lächelte in sich hinein - auch er war einmal jung und ungestüm gewesen, deshalb hatte er eine Strategie, wie er die Dreizehn - bis Vierzehnjährigen gleich bei Laune halten würde.

Er kannte sich aus mit Menschen, liebte seinen Beruf. Seit nunmehr bald dreißig Jahren führte er verschiedenste Besuchergruppen durch dieses imposante Barockschloss an der Loire, doch jede seiner Vortragsrunden wandelte er ein wenig ab, stets darauf bedacht, seine Gäste zu fesseln, mitzunehmen auf die für ihn immer noch spannende Reise durch die Jahrhunderte.

Vor einem lebensgroßen Ölgemälde auf der Galerie blieb er stehen und die Lehrerin rief ihre Schüler zu Ruhe und Aufmerksamkeit auf. Als aller Augen auf ihn und den prächtig gekleideten, jungen Mann auf dem Bild gerichtet waren, begann Henry zu sprechen: „Hier seht ihr den ersten Schlossherren, der vor vierhundertfünfzehn Jahren Bellefort erbauen ließ, den Marquis Alain de Loisy. Ein hübscher Kerl, mögen die Mädchen denken - " Er zwinkerte ihnen zu und einige der Angesprochenen begannen albern zu kichern, bevor der gestrenge Blick von Madame Dubois sie wieder zur Ernsthaftigkeit mahnte. „aber außer seinem blendenden Aussehen lässt sich leider nichts Schmeichelhaftes über den Marquis berichten. Er war ein aufbrausender und grausamer Despot, gierig und heimtückisch. Er nahm sich stets und ohne Rücksicht auf Verluste, wonach ihm verlangte, wenn es sein musste, mit Gewalt. Er war ein Folterer und Mörder, ein herzloser Mann. Darum nannte man ihn auch den "Marquis sans coeur"." 

Nun hingen alle von Madame Dubois' Schutzbefohlenen an seinen Lippen, wie Henry es erwartet hatte. 

„Es ist überliefert, dass er nicht nur seine Untergebenen und leibeigenen Bauern schlecht behandelte oder die Männer, viele fast noch Knaben, in von ihm angezettelte Kriege schickte, sondern auch seine wunderschöne Gemahlin Cathérine in der Silvesternacht des Jahres 1602 auf einem Scheiterhaufen im Schlossgarten verbrennen ließ. Angeblich hatte er sie als Hexe entlarvt, hatte Beweise für ihr Bündnis mit dem Teufel, aber in Wirklichkeit, so sagte man schon damals, ließ er sie hinrichten, weil er ihr Untreue unterstellte." 

Einige der Schüler betrachteten das Gemälde nun voller Faszination, andere mit Schaudern, stellte Henry fest, bevor er fortfuhr: „Sie soll, während bereits die Flammen an ihr hochzüngelten, ihre Unschuld beteuert und ihren Mann um Gnade angefleht haben. Doch er blieb hart und brüllte die entsetzte Hofgesellschaft an, dass er in Zukunft mit jedem Verräter, egal ob Mann, Frau oder Kind, so verfahren würde."

Madame Dubois blickte sich unsicher um, ob ihre Schüler dem Vortrag gewachsen waren, allein die Gesichter zweier Mädchen sahen etwas ängstlich aus, so dass sie zu ihnen trat und ihnen die Hände auf die Schultern legte.

„Es heißt weiter, dass die Marquise Cathérine ihn aus den Flammen heraus verflucht haben soll: Jedes Jahr in der Silvesternacht würde sie ihn von nun an heimsuchen, und mit ihr alle Seelen, die er auf dem Gewissen habe, soll sie geschrien haben. Ich kann nicht sagen, ob sich der Fluch bewahrheitet hat. Aber es ist aufgezeichnet, dass Alain de Loisy nur ein Jahr später, kurz nachdem die Glocken der Schlosskapelle das Jahr 1603 einläuteten, mit schreckgeweiteten Augen einfach tot umgefallen sein soll."

Zufrieden blickte Henry in die gebannten Gesichter der Schülerschar.

Da hob die schüchterne Madeleine die Hand, ein Mädchen, dass normalerweise lieber beobachtete statt zu sprechen.

Der Museumsführer erteilte ihr freundlich nickend das Wort.

„Ich finde aber, dass der Marquis auf dem Bild nicht mächtig und gewaltig wirkt. Er hat ängstliche Augen."

Henry lachte auf. „Nun, interessant, dass du das sagst. Gerade letzte Woche erst machte eine alte Dame, die das Gemälde zuletzt in ihrer Kindheit gesehen hatte, eine ähnliche Bemerkung: Der Marquis hätte sich verändert ... Doch -" Nun schwoll die Brust des Führers ein wenig an. „ich gebe diese Führungen schon seit Jahrzehnten, sehe fast täglich dieses Bild, mir wäre es doch sicher aufgefallen, wenn sich die kleinste Veränderung gezeigt hätte, oder? Aber, eine schöne Ergänzung dieser schauerlichen Geschichte."

Henry machte sich im Kopf eine kleine Notiz über diese Anekdote, als er seiner Zuhörerschaft einen Wink gab, ihm weiter zu folgen.

„Ich zeige euch nun das Bild der unglücklichen Marquise."

Madeleine warf noch einen letzten prüfenden Blick auf das Gesicht Alain de Loisys. „Und du hast wohl Angst ...", flüsterte sie dem Marquis zu, bevor auch sie sich abwandte und der weiterziehenden Gruppe anschloss.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay / Danke an Enrique Meseguer
Tag der Veröffentlichung: 11.01.2013

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