Als der Gong läutete, sprang Sascha sofort auf und schulterte seinen Rucksack, den er während der letzten Unterrichtsminuten bereits unauffällig gepackt hatte.
Obwohl Herr Feldmann noch mitten in einer Ausführung über die bevorstehende Klausur gewesen war, hasteten nun fast alle seiner Zehntklässler zur Tür, an der es ein kleines Gedränge gab.
„Sascha“, hielt ihn die Stimme des Lehrers zurück. Der Schüler stöhnte innerlich, aber er wandte sich um und ging ein paar Schritte auf das Lehrerpult zu.
„Sagst du deiner Mutter noch mal wegen des neuen Sprechtermins Bescheid? Freitag, 17 Uhr.“
Ein leichter Tadel schwang in Feldmanns Stimme mit. Zu den letzten vereinbarten Terminen war Saschas Mutter nicht erschienen.
„Sie hat beruflich gerade viel zu tun. Können wir nicht alleine sprechen?“
Der Lehrer runzelte die Stirn. „Das Thema hatten wir doch schon. Solange du noch nicht volljährig bist, haben die Eltern oder – in deinem Fall – deine Mutter teilzunehmen. Also, erinnere sie daran, okay?“
„Ja, mach ich“, antwortete Sascha, nun unruhig von einem Bein auf das andere tretend. Sein Blick fiel auf die Uhr an der Wand. Alle anderen waren längst aus dem Klassenraum verschwunden.
„Und, Sascha“, Herr Feldmann blickte ihn mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. „Wenn was ist … du kannst mit mir sprechen.“ Sascha schluckte.
„Ich muss los, der Bus.“ Damit eilte er hinaus.
Scheiße. Warum hatte der Feldmann ihn so komisch angeguckt? In Gedanken durchforstete er die letzten Schulwochen und kam zu dem Schluss, dass er sich ganz normal benommen, weitestgehend alle Hausaufgaben erledigt und bei den Arbeiten recht gut abgeschnitten hatte. Was war dem Lehrer aufgefallen?
Auf dem Flur schlüpfte er in seine Jacke, während sich seine Schritte noch beschleunigten. Es war bestimmt wegen der verdammten Sprechtermine. Er wusste nicht, welche Ausrede er seinem Klassenlehrer diesmal auftischen sollte. Momentan war seine Ma unmöglich in der Lage, irgendwo aufzukreuzen. Bei dem Gedanken an sie schlug sein Herz schneller, den ganzen Vormittag schon hatte er ein ungutes Gefühl.
Als Sascha zur Haltestelle rannte, sah er den Bus gerade die Türen schließen und anfahren.
„Shit!“, dachte er und sprintete los, rutschte auf dem schneeglatten Fußweg aus, rappelte sich wieder hoch und klopfte an die Scheibe der Vordertür. Der Fahrer bremste und öffnete sie noch einmal, mit genervtem Blick.
„Danke“, murmelte Sascha, als er an dem Mann vorbeiging.
Nur einen freien Sitzplatz konnte er entdecken, neben Sabrina, die ihre Tasche vom Nachbarsitz nahm, als sie ihn sah. Er ließ sich neben ihr nieder und vermied es, das hübsche Mädchen anzuschauen. Sie wohnte irgendwo in seiner Siedlung, zumindest stieg sie immer an derselben Haltestelle ein und aus wie er. Genau wie die Idioten, die ganz hinten im Bus lärmten und grölten: Nick und seine Kumpels, die wie Sabrina die Parallelklasse besuchten.
„Na, den Schnee geküsst, Arschloch?“, rief Nick ihm zu, einige lachten. Sascha reagierte nicht, starrte vor sich hin, warf einen Blick auf seine Uhr. Konnte der Bus nicht schneller fahren? Musste jede Ampel rot sein? Das beklemmende Gefühl in seiner Brust wurde immer stärker, er zupfte pausenlos an der Lasche seines Rucksacks, während sich sein rechtes Knie wie ein Bolzen auf und ab bewegte. Quälend langsam kroch der Bus durch den Stadtverkehr.
Endlich hielt er in ihrem Viertel und spuckte die Fahrgäste aus, auch Sascha drängelte zum Ausgang. Er musste seine Ungeduld unterdrücken, als eine alte Frau in Schneckentempo vor ihm aus dem Bus kletterte. Auf keinen Fall wollte er jetzt noch in ein Gefecht mit Nick und dessen Freunden verwickelt werden, die stets darauf aus waren, ihn fertig zu machen.
Endlich auf der Straße eilte er auf seinen Block zu, als ihn ein gutgezielter Eisball mit voller Wucht an der Schläfe traf. Der Schmerz ließ ihn zusammenzucken, doch er lief weiter.
„Hey, Arschloch, bleib` stehen und küss` noch mal den Schnee!“ Eine mehrstimmige Lachsalve ertönte. Sie folgten ihm.
„Loser! Ich red` mit dir!“, ertönte es hinter ihm, während ein Hagel von Schneebällen auf seinen Hinterkopf und seinen Rücken einprasselte.
„Nächstes Mal bist du dran, Opfer!“, rief Nick, der seinen Wohnblock erreicht hatte und auf den Hauseingang zustrebte, doch seine Freunde schmissen weiter Schneebälle.
Sascha presste die Lippen zusammen, sein Auge pochte. Hoffentlich wurde kein sichtbarer blauer Fleck daraus … Das fehlte ihm gerade noch, es wäre ein gefundenes Fressen für den Klassenlehrer, noch einmal nachzubohren. Idioten! Aus dem Augenwinkel bemerkte er Sabrina, die stehengeblieben war und ihm nachblickte, bevor er endlich um die Ecke bog und den Geschossen entkam.
Immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend stürmte Sascha das Treppenhaus hinauf, dabei lauschte er auf Geräusche von oben. Das Licht war schon wieder kaputt, durch eine Wohnungstür dröhnte dumpf Schlagermusik, sonst war alles ruhig.
Eine Nachbarin wischte die Treppen im 4. Stock und warf ihm einen finsteren Blick zu, als er über die feuchten Stufen stieg. Mit vier weiteren Sätzen erreichte er den fünften Stock, zog den Schlüssel aus der Tasche, sperrte auf und schaltete das Licht an. Seine Augen scannten den Flur. Mist. Sein Herzschlag beschleunigte sich wieder. Die Stiefel seiner Mutter lagen in kleinen Pfützen geschmolzenen Schnees, sie war draußen gewesen … Er schnupperte. Er hasste diesen Geruch, er bedeutete nichts Gutes.
„Ma?“, rief er leise und blickte über den Flur eilend in die Zimmer. Er fand sie, als er die Küche betrat. Der Gestank, der ihm dort entgegenschlug, war kaum auszuhalten. Seine Mutter kauerte auf dem Boden inmitten von Scherben zerbrochener Flaschen und Erbrochenem, das Haar hing ihr in Strähnen ins Gesicht, während sie erfolglos versuchte, aufzustehen.
Da war auch Blut, wie er entsetzt feststellte. Der beißende Geruch des Fusels vermischte sich mit dem der Kotze, die auch auf die unteren Küchenschränke gespritzt war. Ein Würgen stieg in Saschas Kehle hoch, das er unterdrückte, als er auf seine Mutter zutrat.
Doch bevor er ihr aufhelfen konnte, kam sie von allein auf die Füße, sie schwankte. Ihre Hand blutete, ein Schnitt klaffte in der Handfläche. Erleichtert stellte Sascha fest, dass sie keine weiteren Verletzungen davongetragen hatte.
„Scheiße! Die Flasche is …“, lallte sie, taumelte auf die Küchenzeile zu und stützte sich an der Theke ab.
„Lass mich mal sehen,“ sagte Sascha in beruhigendem Tonfall und trat auf sie zu.
„Hau ab - lass mich.“ Sie schubste ihn von sich, doch er griff nach ihrem Handgelenk. Einige Splitter steckten noch im Ballen des Daumens.
„Halt still, Mama.“ Sie schimpfte vor sich hin, und als er die Scherben herauszog, schrie sie auf und schlug mit der unverletzten Hand auf ihn ein, dann sackte sie wieder zusammen, so dass er sie stützen musste.
Sie roch so erbärmlich, dass Sascha durch den Mund atmen musste, als er sie zum Bad führte. Ihre Aggressivität wich nun der Jämmerlichkeit, sie begann zu heulen und zu schnüffeln und stammelte Unverständliches vor sich hin, während die Tränen über ihre aufgedunsenen Wangen rollten.
„Ist gut, Ma, ist gut. Lass mich das Blut abwaschen.“
Nachdem er die Wunde versorgt hatte, säuberte er ihr Gesicht und Hals. Widerstandlos ließ seine Mutter sich ein frisches Nachthemd anziehen, danach verfrachtete er die bitterlich Schluchzende ins Bett, wo er ihre Hand hielt. Erst als sie mit offenem Mund in einen komatösen Schlaf gefallen war, erhob er sich vom Bettrand, stellte ihr einen Eimer vor den Nachttisch, und begann, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen.
Als es draußen dunkel war, griff Sascha nach der Tasche mit den klirrenden Flaschen.
Auf dem Weg zum Parkplatz, wo die Mülltonnen und Container standen, musste er daran denken, wie er früher immer auf dem Schulweg die leeren Schnapsbuddeln in seinem Ranzen dorthin geschmuggelt hatte, stets auf der Hut, dass kein Nachbar ihn beim Einwerfen sah ...
Ihm war kalt. Sie hatten Frost und seine Jacke war viel zu dünn, er ignorierte seine zitternden Glieder, die das Glas bei jedem Schritt zum Klimpern brachten. Wie er dieses Geräusch hasste!
Die Intervalle ihrer „ganz schlimmen Tage“ wurden kürzer, das machte ihm Angst.
Erst in zwei Wochen waren Weihnachtsferien, bis dahin konnte er nicht kontrollieren, was passierte oder ob sie die Wohnung verließ, um sich zusätzlich Alk zu besorgen. Aber krankmelden ging nicht. Er musste zur Schule. Er hatte bereits zu viele Fehltage wegen ihrer letzten „schlechten Phase“ im Herbst, mehr konnte er sich nicht leisten. Schon gar nicht, wo der Feldmann ihn jetzt angelabert hatte.
Unauffällig bleiben, das war wichtig. Sascha wollte sich nicht ausmalen, was passierte, wenn sein Lehrer oder irgendwer anders das Amt verständigte.
Am Container angekommen schob er gerade die dritte Flasche ein, als eine Stimme hinter ihm erklang.
„Das habe ich früher auch gemacht.“
Beinahe wäre ihm die Pulle aus der Hand gerutscht.
„Musst du mich so erschrecken?“, entfuhr es ihm. Sabrina trat aus dem Schatten in das Licht der Straßenlaterne, die Hände in ihren Jackentaschen, und sah zu, wie Sascha weitere Flaschen einwarf.
„Was glotzt du so?“
„Tu was dagegen.“ Sabrina ging noch einen Schritt auf ihn zu, ihr leichtes Parfüm wehte ihm entgegen, erfüllte ihn mit einer seltsamen Sehnsucht.
„Ich weiß nicht, was du meinst. Wir hatten `ne Party und ich bring` die Pullen weg, na und?“ Trotzig warf Sascha die letzten Flaschen ein, doch sein Herz hämmerte bis in seinen Hals hinauf. Sabrinas Miene war unergründlich, als sie ihn einige Sekunden lang anblickte. Dann drehte sie sich um und schlenderte fort, ihre Schuhe knirschten leise auf dem Schnee.
„Ich wohne in der 76, Sabrina Jelzek“, hörte er noch, bevor die Dunkelheit das Mädchen verschluckte.
Die nächsten Tage verliefen friedlich.
Auch an diesem Morgen war seine Mutter auffallend gut drauf, sie sprach normal mit ihm und er konnte sie sogar überreden, zu ihrem Kaffee ein Toastbrot zu essen.
„Ruh dich aus, heute habe ich nur bis eins Schule.“ Mit Blick auf ihr fettiges Haar fügte er hinzu. „Vielleicht badest oder duscht du heute mal, ja? Ich bring` uns nachher was von Ali zu essen mit, okay?“
Wenn Ma heute schon frühstückt, dachte er, isst sie bestimmt auch mit mir zu Mittag.
Er küsste sie auf die Wange und ging.
Heute war ein guter Tag, nichts Dramatisches würde passieren, das spürte er und entspannte sich, als er zur Haltestelle lief.
Nach Schulschluss stieg er eine Station früher aus und besorgte zwei Mal Döner im türkischen Imbiss. Das Gespräch mit Feldmann hatte er im Namen seiner Mutter abgesagt, sie sei krank und der nächste Terminvorschlag würde von ihrer Seite kommen. Der Lehrer hatte sich zwar nicht begeistert gezeigt, aber das war Sascha egal, es verschaffte ihm erst mal ein bisschen Luft.
Ans Telefon ging sie sowieso nie, falls Herr Feldmann sie anzurufen versuchte. Wenn sie jetzt auch weiterhin eine „gute Phase“ hatte, was er hoffte, könnte sie vielleicht nach den Weihnachtsferien an dem Gespräch teilnehmen.
Er verließ den Imbiss und schaute auf die elektronische Anzeige der Haltestelle. Der Bus würde erst in sechs Minuten kommen, da war er zu Fuß schneller. Aus der schwenkenden Tüte stieg ihm der köstliche Duft des türkischen Essens in die Nase. Er hatte Hunger.
An der Ampel, die dem Supermarkt seiner Siedlung gegenüberlag, musste er stehenbleiben. Er bemerkte eine kleine Ansammlung von Menschen auf dem Platz. Neugierig versuchte er, an den Gaffern und miteinander Tuschelnden vorbei zu spähen, was da los war. Als er einen Blick darauf erhaschte, rutschte ihm die Tüte aus der Hand und etwas quetschte sein Herz und seine Kehle gleichermaßen fest zu. Oh mein Gott - Scheiße! Nein - Scheiße! Mehr konnte er nicht denken, als er bei Rot über die Straße rannte, ein Auto musste vollbremsen und hupte.
Endlich hatte er sie erreicht. Seine Mutter taumelte, barfuß, nur mit Unterwäsche bekleidet, vor dem Supermarkt herum und brüllte die Leute an, doch konnte man ihr aggressives Gestammel kaum verstehen, nur die Schimpfwörter, die sie immer wieder ausstieß.
„Wichser!“, hörte er sie schreien, als er auf sie zustürmte und sie am Arm packte.
„Ma, komm mit!“
„Pfoten weg, verpiss dich“, fauchte sie und riss sich los, um zu stolpern und in den Schnee zu stürzen. Sie zitterte am ganzen Leib, als hätte sie Schüttelfrost, die Kälte und der Alkohol lähmten sie, hinderten sie daran, aufzustehen. Einige Umstehende lachten und zeigten mit dem Finger auf seine Mutter, andere hatten ihre Handys gezückt und machten Aufnahmen von der abgemagerten Jammergestalt.
„Das ist das Letzte!", murmelte eine alte Frau neben ihm, Abscheu in den Zügen. Sascha fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss, ohnmächtig vor Scham, vor Wut, auf der anderen Seite hatte ihn die Furcht gepackt.
„Haut ab!“, schrie er den filmenden Leuten entgegen, während er sich aus seiner Jacke wand, er zog seine Mutter hoch und wollte sie ihr um die Schulter legen. Dabei fiel sein Blick auf ihre bereits blau gefrorenen Füße. Doch sie schüttelte ihn ab und torkelte wieder auf den Supermarkt zu.
„Die Schweine - elende Schweine, die lassen mich nicht rein …“
Nun packte Sascha sie endgültig, hüllte sie in seine Jacke und zerrte sie mit sich. Wieder begann sie ihn zu schlagen, doch obwohl die Hiebe schmerzten, ließ er sie gewähren und hastete mit ihr weiter. Die Gaffer wichen ihnen aus, wieder lachte einer. Sascha hatte das Gefühl, sein Kopf platze gleich.
„Was glotzt ihr so?!“ Er schubste einen Mann aus dem Weg.
„Asoziales Pack!“, spuckte der ihnen hinterher, während Sascha seine inzwischen heulende Mutter zu ihrem Haus zerrte.
Mein Gott, was wird nun geschehen? Hat uns jemand erkannt? Kann ich sie überhaupt noch schützen?
Im Treppenhaus brach sie plötzlich zusammen, sackte einfach so weg und knallte mit dem Kopf auf die Stufen.
„Ma, hey, Ma!“ Sascha rüttelte sie an der Schulter, klopfte ihr mit der Hand auf die Wange, doch ihre Augen blieben geschlossen. Panik erfasste ihn, als er ihren eiskalten Körper auf seine Arme hob und die Treppen hochschleppte. Wie leicht sie ist, schoss es ihm durch den Kopf. Ihr Gesicht ruhte an seinem Hals, er roch den Fusel, den sie aus allen Poren ausdünstete. Asoziales Pack.
Wo hatte sie den Stoff nur versteckt gehabt? Warum hatte sie sich heute, ohne böse Vorzeichen, als er von einem guten Tag ausgegangen war, so fürchterlich volllaufen lassen?
Vor der Haustür angekommen, musste er sie ablegen, um den Schlüssel aus der Tasche zu ziehen und die Tür aufzuschließen. Ihr Gesicht war kalkweiß, als er sie auf das Sofa bettete. Auf dem Couchtisch standen zwei leere Flaschen Wodka. Rasch suchte er mehrere Decken zusammen und legte sie über den leblos wirkenden Körper, tastete nach ihrem Handgelenk, schreckensstarre Sekunden lang glaubte er, keinen Puls zu fühlen. Doch, ganz schwach pochte es.
Sascha verzog das Gesicht zu einer stummen Grimasse, die Tränen brannten in seinen Augen, so dass er sich die Fäuste darauf presste.
Was nur sollte er tun? Hatte sie sich ins Koma gesoffen??
Er ließ sich neben ihr auf die Knie fallen, betrachtete ihr bleiches, von roten Äderchen durchzogenes Gesicht, das schüttere Haar.
„Mama, wach auch, bitte, wach auf!“ Wieder schüttelte er sie, doch sie reagierte nicht.
Wie lange er dort saß, wusste er nicht, doch irgendwann griff er in seine Jacke und zog sein Handy hervor, drückte die Nummer, die er nie hatte wählen wollen. Die er für den äußersten Notfall gespeichert hatte. Der war jetzt eingetreten. Kurz bevor ihn der Mut verließ und er den Anruf beendete, hob jemand ab.
„Sozialpsychiatrischer Dienst Hamburg, mein Name ist Uta Hegemann?“
Während Sascha die kalte Hand seiner bewusstlosen Mutter hielt, bemühte er sich um eine feste Stimme, als er die Lage erklärte.
Sabrina saß mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Kim in der Küche beim Abendbrot, als es klingelte. Ihre Mutter zog die Augenbrauen hoch.
„Erwartest du noch jemanden?“ Sabrina schüttelte den Kopf, schob ihren Stuhl zurück und ging öffnen.
Im Treppenhaus stand Sascha, das Gesicht eine versteinerte Maske, die Hände zu Fäusten geballt.
„Hi,“ sagte sie überrascht. „Komm rein.“ Sie trat einen Schritt zurück, um ihn einzulassen. Doch er bewegte sich nicht von der Stelle. Sabrina sah, dass er unterdrückt zitterte.
„Sie haben sie mitgenommen“, presste er so leise hervor, dass sie ihn kaum verstehen konnte.
„Was?“
„Ich hab' angerufen und … sie haben sie abgeholt.“
Sabrina zog ihn in die Wohnung und schloss die Tür, dann nahm sie ihn einfach in den Arm. Sein Körper versteifte sich augenblicklich, sie merkte, dass er sich von ihr lösen wollte, doch sie hielt ihn weiter, bis sein Widerstreben endlich erschlaffte und er zu schluchzen begann.
„Ich hab' sie verraten,“ flüsterte er und klammerte sich an dem Mädchen fest. „Scheiße, ich hab' sie verraten.“
Eine ganze Weile standen sie so auf dem Flur, Sabrinas Mutter zog sich mit Kim ins Wohnzimmer zurück. Inzwischen war Sascha sein Ausbruch peinlich, er wollte wieder gehen, doch Sabrina schob ihn in die Küche, auf einen Stuhl, und nahm gegenüber Platz. Die abgeblendete Hängelampe tauchte ihre feinen Züge in goldenes Licht, als sie ihm einen Becher Tee einschenkte und vor ihm abstellte.
Als er erstmal zu reden anfing, war es, als ob ein Damm bräche, alles platzte aus ihm heraus, der Wahnsinn, das ganze Leid der letzten Jahre.
Nachdem sein Vater vor sechs Jahren tödlich verunglückte, hatte sie mit dem Trinken begonnen, erst heimlich und ab und zu, dann immer offensichtlicher und hemmungsloser.
Sascha wischte sich über die Nase.
„Sie war … sie war nicht immer so wie jetzt … so ein Wrack. Du hättest sie früher sehen sollen. Taff war sie, engagiert, sie hat als Lehrerin gearbeitet. Wir haben so viel zusammen gemacht. Doch dann hat sie ihre Arbeit verloren, weil sie ständig besoffen war … und wir mussten hierher ziehen, in das Scheiß-Ghetto ...“
Sascha verstummte und schluckte. Mist, das hätte er nicht sagen sollen. Vielleicht hatte ihre Familie schon immer hier gelebt. Aber in Sabrinas Augen glaubte er dasselbe Wissen zu sehen, als spiegelten sich seine Erinnerungen in ihnen.
„Dann kam die Zeit des Vertuschens. Der Einsamkeit. Keiner durfte etwas erfahren. Das hieß für dich, keine Freunde einzuladen, und deshalb auch keine mehr zu besuchen“, fuhr sie für ihn fort.
„Warst du auch oft neidisch auf die Kinder, die es so leicht hatten? Ohne Sorgen, die lachen konnten?“
Sabrina nickte. „Ich hatte tausend Entschuldigungen dafür, warum es so ist, warum ich alles allein schaffen und mich um Kim kümmern muss, warum sie so unberechenbar ist, mich anschreit und schlägt, und sie sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnert. Doch -“ Nun griff Sabrina nach Saschas Hand. „meine Mutter hat sich vor zwei Jahren selbst Hilfe geholt. Einer der Nachbarn hatte beim Jugendamt angerufen, die haben jemanden vorbeigeschickt, der ihr die Konsequenzen aufzeigte. Sie hat einen Entzug gemacht, dann sind wir zur Familientherapie gegangen. Ich hoffe so sehr ...“
Plötzlich zog Sascha seine Hand zurück, und Sabrina hielt inne. Er wusste nicht, warum er diesem Mädchen all das erzählte, fühlte sich so erschöpft, leer. Er wollte alleine sein.
„Ich geh mal wieder 'rüber“, murmelte er und stand auf. Sabrina erhob sich ebenfalls.
„Warte, ich hab' noch was für dich.“ Sie verließ die Küche und kehrte kurz darauf mit einem Umschlag zurück. „Lies das in Ruhe. Und leg` s nicht gleich weg, denk` darüber nach, ja?“
Obwohl es ihn erneut überforderte, drückte sie ihn wieder und entließ ihn dann in die Nacht.
Zuhause angekommen betrat Sascha die verwaiste Wohnung, die ihm noch nie so trostlos vorgekommen war wie jetzt.
Nachdem er sich die Zähne geputzt hatte, legte er sich auf sein Bett und riss den Umschlag auf. Eine Broschüre der örtlichen Suchtkrankenhilfe rutschte heraus und ein vollkommen zerknitterter kleiner Zettel, mit einer ordentlichen Kinderschrift bedeckt. Den musste Sabrina geschrieben haben, als sie jünger gewesen war. Am oberen Rand entdeckte er eine hastig gekritzelte Notiz, die sie wohl eben erst verfasst hatte: „Meld' dich, wenn du Hilfe brauchst. Du hast das Richtige getan. Sei stark, S.“
Tränen stiegen Sascha in die Augen, als er die englischen Zeilen überflog und für sich übersetzte:
The seven C
I didn ` t cause it. ( Ich habe es nicht verursacht.)
I can ` t control it. (Ich kann es nicht kontrollieren.)
I can ` t cure it. (Ich kann es nicht heilen.)
But:
I can help take care of myself by communicating feelings. (Ich kann mich um mich kümmern, indem ich Gefühle äußere.)
Making good choices and celebrating myself. (Gute Entscheidungen treffe und mich selbst hochhalte.)
Er ließ die Worte in sich nachhallen, doch wirklich berühren taten sie ihn nicht. Aber Sabrina waren diese Sätze so wichtig gewesen, dass sie sie immer wieder gelesen hatte. Vielleicht würde auch er irgendwann an den Punkt gelangen.
Mama.
Wie es ihr wohl gerade ging? Was machte sie? Und – hasste sie ihn jetzt?
Mit diesem beunruhigenden Gedanken schlief er endlich ein.
6 Wochen später
Draußen blühten die Schneeglöckchen und ersten Krokusse, wie bunte Signallichter leuchteten letztere aus dem Schnee, der die Rabatten vor dem riesigen Gebäude bedeckte.
Saschas Hände waren schweißnass, sein Herz klopfte zum Zerspringen. Wie ferngesteuert setzten sich seine Füße voreinander, als er die Eingangshalle der Klinik betrat und sich auf den Empfangstresen zubewegte. Heute würde er sie zum ersten Mal besuchen. Zuvor hatte es eine Kontaktsperre gegeben.
Er nannte seinen Namen und sein Anliegen und die Dame am Empfang führte ein kurzes Telefonat, bevor sie ihm den Weg beschrieb. Er lief den langen Flur entlang, auf eine große Glastür zu und trat hinaus auf eine Terrasse, von der zwei Treppen in einen parkähnlichen Garten führten. Irgendwo zwitscherte ein Vogel, als Sascha seine Augen über das Gelände schweifen ließ, und sein Herz setzte einen Schlag aus, als er sie entdeckte.
Sie saß von ihm abgewandt auf einer Bank, trug einen warmen Mantel, eine Decke war um ihren Unterleib gewickelt und blickte in den Garten. Saschas Stiefel knirschten auf dem Schnee, als er auf sie zutrat, doch sie schien es nicht wahrzunehmen. Neben der Bank blieb er stehen und betrachtete sie. Ihr Haar war gewaschen und gekämmt, ihr Gesicht nicht mehr so aufgedunsen, obwohl er glaubte, dass sie ein wenig zugenommen hatte.
„Hey, Ma“, flüsterte er. Endlich hob sie den Kopf und sah ihn an. Ihr Mund verzog sich zu einem kleinen Lächeln, das ihm einen Stich versetzte, weil es ihn an früher erinnerte.
„Schön, dass du da bist. Setz dich,“ sagte sie leise und klopfte neben sich auf die Bank. Sascha folgte ihrer Bitte, überlegte, wie er seine nächsten Worte formulieren sollte, die Entschuldigung dafür, dass er sie ohne ihr Einverständnis hatte hierher bringen lassen, doch sie kam ihm zuvor und ergriff seine Hand.
„Sascha, ich … es tut mir so leid. Alles tut mir so leid.“ Ihr Sohn konnte nichts dagegen tun, statt der Worte brachen lautlose Tränen aus ihm heraus, auch seiner Mutter lief eine über die Wange.
„Vielleicht kannst du mir irgendwann verzeihen“, murmelte sie und zog ihn, seit Jahren zum ersten Mal wieder, in ihre Arme, streichelte über seinen Kopf, ein lang vermisstes, tröstliches Gefühl durchströmte ihn. „Alles wird wieder gut."
„Wir werden das schaffen, Ma, wir schaffen das“, schluchzte Sascha an ihrer Schulter.
Seine Mutter verstärkte die Umarmung und antwortete mit fester Stimme: „Nein, Sascha, ich muss es schaffen, und ich werde es schaffen. Das verspreche ich dir, und mir selbst …“
Sie saßen noch eine ganze Weile so beisammen, und die Kälte konnte ihnen nichts anhaben.
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Bild von Mary Gorobchenko auf Pixabay
Cover: bearbeitet von U. Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 08.12.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Beitrag zum Kurzgeschichten-Wettbewerb 2012 mit dem Thema "Angst" --- Platz 1---