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Einst lebte im fernen Arabien ein mächtiger König namens Basim. Da er mit Weisheit und Güte über sein Reich regierte, wurde er von seinem Volk verehrt. Seine Gemahlin Jamila, die schönste Frau des Orients, war trotz ihrer strahlenden Anmut nicht hochmütig, sondern besonnen und besaß ein reines Herz. Die Freude war groß, als sie endlich ein Kind erwartete. Als Erstes erblickte Omar das Licht der Welt, ein wohlgeratener, großer Knabe mit kräftiger Stimme, und als der König seine Frau mit dem Neugeborenen im Arm sah, erfüllte es ihn mit Stolz.

Ein Jahr darauf gebar ihm Jamila einen weiteren Sohn, der den Namen Fassad erhielt. Wie sein Bruder war er stattlich, ganz nach dem Vater geraten, der ihn voller Wohlwollen betrachtete, ihm sanft über den Kopf strich.

Einige Zeit ging ins Land, dann stand die Ankunft eines dritten Kindes bevor. Doch diesmal zog sich die Geburt dahin, Stunde um Stunde, es war ein harter Kampf für die Königin. Basim hörte seine geliebte Jamila stöhnen und wehklagen, einen Tag und eine ganze Nacht lang, und jeder neuerliche Schrei stach ihm in die Seele, erfüllte ihn mit großer Sorge und Furcht. Einem gefangenen Tiger gleich schritt er hin und her und raufte sich verzweifelt das Haar, denn selbst der mächtigste Herrscher konnte einer Gebärenden das Leid nicht nehmen. Erleichterung durchflutete ihn, als es im Morgengrauen endlich vollbracht war und man ihn zu ihr rief.

Der König sank an Jamilas Lager auf die Knie und küsste seine Frau, die erschöpft und bleich, aber vor Glück strahlend auf den Kissen ruhte. In ihrem Arm geborgen lag das Kind, gesund wie seine Brüder, doch so zart und anmutig von Gestalt, dass Basim dachte, es müsse ein Mädchen sein. „Wie konnte dieses winziges Wesen, unsere Tochter, dir eine solch schwere Niederkunft bereiten?"

„Es ist kein Mädchen, es ist dein dritter Sohn, mein Liebster", widersprach Jamila. „Und es war weder seine noch meine Schuld, dass es so lange brauchte. Er soll Taher heißen, wie mein Vater, der ein großer, ehrbarer Kämpfer war.“

Der König dachte über ihre Worte nach, musterte lange seinen Jüngsten, das feine Gesicht mit den großen Augen. Da war ihm, als blickte er in Jamilas liebliche Züge und es erfüllte ihn mit tiefer Zärtlichkeit. Darum streckte er den Arm aus, umfasste behutsam die winzigen Finger des Neugeborenen, die in seiner großen Hand verschwanden. Und in diesem Moment spürte er, einem Zauber gleich, wie bei der zarten Berührung eine tiefe Wärme durch seine Finger, den Arm hinauf bis in seine Brust zog. Es fühlte sich an, als breite sein Herz Flügel aus, um sich wie ein Adler in die Höhe zu schrauben.

Jamila konnte ihm keine weiteren Kinder mehr gebären, dennoch schätzte sich Basim lange Zeit als der zufriedenste Mann der Welt, bis zu dem schrecklichen Tag, an dem seine geliebte Frau erkrankte. Von einer seltsamen Schwäche befallen schwand sie innerhalb kürzester Zeit einer welkenden Blume gleich dahin. Der König ließ die besten Ärzte des Landes kommen, doch keiner von ihnen vermochte Jamilas Leiden zu heilen, und ihr Strahlen und ihre Lebenskraft verblassten wie die untergehende Sonne.

Als sie ihr Ende nahen fühlte, weil der Tod seine kühlen, schwarzen Schwingen über sie legte, ließ Jamila den König rufen, der sofort an ihr Lager eilte und ihre Hand ergriff.

„Geliebter, ich muss gehen, aber lass mich dir versichern, dass du mich zur glücklichsten Frau auf Erden gemacht hast.“

Sie senkte die Lider, hatte kaum die Kraft, weiterzusprechen, und Basim stiegen Tränen in die Augen, derer er sich nicht schämte.

„Und du sollst wissen, dass ich der glücklichste Mann auf Erden war, durch dich an meiner Seite.“

Tiefe Verzweiflung überkam ihn, er presste seine Frau an sich, die leicht und zerbrechlich wie ein Vögelchen war, und schluchzte an ihren Hals: „Jamila! Wie soll ich ohne dich weiterleben? Kein neuer Morgen wird mehr für mich anbrechen, mein Leben wird sein wie eine ewige, dunkle Nacht. Bitte, verlass mich nicht!“

Er weinte bitterlich. Sie strich ihm über die Wange, ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, doch voller Zuneigung. „Sei stark. Das Volk und deine Söhne brauchen dich. Vergiss nicht, ein Teil von mir wird in ihnen weiterleben …“

Noch ehe der König antworten konnte, tat sie ihren letzten Atemzug und starb.

Basim tobte, wehklagte und brüllte. Er zerriss seine Gewänder, haderte mit Allah, dem Allmächtigen, und sperrte sich viele Tage in einem dunklen Turm ein, ließ niemanden zu sich, während seine Söhne und Untertanen ohne ihn trauern mussten.

Neben dem Gesang der Klageweiber vernahmen sie ein schauriges Geheul aus dem Turm und beteten zu Allah, hörte es sich doch an, als sei ihr großmütiger Herrscher dem Wahnsinn verfallen oder von einem Dämon besessen.

Erst am Ende des siebten Tages trat endlich Ruhe ein und der König verließ sein Gefängnis. Der Hofstaat hieß ihn willkommen, aber eine erschreckende Verwandlung war mit ihm vorgegangen.
Verschlossen war seine Miene, alle Güte aus seinem Gesicht und Gebaren geflohen, und sein Herz schien so hart geworden, als hätte sich ein steinerner Mantel darum gelegt.

Grob stieß er seine Untertanen beiseite, bahnte sich seinen Weg zum Thron, auf dem er Platz nahm. Er ließ sich Unmengen der köstlichsten Speisen, der kostbarsten Gewänder und Geschmeide bringen, doch mäkelte er an allem und ließ das meiste fortwerfen, anstatt es den Armen zu geben, wie es Sitte war und wie er es in früheren Zeiten stets getan hatte.
Bald darauf befahl er, den größten und prächtigsten Palast zu errichten, den Arabien je gesehen hatte, und wies seine Untertanen an, ihre eigentliche Arbeit niederzulegen, um Tag und Nacht an dem Prunkbau zu arbeiten. Wer nicht hart genug schuftete, wurde grausam bestraft.

Die Armen und Bittsteller, die er früher empfangen hatte, um sie zu speisen und sich ihre Sorgen und Nöte anzuhören, ihnen klugen Rat und Hilfe zu geben, ließ er fortjagen. Die Steuern wurden verdoppelt, damit der einst so besonnene Herrscher seiner immer maßloseren Genusssucht frönen konnte.

Die beiden älteren Königssöhne, Omar und Fassad, waren anfangs ebenso entsetzt über die Veränderung, die mit dem geliebten Vater vor sich gegangen war, wie der jüngere Taher. Doch lernten sie rasch, des Königs Wohlwollen auf sich zu ziehen, in dem sie ihm nach dem Munde redeten und schmeichelten, ihm fette und süße Köstlichkeiten brachten und sich fein herausputzten, um ihm zu gefallen.

Taher hingegen ritt täglich hinaus, um dem verzweifelten Volk Mut zuzusprechen und Nahrung unter den Ärmsten zu verteilen.

„Wo ist Taher? Warum leistet er mir keine Gesellschaft?“, fragte der König missmutig.

„Herr Vater, er treibt sich draußen herum“, behauptete Omar.

„Er schätzt Euch nicht so sehr wie wir“, fügte Fassad hinzu und beide freuten sich darüber, dass der König sie seine Lieblingssöhne nannte.

Da die Bauern durch die Arbeit an dem neuen Palast ihre Felder nicht mehr bestellten und ihr Vieh unversorgt blieb, brach eine Hungersnot im Volk aus. Aber Basim verschloss seine Ohren vor dem Klagen der Menschen.

Als Taher die Bauern zurück auf die Felder und in die Ställe schickte, zitierte sein Vater ihn vor Zorn bebend zu sich.

„Was fällt dir ein, die Bauern vom Palastbau zu befreien? Stellst du etwa meine Entscheidungen in Frage?“, brüllte er wie ein wütender Löwe.

Taher fürchtete sich vor seiner Raserei, dennoch blickte er ihm in die Augen und setzte zu sprechen an: „Mein Vater, verzeiht, aber ich glaube …“

Doch der hörte ihm nicht zu. „Hinaus! Dein Ungehorsam macht mich zornig. Geh mir aus den Augen.“

Und sein Sohn verließ mit schwerem Herzen den Saal.

Der König aber wurde krank durch seine Völlerei, gemeinsam mit den gefürchteten Wutausbrüchen schwächte sie sein Herz und raubte ihm immer öfter den Atem. Darum wies Taher die Köche an, dem Vater nur noch leichte Speisen zuzubereiten, worauf der erboste Herrscher die Küchenmeister vortreten ließ.

„Wer von euch wagt es, mir solch erbärmlichen Fraß vorzusetzen?“

Die Köche warfen sich zu Boden und flehten um Gnade. Taher trat vor und sprach: „Vergebt ihnen, sie handelten auf mein Geheiß. Ich dachte …“

Der König fiel ihm, rot im Gesicht und am Ende seiner Geduld, ins Wort: „Wenn du mich so wenig liebst, so will ich dich nicht mehr um mich haben! Verschwinde und wage es nicht, zurückzukehren!“

Er rief die Wachen und wies sie an, seinen jüngsten Sohn aus dem Palast zu werfen. Fortan musste Taher in Armut unter dem Gesinde leben und Spott und Häme der Speichellecker am Hof ertragen, die vor dem König katzbuckelten. Auch Omar und Fassad stichelten weiter gegen den Bruder und streuten Misstrauen in des Vaters Herz, um sich selbst zu erhöhen. Darum ließ der König seinen jüngsten Sohn, trotz dessen Bitten, nicht mehr zu sich.

Nicht lange darauf streckte ein schwerer Schwächeanfall den Herrscher nieder, das ausschweifende Leben forderte seinen Preis, und Basim glaubte, dem Tode ins Auge zu blicken. Er musste die Wahl treffen, wer nach ihm zum König ernannt würde. Und so ließ er die Prinzen, auch den verstoßenen Taher, an sein Lager rufen, wie es der Brauch verlangte.

„Meine Söhne“, sprach der König mit kraftloser Stimme, sah dabei nur die beiden Älteren an. „Der von euch soll mein Nachfolger werden, der mir das kostbarste Geschenk bringt und mir am glaubwürdigsten beweist, wie sehr er mich liebt. Morgen um dieselbe Stunde erwarte ich euch mit euren Gaben.“

Am nächsten Tag kehrten die Drei mit ihren Geschenken zu ihm zurück.

Omar schleppte den größten Diamanten herbei, den er hatte finden können und legte ihn dem Vater zu Füßen.

„Ich liebe Euch, weil Ihr strahlend und kostbar wie dieser Edelstein seid, der weiseste und gerechteste König unter der Sonne“, sprach er und verneigte sich.

Darauf trat Fassad vor und überreichte dem Vater einen goldenen Käfig, in dem ein prächtig schillernder, großer Pfau saß.

„Ehrwürdiger, dies ist der einzig verbliebene Vogel seiner Art. Er ist genauso unvergleichlich und selten wie Ihr, der Ihr der gütigste und besonnenste Herrscher unter den Sternen seid.“

Als Letzter kniete Taher vor seinem Vater nieder und bot ihm eine einzelne, braun verwelkte Rose dar.

Die Mundwinkel des Königs verzogen sich nach unten, in seinen dunklen Augen war weder Zorn, Erbarmen noch Hass zu erkennen. Sie wirkten so kalt und leer wie ein ausgehobenes Grab. Auf den Gesichtern der Brüder zeigte sich ein hämisches Grienen.

Wie konnte Taher nur so dumm sein zu glauben, eine vertrocknete Blume sei ein kostbares Geschenk?

„Mein Vater, ich bringe Euch diese Rose, die ich an dem Tage pflückte, als Ihr aus dem Turm kamt.“ Seine Stimme klang traurig, aber fest. „Wahrheit und Rosen tragen Dornen, und jeden Tag berührte ich sie, damit sie mich stach und daran erinnerte, dass der Mann, der sich so hart wie ein Diamant und so eitel wie ein Pfau zeigte, der all das Unrecht beging, nicht mein wahrer Vater ist.“

Taher schluckte, als er bemerkte, wie sich die Miene des Königs wie ein Eisentor verschloss, er unwillig die Brauen runzelte, ehe er den Kopf von ihm abwandte, doch er fuhr fort: „Ich liebe Euch, weil ich weiß, wer Ihr früher wart und wieder sein könnt. Ihr und Mutter seid es gewesen, die mich und meine Brüder lehrten, mutig und standhaft zu sein und stets die Wahrheit zu sagen."

Omar und Fassad erschraken, senkten ihre Köpfe, lauschten betreten, als Taher weitersprach. „Ihr brachtet uns bei, unser Volk zu achten und für sein Wohlergehen zu sorgen. Nichts wünsche ich mir mehr, als dass anstelle des fremden Tyrannen mein wahrer Vater, den ich über alles liebe, wieder gesund wird und vor mir steht.“

Sanft ergriff er die Hand des Königs, und bei der Berührung stieg wieder diese seltsame, doch wohlige Wärme in Basims Arm hinauf, wie damals, als er die Finger seines Letztgeborenen das erste Mal umfasst hatte und die Erinnerung traf ihn mit voller Wucht.

Die Worte des Sohnes berührten den König und ließen Risse in der steinernen Umklammerung seines Herzens entstehen. Und als er endlich in die Augen des Jüngsten schaute, da war ihm, als blickten ihn die seiner geliebten Frau an und sein Herz sprengte das Gefängnis.

„Oh, Taher, wie könnte deine Mutter mir je vergeben, wie kannst du mir je verzeihen. Ich habe zu viel schlimmes Unrecht begangen.“

Die Tränen liefen dem alten König über die Wangen. Auch Omar und Fassad standen in stummer Scham und wagten nicht, den Bruder anzusehen. Doch der umarmte erst sie, dann den Vater.

„Ich habe Euch schon verziehen. Auch das habt Ihr mich gelehrt, Allah sei Dank. Niemals rachsüchtig zu sein und denen zu vergeben, die ehrlich bereuen.“

Wie durch ein Wunder erholte sich der König und regierte noch weitere Jahre mit seiner einstigen Besonnenheit. Als Taher ihm auf den Thron folgte, wurde er zum größten und weisesten Herrscher, den das Reich je hatte, und die Legenden um ihn und sein Name sind bis heute unvergessen.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum Mini-Wettbewerb "Und wenn sie nicht vergessen sind..."

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