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Jimmy Flannigans Handy gab einen Signalton von sich. Er zog es hervor und blickte aufs Display. Die Nummer war ihm vertraut. Er las die kurze Mitteilung, betrachtete das Foto und prägte sich die Informationen ein, bevor er die Nachricht löschte.

Ein lukrativer Job von dem Mann, zu dem er rein telefonischen Kontakt pflegte und den er nur unter dem Namen „Boss“ kannte. Flannigan wusste aber, dass dieser eine große Nummer in der Chicagoer Unterwelt war. Er hatte Jimmy – wie immer - nur Namen, Ort und Uhrzeit sowie die Art „der Beseitigung“ durchgegeben: Mary McQueen, dem Bild nach eine alte, betuchte Dame, Hotel Rosenbloom hier in Chicago, 20 Uhr an diesem Abend. Er sollte die Zielperson - getarnt als Fahrer - am Flughafen abholen, auf das Hotelzimmer begleiten und ihr eine Spritze mit der von ihm schon öfter eingesetzten chemischen Substanz verabreichen, die sie zunächst nur betäubte. Dann würde er die alte Lady auf das Bett legen und verschwinden. Zwei Stunden später wäre sie tot. Der gerufene Notarzt würde einen natürlichen Tod diagnostizieren, denn das Opfer hatte das passende Alter, und: Das tückische Gift hinterließ keinerlei nachweisbare Spuren im Körper. 

Niemand würde den gutaussehenden, gepflegten „Chauffeur“ in Uniform mit dem tragischen Verscheiden der Frau in Verbindung bringen - falls überhaupt jemand sie auf ihrem Weg zum Zimmer beachtete und im Gedächtnis behielt, denn das kleine Hotel wurde hauptsächlich von alten Damen mit Personal frequentiert. Ein Kinderspiel. Derartige Aufträge – und auch weitaus spektakulärere - hatte Jimmy schon oft durchgezogen und mit seinen 36 Jahren längst ausgesorgt, besaß genug, um ein Privatier zu werden. Jimmy grinste. Pri-va-tier. Er mochte das Wort, sehr sogar.

Und - alles hatte ein Verfallsdatum, sowohl Gutes wie auch Schlechtes. Lebensabschnitte, Beziehungen. Auch die Art, wie man sein Geld verdiente. Er wollte neu anfangen. Diese Mary McQueen sollte sein letzter Job als Profikiller sein – das wusste nur der „Boss“ noch nicht. Wenn Jimmy das Geld für das Umlegen der Lady kassiert hatte, würde er untertauchen.

Es war an der Zeit, vor einigen Monaten hatte er eine umwerfende Frau kennengelernt, die sein Leben vollkommen auf den Kopf stellte. Einziges Problem:  Sie war gebunden, an einen Mann mit weitreichenden Beziehungen. Allegra hatte ihn angefleht, ihre Liebschaft geheim zu halten. Sie sträubte sich dagegen, Jimmy auch nur den Namen ihres Mannes zu nennen, um ihn – wie sie sagte – „vor der Dummheit zu bewahren, sich mit diesem Monster anzulegen“. Sie wollte sich und ihn nicht in Gefahr bringen, sondern mit ihm fliehen, in ein neues Leben. Trotz seines Drängens hatte er Allegra nicht mehr entlocken können, als dass ihr Mann hinter seiner großbürgerlichen Fassade ein durchtriebenes, sadistisches Scheusal sei, eine Giftspinne im Netz, in dessen Händen viele schmutzige Fäden zusammenliefen.

„Er betrachtet mich als seinen Besitz“, hatte sie mit Tränen in den Augen erklärt, und es war für Jimmy offensichtlich, wie sehr sie sich vor ihrem Mann fürchtete.

Würde sie auch vor ihm, ihrem Geliebten, Angst haben und Widerwillen empfinden, wenn sie wüsste, wie er sein Geld verdiente? Ihr hatte er nur gesagt, er hätte durch erfolgreiche Aktien-Geschäfte ausgesorgt, und damit war sie zufrieden gewesen. 

Nun gut, er würde sich mit Allegra ins Ausland absetzen, denn ein Leben ohne sie konnte er sich nicht mehr vorstellen.
Der Boss wird nicht amused sein, wenn ich einfach so abtauche …

Jimmy zog die Augenbrauen zusammen. Sein gefährlicher Auftraggeber konnte nichts ahnen, niemand außer Allegra und ihm wusste davon.

Rasch verdrängte er diesen Gedanken und zog erneut sein Mobiltelefon aus der Tasche, aber nur, um sich zu vergewissern, dass es auch angeschaltet war. 

Diesen Vorgang der Kontrolle wiederholte er bis zu fünfzig Mal in der Stunde. Kaum jemand wusste von seinem „Tick“, wie er es nannte. Er trug sogar ständig ein Ersatzhandy bei sich. 

In Gesellschaft versuchte er den Drang zu unterdrücken. Da er allein lebte und kaum Freunde besaß, konnte er dieses beängstigend-lächerliche Verhalten recht gut verbergen, auch Allegra hatte anscheinend noch nichts bemerkt. 

Sein Psychotherapeut, Dr. Snyder, den er aufgrund seiner unerklärlichen Furcht seit etwa einem Jahr wöchentlich konsultierte, hatte ihn bisher noch nicht von seiner Nomophobie, wie dieser es nannte, befreien können - von der Angst, ohne Mobilkontakt zu sein.

Erleichtert steckte Jimmy das Handy wieder in die Tasche. Seltsamerweise schien es ihm, als hätte sich die Phobie in den letzten Wochen eher verschlimmert als verbessert, es war sogar ein weiteres Problem hinzugekommen. Als er Dr. Snyder davon berichtet hatte, dass ihn nun auch Beklemmungsgefühle und Herzrasen überfielen, wenn er sich in engen Räumen wie Fahrstühlen aufhielt, hatte dieser nur wissend genickt.

„Mr. Flannigan, das mag Ihnen ungewöhnlich erscheinen, kann aber durchaus vorkommen. Dass eine weitere Phobie, in diesem Fall die Klaustrophobie, während des Behandlungszeitraumes auftritt, habe ich sogar schon öfter erlebt. Alles wird sich im Laufe der Zeit bessern, das versichere ich Ihnen.“

Der Arzt hatte ihn mit einem zuversichtlichen Lächeln bedacht und etwas auf einen Rezeptblock gekritzelt. „Nehmen Sie weiterhin morgens die Tabletten, die ich Ihnen verschrieben habe, und zusätzlich abends noch eine von diesen.“ Er hatte Jimmy den Zettel gereicht. „Diese Medikation wird, in Verbindung mit unseren Sitzungen, bald Wirkung zeigen, und sie letztendlich von Ihren Ängsten befreien.“ Mit festem Händedruck hatte er seinen Patienten verabschiedet und Jimmy hatte sich ein wenig beruhigt.

Dr. Snyder war der Beste in seinem Fachgebiet, wies die höchste Erfolgsquote auf, darüber hatte er sich vor der ersten Konsultation genau informiert.

Am Abend erschien Jimmy pünktlich zur vorgegebenen Zeit am Flughafen, um die Zielperson in Empfang zu nehmen. Schnell hatte er Mary McQueen zwischen den Urlaubern, Geschäftsleuten und Familien ausgemacht. Die alte Dame war zierlich wie ein Vögelchen und zog einen winzigen Rollkoffer hinter sich her.

Er setzte ein vertrauenserweckendes Lächeln auf und hielt das Pappschild mit ihrem Namen in die Höhe. Mit leicht zusammengekniffenen Augen blickte sich Mrs. McQueen um, endlich entdeckte sie „den Fahrer“ und trippelte mit einem Strahlen auf ihn zu.

„Fein, junger Mann, dass Sie so pünktlich sind. Ich mag Flughäfen nicht, wissen Sie?“

Etwas kurzatmig schritt sie neben dem vermeintlichen Chauffeur her, der ihr fürsorglich seinen Arm bot, was sie mit einem „Vielen Dank" quittierte, als sie sich bei ihm einhakte.

Ein unerklärlicher Ekel stieg plötzlich in Jimmy auf. Er konnte den Anblick der blaugeäderten, von Altersflecken übersäten Hand kaum ertragen, die auf seinem Arm ruhte, auch nicht den puderigen Altdamen-Geruch, der ihm in die Nase stieg. Sein Herz klopfte rascher und Schweiß brach ihm aus den Poren. Er versuchte, auf dem Weg zum Wagen durch den Mund zu atmen, am liebsten hätte er die Alte von seinem Arm geschüttelt wie ein lästiges Insekt. Was, zur Hölle, war los mit ihm?

Er bemühte sich, die aufkommende Panikattacke zu unterdrücken und betete Dr. Snyders „Worte für Notfälle“ wie ein Mantra in seinem Kopf herunter.

„ … nicht, junger Mann?“ Sie blickte fragend zu ihm auf. Shit, er hatte nicht zugehört.

„Ja, natürlich, Mrs. McQueen“, erwiderte er mechanisch und diese schien zufrieden mit seiner Antwort, während er ihr auf den Rücksitz der Limousine half.

Die Schweißperlen rannen ihm weiter über Stirn und Körper, sein Atem ging hektisch, als er sich hinter das Steuer setzte und den Wagen startete. Im Rückspiegel konnte er das Profil der alten Dame sehen, wie sie mit entspannter Miene auf die Skyline des abendlichen Chicago blickte.

Nur langsam bekam er sich wieder unter Kontrolle. Was war nur los mit ihm?

Bevor er sich mit Allegra absetzen würde, bräuchte er unbedingt noch einen Termin bei Snyder. Rasch warf er einen Kontrollblick auf sein Handy und konzentrierte sich dann wieder auf den Verkehr.

Zehn Minuten später parkte er vor dem Hotel und öffnete Mrs. McQueen die Wagentür.

Kaum blickte er in ihr faltiges Gesicht, begann sein Puls wieder zu rasen. Er musste sich zwingen, ihr die Hand zu reichen, seine war schweißnass.

Die Alte lächelte ihn dankbar an, aber Gott-sei-Dank wollte sie auf dem Weg zur Rezeption nicht wieder von ihm gestützt werden. Nachdem sie eingecheckt hatte, strebte sie auf die Fahrstuhltüren zu, die sich am Ende der Lobby befanden.

Oh nein! Daran hatte Jimmy nicht gedacht. In Hotels wurden Fahrstühle benutzt, vor allem von alten Leuten. Die Lobby war voll von ihnen, und beim Anblick der Menge von Senioren, die ihn umgaben, erfasste Jimmy ein seltsamer Schwindel, und er meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Seine Brust war wie zugeschnürt, eine Welle der Übelkeit breitete sich in seinem Magen aus, stieg bis in seine Kehle auf, aber er folgte der Dame.

Mit einem Pling! öffnete sich die Fahrstuhltür. Mrs. McQueen betrat die winzige Aufzugskabine und wandte sich um. Als Jimmy wie festgetackert mit ihrem Koffer stehenblieb, hob sie die Augenbrauen und legte den Kopf etwas schief.

„Geht es Ihnen nicht gut?“, zwitscherte sie.

Jimmy räusperte sich und lockerte unbewusst den Kragen seiner Uniform. Sein Mund war staubtrocken, er schluckte mehrmals. Erneut versuchte eine Panikattacke ihn zu überrollen – warum nur, verdammt, fürchtete er sich vor einer alten Frau und einem Fahrstuhl?

Er zwang sich, seine Füße voreinander zu setzen – konzentrierte seine Gedanken auf das Geld, das er verdienen würde – und betrat den Aufzug. Die Tür schloss sich und Jimmy presste seinen Rücken an die Stahlwand, seine Finger umklammerten die Haltestange. Sein Puls galoppierte und er begann unkontrolliert zu zittern. Mrs. McQueen musterte ihn, während sich der Fahrstuhl in die Höhe bewegte.

Plötzlich stoppte die Aufwärtsbewegung mit einem leichten Ruck, das Summen verstummte und das Licht in der Aufzugskabine erlosch. Nur noch die Notbeleuchtung spendete spärliches, fahles Licht. Jimmy glaubte, sein Herz bliebe stehen, er schnappte nach Luft. Oh, mein Gott! Er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen und während ihn die Panik endgültig übermannte, rutschte er an der Stahlwand hinunter und kauerte in der nächsten Sekunde vor Angst bebend auf dem Boden. 

„Jimmy, Jimmy ...", sprach die alte Dame sinnierend. „Was machen wir denn jetzt bloß?" 

Flannigan blickte zu ihr auf, sein Atem ging in heftigen Stößen. Dunkel wurde ihm bewusst, dass Mrs. McQueen ihn mit seinem Namen angesprochen hatte. Woher kannte sie ihn?

Nun beugte sie sich zu ihm herab, das gespenstische Licht verlieh ihrem Gesicht etwas Diabolisches, Jimmy glaubte, ihre Augen boshaft funkeln zu sehen. 

„Mein Sohn hatte Recht, in deiner jetzigen Verfassung stellst du keinerlei Problem für mich dar", flötete sie und ihrer Stimme haftete ein Unterton an, der Jimmys Panik verstärkte.

Mit einem Mal durchfuhr ihn trotz seiner Benommenheit eine Erkenntnis ... Der Boss! Er hatte dieses Treffen arrangiert, hatte ihm eine Falle gestellt! Fieberhaft versuchte er, die richtigen Worte zu finden, doch es kam nur eine Art Hecheln aus seinem Mund.

„Na, na, ganz ruhig", raunte Mrs. McQueen. „Du willst das Finale doch bei Bewusstsein erleben, oder?"

Sie lächelte, aber es war kein angenehmes Lächeln, es enthüllte zu viele falsche Zähne in ihrem alten Porzellanpuppengesicht.

„Finale? Was ... was will der Boss? Hat er mitbekommen, dass ich untertauchen will?", presste Jimmy hervor. Mrs. McQueens Grinsen wurde noch grausamer.

„Ja, das auch. Aber vor allem hättest du die Finger von einer bestimmten Lady lassen sollen. Du sollst nicht begehren deines nächsten Weib." Sie schnalzte mit der Zunge.Das hättest du als Katholik doch wissen müssen."

Jesus! Die Erkenntnis traf ihn wie eine gutplatzierte Linke. Allegra, mit dem mächtigen, gefährlichen Ehemann. Sie war die Frau vom Boss. Er hatte das Gefühl, sich gleich übergeben zu müssen.

Aus dem Augenwinkel sah er die Alte in ihrer Tasche wühlen, nutzte ihr Abgelenktsein, um unauffällig sein Handy hervorzuziehen. Shit, kein Empfang.

Es flimmerte vor seinen Augen, er stand kurz vor einer Ohnmacht. Raus hier! Sofort! Jetzt wandte sich Mrs. McQueen ihm wieder zu, sie hielt irgendetwas in ihrer Hand, das er im Dämmerlicht nicht erkennen konnte. Was hatte sie vor? Hatte sie etwa eine Waffe dabei? Die Situation wurde immer absurder und albtraumhafter. 

„Bitte, tun Sie das nicht", ächzte Jimmy.

Die ging auf seine Worte gar nicht ein.

„Hast du dich nicht öfter gefragt, was mit dir los ist? Warum sich deine unerklärlichen Ängste in letzter Zeit häufen? Zuletzt kam noch die Gerontophobie dazu."

Sie brachte ihr Gesicht direkt vor seins, ihre Augen glitzerten vor Heimtücke.

„Und das ist jetzt der Supergau, nicht wahr? Gefangen in einem engen Fahrstuhl, ohne Mobilkontakt und mit einer alten Frau ..."

Jetzt erst wurde Flannigan bewusst, was hier ablief. 

„Wer sind Sie - und woher weiß der Boss von meinen Phobien?" Er leckte sich hektisch über die Lippen. „Bitte, Ma'am, lassen Sie mich mit dem Boss sprechen. Wir können alles klären."

Mrs. McQueen lachte ein perlendes Altdamengelächter, das ihm Schauer über den Rücken jagte.

„Das glaube ich kaum. Er nennt sich der Boss, aber er untersteht jemand weitaus Mächtigerem." Nun leuchtete ihr Gesicht vor selbstgefälligem Stolz, während sie sich langsam an Jimmy heranschob. „Ich lasse nicht zu, dass jemand unsere Familie zerstört! Du hattest das große Pech, dir ausgerechnet meine Schwiegertochter Allegra als Liebchen auszuwählen!"

„Wer sind Sie?", entfuhr es Jimmy wieder. 

„Ich bin der wahre Boss - und die Mutter von Dr. Alfred Snyder."

Mit diesen Worten rammte sie Jimmy eine Spritze in den Hals. Der sank mit offenem Mund und aufgerissenen Augen in sich zusammen, sofort begann das teuflische Gift, das er selbst so oft eingesetzt hatte, zu wirken. Was wird aus Allegra ...

„Schlaf schön, Jüngelchen."

Das Letzte, was er auf Erden sah, waren die gebleckten, künstlichen Zahnreihen von Dr. Snyders Mutter, die wie ein fanatischer Großwildjäger auf ihn herabblickte, bevor er in eine tiefe Bewusstlosigkeit fiel. Nachdem sie eine gewisse Zeit abgewartet hatte - niemand würde den kleinen, schleimigen Ehebrecher nun noch retten können - drückte sie zwei Knöpfe.

Die Deckenleuchten flammten wieder auf und der Fahrstuhl bewegte sich summend hinab in die Lobby.

Als sich die Tür aufschob, verwandelte sie sich wieder in die gebrechliche, alte Dame, setzte eine schockierte Miene auf und begann sofort zu rufen: „Hilfe! Schnell, hierher! Dieser junge Mann ist einfach zusammengebrochen!"

Der Portier reagierte sofort, gab dem Rezeptionisten einen Wink, den Notarzt zu verständigen, während er zum Fahrstuhl eilte, neben dem Bewusstlosen niederkniete und ihm zwei Finger auf die Halsschlagader legte. Bedauernd sah er zu der völlig aufgelösten Dame auf und schüttelte leicht den Kopf, dann erhob er sich, um sie zu stützen und ihr Trost zu spenden.

Dankbar schmiegte sich die schluchzende Seniorin in seinen Arm und nestelte nach einem Taschentuch in ihrer Handtasche.

 

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: Pixabay
Tag der Veröffentlichung: 10.11.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
"Furcht besiegt mehr Menschen als irgend etwas auf der Welt." Ralph Waldo Emerson

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