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Nera hieb seinem Hengst die Fersen in die Flanken, der Körper des Pferdes war bereits schweißgebadet und Schaum troff von seinem Maul. Sie schienen durch den Wald zu fliegen. Tiefer hängende Zweige schlugen dem Reiter ins Gesicht, als wollten sie ihn zurückhalten. Erneut gab er dem Tier die Hacken, musste es weiter antreiben. 

Sie verließen den Schutz der Bäume und jagten über die gerodete, öde Fläche, die Burg Cruchain umgab. Vor Jahren war auf König Aluinns Befehl jeder Baum im Umkreis einer halben Meile um die Festung gefällt worden, um der Gefahr eines Überraschungsangriffs zu entgehen.

Nera ahnte nur, dass es langsam Abend wurde, denn den ganzen Tag über war der Himmel wolkenverhangen und düster gewesen und der Nebel hatte sich nicht wirklich verflüchtigt. Jetzt, als sich die Kälte und die Schleier der Dämmerung über das Reich Tara legten, verdichtete er sich wieder und nahm dem einsamen Reiter die Sicht.

Niemand durfte sich heute nach Sonnenuntergang außerhalb sicherer Mauern aufhalten, selbst Nera nicht, der ein erfahrener und tapferer Krieger war. Es war der Abend von Samhain, die Nacht des Dunkelmonds, in welcher der Gott des Winters die Macht übernahm.

Sobald die Finsternis das letzte Tageslicht verschluckt hätte, würden die Grenzen und Tore zur Anderswelt sich auflösen und öffnen für die Geister, die Draugr und die Sidhe, wie die Wiedergänger und Feen in seinem Volk genannt wurden – sowie für andere, gefährliche Geschöpfe, denen die Menschen lieber nicht begegnen sollten. Nur in dieser einen Nacht konnten die Wesen aus der Anderswelt die Welt der Lebenden besuchen sowie die Sterblichen sich in die Anderswelt verirren.

Nera stand im Dienste von König Aluinn und Königin Nathaira und war auf dem Rückweg zur Burg Cruchain. Vor Tagen war er von dort aufgebrochen, um eine Botschaft Aluinns zu König Ennoch von Connacht zu bringen. Doch da es dem König des Nachbarreiches gefallen hatte, Nera lange warten zu lassen, bis er ihn endlich empfing, musste er nun so hetzen. Er fluchte über den arroganten, alten Herrscher, der ihm zudem noch eine für König Aluinn und seine Gemahlin äußerst unangenehme Antwort mit auf den Weg gegeben hatte.

Noch ein Mal trieb er seinen völlig erschöpften Hengst zur Höchstleistung an. Der mächtige Leib des Schlachtrosses erzitterte unter den Schenkeln des Kriegers. Er konnte es seinem treuen Pferd nicht verdenken, dass es nervös und ängstlich war. Es wollte ebenso schnell das sichere Cruchain erreichen wie sein Herr, schien wie dieser instinktiv die schleichenden Veränderungen in der Umgebung und Atmosphäre zu spüren.

In der herabsinkenden Dunkelheit sah Nera fahle Nebelbänke über den breiten Wassergraben der Burg ziehen. Er riss an den Zügeln. Das Pferd tänzelte unruhig und schnaubte, während sein Reiter an der Mauer hinaufblickte und den Wachen seinen Namen und das Passwort zurief. Als sie ihre Fackeln hoben, um ihn zu identifizieren, erkannte er die beiden schwer bewaffneten Männer. Es waren Kennan und Leith.

„Du bist spät, Nera!“, rief Kennan.

Unter vernehmlichem Kettenrasseln senkte sich die Zugbrücke in das feuchte Weiß des Nebels, der sich wie kalte Spinnweben über Neras Gesicht und seine unbedeckten Arme legte, als er über die Planken in den Hof hinein ritt. Sofort begannen die Wachen die Brücke wieder hochzuziehen, während er seinen Hengst einem herbeieilenden Stallburschen übergab und sich zu den Kriegerquartieren aufmachte.

Nur Momente nachdem er in sein Quartier zurückgekehrt war, trat ein germanischer Sklave ein.

Nera hatte gerade seinen Brustschutz und die ledernen Armschützer abgelegt, um sich den Schweiß und Dreck des langen Ritts vom Körper zu waschen. Der Mann neigte seinen Kopf vor ihm.

„Edler Krieger, verzeiht die Störung, aber Ihr sollt umgehend zur Königin kommen.“

Neras Blick streifte nur kurz das ausdruckslose Gesicht des Sklaven und wandte sich wieder der Waschschüssel zu. Auch wenn er sich äußerlich gelassen gab, beunruhigte ihn der Befehl der Königin. Warum sollte er sofort zu ihr? Hatte die Nachricht von König Ennoch nicht Zeit bis Morgen? War seine Herrin nicht - wie alle anderen - in der Großen Halle, in der bereits das Samhainfest begonnen hatte?

Bald würden die Druiden für Ruhe sorgen, um ihre traditionellen Zeremonien durchzuführen, aber noch konnte er das Grölen und Lachen der Männer, den Lärm des Trinkgelages bis in sein abgelegenes Quartier hören.

„Was wünscht die Königin von mir?“, fragte Nera und tauchte seine Hände in das Wasser, um sich das erfrischende Nass ins Gesicht zu spritzen. Nach dem tagelangen Ritt fühlte er sich müde und ausgelaugt, musste aber gleich, wie die anderen, in der Großen Halle erscheinen. Alle, ob jung oder alt, Männer oder Frauen, Sklaven oder edle Herrschaften, hatten am Fest teilzunehmen, so verlangten es Brauch und Tradition.

„Sie nannte mir keinen Grund, Herr. Sie wies mich nur an, Euch die Nachricht zu überbringen, sobald Ihr zurück seid. Ihr sollt Euch sofort zu ihr begeben.“

Nera wusch sich Brust und Arme. Ohne den Germanen anzusehen antwortete er: „Richte der Königin aus, dass ich gleich kommen werde.“

Der Sklave verneigte sich wieder und eilte davon.

Das Bild der Königin erschien vor Neras geistigem Auge und erfüllte ihn, wie stets, mit Unbehagen. Sie war eine sehr schöne Frau, doch ihr Wesen war von Hochmut und Grausamkeit geprägt. Ihr Name, Nathaira, bedeutete „Schlange“, und Nera konnte sich keinen passenderen vorstellen, wenn er an ihre kalten, meergrünen Augen und ihr aalglattes Auftreten dachte. An ihre unerbittliche Härte und Willkür, die jederzeit sprungbereit hinter ihrem hübschen Lächeln lauerten. An ihre unersättliche Lüsternheit, ihre Gier nach jungen Männern, die bis über die Grenzen Taras hinaus bekannt war.

Der Krieger verdrängte die düsteren Gedanken an seine Herrin, zog sich an und machte sich auf den Weg zu ihr.

Der Gang vor ihrem Trakt war verlassen, die Wachen und Sklaven schienen sich bereits in der Großen Halle aufzuhalten. Kalte Zugluft ließ die an den Wänden befestigten Fackeln vor sich hin rußen.

Nera blieb vor dem Gemach der Königin stehen und pochte leise an die Tür. Er erhielt keine Antwort. Noch ein Mal klopfte er, dieses Mal etwas lauter. Nichts.

Vorsichtig öffnete er die schwere Holztür und trat ein. Das riesige Gemach lag größtenteils im Schatten. Nur ein Feuer im Kamin und drei Fackeln in schmiedeeisernen, mannshohen Ständern spendeten Licht. Der flackernde Feuerschein ließ die Jagd-Szenen auf den erlesenen Wandteppichen lebendig wirken.

Neras Blick schweifte suchend durch den Raum und blieb an der prächtigen, großen Bettstatt der Königin hängen, die im Halbdunkel im hinteren Teil des Raumes stand. Die Liege war mit weichen Fellen und Kissen bedeckt, zwischen denen er seine Herrin erspähte. Sie hatte sich auf ihren rechten Unterarm gestützt und ihren Körper so positioniert, dass seine Vorzüge gut zur Geltung kamen: Der Schwung ihrer Hüfte, die verführerischen Rundungen ihrer Brüste, die aus dem tiefen Ausschnitt ihres kostbaren Kleides gepresst wurden.

„Ihr habt mich rufen lassen, meine Königin?“

„Tritt näher, Krieger“, befahl die Königin mit ihrer tiefen Samtstimme.

Zögernd trat Nera an ihre Bettstatt heran. Das hüftlange Haar seiner Herrin umfloss wie flüssiges Gold ihre zarten Schultern und die Pelze, auf denen sie ruhte. Das sanfte Licht des Feuers schmeichelte ihrem feingemeißelten Gesicht, machte seine Züge weicher und lieblicher und verbarg die Spuren ihres wirklichen Alters, das Nathaira so verhasst war.

„Nimm dir Wein“, forderte die Königin ihn auf und untermalte die Anweisung mit einer anmutigen Geste zu einem kleinen Tischchen mit Erfrischungen. Sie selbst griff nach ihrem Pokal, wohlbedacht darauf, Nera durch das Vorbeugen ihres Oberkörpers einen noch tieferen Einblick in den Ausschnitt ihres Kleides zu geben.

„Nein, habt Dank, Herrin. In der Halle wird der Wein heute noch in Strömen fließen.“

Nathaira lachte leise, es klang wie das heisere Gurren einer Taube. Sie senkte die Lider halb über die ausdrucksvollen Malachitaugen und ein spöttisches Lächeln umspielte ihre Lippen, während sie ihren Blick über den Körper des Kriegers wandern ließ. Nera stand noch immer reglos und angespannt vor ihr, ließ sich allerdings von ihrer Freundlichkeit nicht einlullen, denn er spürte das Lauern dahinter.

Was wollte sie von ihm?

Mit einer katzenhaften Bewegung glitt die Königin vom Bett und stand so plötzlich vor Nera, dass diesem kurz der Atem stockte. Ihr schweres Parfüm hüllte ihn ein und er spürte ihren warmen Atem an seinem Hals.

„Warum so zurückhaltend, Nera?“, raunte sie, zum ersten Mal seinen Namen verwendend, und strich mit dem Finger über die Narbe, die sich über seine Wange zog. Nera musste sich zusammennehmen um nicht vor der Berührung zurückzuweichen.

Jetzt wusste er, was die Königin begehrte, und er überlegte fieberhaft, wie er dieser Situation entkommen konnte, ohne ihren Zorn auf sich zu ziehen.

Nathaira spürte prickelnde Hitze in ihrem Unterleib aufsteigen, als sie den großgewachsenen, breitschultrigen Krieger vor sich sah. Normalerweise begehrte sie die jungen Männer, die fast noch Knaben waren. Die atemlos und verzückt ihre Schönheit und ihre Liebeskünste bewunderten und ihr rascher verfielen als es gut für sie war.

Doch sobald dies geschah, wurden sie nicht nur langweilig für Nathaira, sondern auch lästig, und sie entledigte sich ihrer wieder. Aluinn war alt und gutmütig und wusste insgeheim um die Liebschaften, doch er würde keine verliebten Blicke oder andere Gunstbezeugungen ihrer Liebhaber dulden, sich nicht allzu offensichtlich Hörner aufsetzen lassen.

So viel Stolz besitzt der alte Mann dann doch …, höhnte Nathaira innerlich.

Wieder strichen ihre hungrigen Augen über Neras Körper. Der Krieger hatte bereits ein Alter erreicht, das ihn eigentlich uninteressant für sie machte. Aber letzte Woche hatte sie ihn zufällig im Hof beim Kampftraining mit den anderen Kriegern erspäht und die Augen nicht von seinem freien Oberkörper und seinen geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen abwenden können. Vom Spiel seiner Muskeln unter der braunen Haut, die mit den verschlungenen Tätowierungen verziert war, die seinen Kriegerstatus zeigten. Dem konzentrierten Blick in seinem markanten, ernsten Gesicht.

Begehren hatte sie durchflutet, sie wollte ihn, und sie nahm sich stets, was sie verlangte. Aluinn war wesentlich älter als sie und teilte schon lange nicht mehr das Bett mit ihr. Seit sie ihm ihren Sohn Fearghus und Tochter Innogen geschenkt hatte, und die beiden waren inzwischen erwachsen. Aber Nathaira war eine leidenschaftliche Frau und sorgte selbst für ihre Abwechslung.

Doch spürte sie Neras Unwillen, den er hinter seiner Zurückhaltung zu verbergen suchte. Sie führte ihn jedoch auf seine Treue zu Aluinn, auf seine moralischen Prinzipien zurück, von denen jeder auf der Burg wusste, dass der Krieger sie im Übermaß besaß. Aber gerade dies machte ihn als Beute für sie so überaus reizvoll.

Nun legte sie ihre weiße Hand mit den kostbaren Ringen auf seine Brust, die aus dem Ausschnitt seines Lederwamses lugte. Seine Haut war warm, sie spürte seinen Herzschlag und sog seinen männlichen Duft ein. Nera erstarrte unter ihrer Berührung und blickte stur über ihren Kopf hinweg auf die Wand.

„Mein starker Krieger, erinnerst du dich, wie du zu dieser Narbe kamst?“, flüsterte sie und fuhr mit ihren Fingern wieder über seine Wange, zeichnete die Linie der einstigen Verletzung nach. Nera räusperte sich, doch die Königin fuhr fort: „Du hast mein Leben gerettet, bei diesem Überfall, du allein hast mich gegen drei Schurken verteidigt. Dafür habe ich dir nie richtig gedankt …“

Die Narbe erregte sie wirklich, denn sie wusste noch genau, wie stark die tiefe Wunde damals geblutet hatte, wie rasch er die drei Angreifer niedergestreckt hatte. Voller Verlangen drängte sie ihren Körper an seinen und versuchte Neras Blick einzufangen.

„Ich möchte mich jetzt bei dir bedanken.“

Sie fasste nach seiner großen Hand und presste sie auf ihre linke Brust, stellte sich auf die Zehenspitzen, und näherte ihre Lippen den seinen.

Nera keuchte auf, entriss ihr seine Hand und trat einen Schritt zurück.

„Meine Königin, ich bitte Euch, lasst das.“

Ein unwilliges Flackern zog durch ihre Augen und ein Ausdruck wütenden Erstaunens trat in ihr Gesicht. Sie war Zurückweisung weder gewöhnt, noch schätzte sie diese. Dann umspielte wieder ein feines Lächeln ihren Mund, das ihre Augen jedoch nicht erreichte.

„Nera.“ Sie zog seinen Namen in die Länge und ein reifzartes Glitzern der Verachtung lag in ihrer Stimme, als sie fortfuhr: „Trauerst du etwa immer noch um dein Weib? Ist es nicht längst an der Zeit, eine neue Liebe zu finden?“

Herausfordernd blickte sie ihn an und trat wieder auf ihn zu.

Nera spürte Zorn in sich aufflammen. Wie konnte es diese Hure, die sich Königin nannte, wagen!

Neben der Wut durchzog ihn aber auch tiefer Schmerz, als er an seine im Kindbett verstorbene Frau dachte. Ailean.

Erst hatte sie das Kind verloren, dann war auch sie von ihm gegangen. Sie war seine einzige Liebe gewesen. Um die er in stillen, langen Nächten getrauert hatte und auch jetzt noch, Jahre später, manchmal heimlich weinte. Jegliche Lebensfreude war mit Aileans Tod wie Sand durch eine Stundenuhr aus ihm geflossen, sein Leben bedeutete ihm nichts mehr. Der schreckliche Verlust hatte ihn erst zu dem harten, unerbittlichen und furchtlosen Krieger gemacht, der er heute war.

Neras Gesichtsausdruck wurde steinern. Nur mit Mühe konnte er sich beherrschen, Nathaira nicht am Kinn zu packen und ihr das überlegene, wissende Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. Er ballte seine Hände zu Fäusten, sein ganzer Körper versteifte sich.

Die Königin war die erste Frau, die in ihm den Wunsch auslöste, ein Weib zu schlagen. Er schaffte es, sich zusammen zu reißen, bis er die Ruhe einer windstillen Winternacht zurück erlangte, und sagte mit eisigem Unterton: „Herrin, ich werde für Euch kämpfen und Euer Leben mit dem meinen beschützen, so wie ich es schwor. Doch ich werde niemals Euer Bett teilen.“

Damit wandte er sich um und verließ das Gemach.

Er sah nicht mehr das Gesicht der Königin, das sich zu einer bösartigen Fratze verzog, auch nicht den hasserfüllten Blick, den sie in seinen Rücken bohrte. Trotz ihres Zorns verlieh sie ihrer Stimme einen spöttisch-heiteren Klang, als sie ihm nachrief: „Oh, mein stolzer, starker Krieger, flieht wie ein ängstlicher Hase!“

Ihr falsches Lachen hallte noch in seinen Ohren, als er mit weitausholenden Schritten in Richtung der großen Halle lief. Beinahe wäre er mit der jungen Sklavin Ethel zusammen geprallt, die gerade in den Gang bog und auf dem Weg zur Königin war.

Atemlos hastete diese weiter, in das Gemach in der Herrin, und knickste vor ihr.

„Meine Königin, der König schickt mich. Er bittet Euch, zu den Festlichkeiten erscheinen, die Druiden …“

Weiter kam das Mädchen nicht. Mit zwei wuchtigen Schlägen hatte Nathaira die Sklavin zu Boden gestreckt, Blut strömte aus ihrer aufgeplatzten Lippe und tropfte auf den Boden. Nathaira holte mit dem Fuß aus und trat ihr noch mehrmals kräftig in die Seite. Ethel unterdrückte einen Aufschrei und die aufkommenden Tränen, um die Wut der Königin nicht noch weiter anzuheizen. Sie ahnte nicht, dass die Schläge und Tritte eigentlich einem anderen galten.

„Wage es nie wieder, hörst du – nie wieder - mein Gemach ohne Aufforderung zu betreten!“

„Verzeiht, meine Königin. Vergebt mir.“

Ethel kauerte immer noch auf dem kalten Boden und senkte demütig den Kopf. Deshalb entging ihr das Aufleuchten in den Augen ihrer Herrin, die eine plötzliche Eingebung hatte.

Ein Plan entrollte sich in Nathaira wie eine züngelnde Schlange.

„Du wirst jetzt genau zuhören, was ich dir befehle …“

Die Große Halle war überfüllt mit Menschen. Warme und verbrauchte Luft schlug Nera entgegen, erfüllt von den Gerüchen nach fettigem Essen, Met und dem Rauch der Feuer und Fackeln, den Ausdünstungen der unzähligen Leiber der Menschen, die sich zu den Festlichkeiten eingefunden hatten.

Als Nera auf das bunte Treiben schaute und der Lärm hunderter Stimmen an seine Ohren toste, wurde ihm wieder einmal bewusst, wie viele Menschen in Burg Cruchain und auf dem weitläufigen Gelände lebten.

Da er zu spät erschienen war, musste er mit einem Stehplatz an der Tür vorlieb nehmen. Aber das war ihm ganz Recht. Hier war die Luft etwas besser als im hinteren Teil der Halle, wo die Bänke und Tische in einem großen Kreis um den Opferaltar aufgestellt waren.

Noch immer hielt ihn das Unbehagen über das Treffen mit der Königin umfangen. War er zu weit gegangen? Würde sie ihm die Zurückweisung verzeihen?

Doch: Was sollte sie ihm vorwerfen? Welche Begründung würde sie für seine Bestrafung vorbringen können, ohne sich selbst anzuklagen?

Nera entspannte sich ein wenig und beschloss, über den Vorfall hinwegzusehen, so zu tun, als wäre er nie geschehen. In diesem Augenblick stieß ihn jemand an. Es war Leith, eine der Torwachen.

„Du sollst zum König kommen.“

Er klopfte Nera noch ein Mal auf die Schulter und verschwand im Gedränge. Der Krieger blickte zu den beiden erhöht stehenden Thronen am anderen Ende der Halle, von denen nur einer von König Aluinn besetzt war. Neben ihm standen die drei Druiden, würdevolle, hagere Männer in weißen Gewändern. Finster waren ihre Mienen, denn die Ausschweifungen, die Völlerei und das Trinkgelage der versammelten Menschen erzürnten sie. Aluinn schien beschwichtigend auf sie einzureden, sein weißhaariges Haupt beugte sich den drei Würdenträgern immer wieder entgegen, während er gestikulierte.

Die Druiden hatten bereits mit den Ritualen beginnen wollen, mit der Anrufung der vier Winde, der Götter und der Ahnen, deren Schutz und Segen man sich erhoffte. Die Zeremonien würden in der traditionellen Opferung eines tags zuvor gefangenen Hirsches zu Ehren des Unterweltgottes Cenn Cr´uach enden.

Doch alles verzögerte sich, weil die Königin immer noch nicht erschienen war. Nichts fürchteten die weisen Männer mehr, als dass ihre heiligen Zeremonien vom Frevel sturzbetrunkener, sich prügelnder oder sich übergebender Männer gestört würden.

Nera schob sich durch die Menge, er kam nur langsam voran. Endlich stand er vor Aluinns Thron und verneigte sich. Der König lächelte ihn an.

„Nera, gut dass du da bist. Welche Nachricht bringst du von Ennoch?“

Der Krieger hatte den ganzen Heimritt über gegrübelt, wie er König Ennochs höhnische Antwort mildern konnte, ohne ihren Inhalt zu verfälschen. Doch jetzt war sein Kopf leer. Er senkte den Blick, um kurz darauf wieder aufzuschauen, in das zerfurchte, besonnene Antlitz seines Königs.

„Mein König, Ennoch von Connacht stimmt einer Vermählung seines Sohnes mit Eurer Tochter, Prinzessin Innogen, nur unter der Bedingung zu, dass Ihr ihm zuvor drei Wagenladungen Gold zukommen lasst.“

Er hielt inne, als sich ein Schatten über Aluinns Züge legte. Der König zog seine Augenbrauen zusammen, seine Kiefer mahlten.

„Sprich gerade heraus, Krieger, schone mich nicht: Was war seine Begründung dafür?“

Nera schluckte. Alles in ihm sträubte sich dagegen, König Ennochs böse Worte zu wiederholen, sie wollten ihm einfach nicht über die Lippen kommen. Wie sollte er seinem großmütigen, alten König, den er schätzte und verehrte, sagen, dass Ennoch seine Königin als Hure beschimpft hatte. Seine Tochter als ebensolche bezeichnete, denn „der Apfel fiele nicht weit vom Stamm.“ Und dass er daher schon vor der Verbindung mit seinem Sohn Conall eine Art Entschädigung dafür verlangte, dass Innogen ihm als Schwiegertochter nur Leid und Schmach bringen werde?

Aber bevor er antworten konnte, wandte Aluinn plötzlich den Kopf. Auch Nera schaute zum Eingang der Großen Halle hinüber. Endlich war die Königin erschienen.

Die Menge machte ihr Platz, eine Sklavin folgte ihr. Nathaira schritt mit erhobenem Haupt an den Untertanen vorbei, die sich vor ihr verneigten. An ihren weißen Oberarmen glänzten goldenen Spangen und auf dem Kopf trug sie die schwere, edelsteinbesetzte Krone.

„Wir reden später“, entließ der König den Krieger und erhob sich, um seiner Königin die Hand zu reichen.

Sie ergriff Aluinns Hand und erklomm die wenigen Stufen, setzte sich aber nicht, sondern blieb neben ihrem Gemahl stehen. Aluinn warf ihr einen fragenden Blick zu, den Nathaira jedoch ignorierte. Stattdessen fixierte sie Nera, der in die Menge zurück getreten war, und ein unergründliches Lächeln umspielte ihre Lippen.

Die Druiden gaben das Zeichen, das aufgeschichtete, mit Weihrauch und Kräutern versetzte Holz in der Mitte des Saales zu entzünden und zwei Diener schlugen den mächtigen Gong an der Wand. Bevor der tiefe Ton verklungen war, hatte sich bereits Stille über die Halle gelegt.

Ailech, der erste Druide, setzte zu sprechen an. Aber  es war die Königin, die ihre Stimme in die Ruhe erhob.

„Weise Männer, mein König.“

Sie neigte den Kopf in die Richtung der Angesprochenen.

„Verzeiht mein spätes Erscheinen und nun die Unterbrechung der Rituale. Doch ich habe einen guten Grund, den ich euch verkünden muss: Diese Sklavin hier - “, Sie zeigte auf das Mädchen, dessen Lippe inzwischen stark angeschwollen war. „hatte soeben eine Vision, die uns eine äußerst wichtige Botschaft sendet. Tritt vor!“

Nathaira stieß Ethel unauffällig an. Das Mädchen hielt den Kopf gesenkt, trat aber gehorsam zwei Schritte vor und begann mit leiser Stimme zu sprechen: „Ich bin soeben in die Dunkelheit eines Aisling gefallen und hatte eine Vision. Ich sah … ich ...“ Sie verstummte, noch immer war ihr Blick auf den Boden gerichtet.

„Schau mich an, Sklavin, und sprich. Du hast nichts zu befürchten“, forderte Aluinn sie sanft auf.

Ethel hob die Augen zu ihrem Herrscher, Tränen standen darin.

„Mein König, ich sah den Gehenkten, den Mörder, den ihr gestern richten ließet. Er ist ein Draugr!“

Ein lautes Raunen und unterdrückte Rufe des Entsetzens brandeten durch die Menge, die der König jedoch sofort durch das Erheben seiner Hand unterband. Er nickte der Sklavin zu, fortzufahren.

„Der Galgen war leer, die Spur des Draugr führte ins nächstgelegene Dorf. Ich hörte Schreien aus den Häusern, sah ihn wüten. Frauen und Kinder flüchten, so viel Blut ...“

Erneut versagte ihre Stimme, sie vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu weinen.

Die Königin hatte während der Erzählung der Sklavin die Druiden genau beobachtet und mit Zufriedenheit die aufkommende Erregung in ihren Gesichtern abgelesen. Nun sprach sie:

„Weise Männer von Cruchain, dies ist ein Zeichen. Die Götter haben durch die Sklavin gesprochen: Der Gehenkte wird heute Nacht Rache nehmen, an unschuldigen und schutzlosen Menschen, an Frauen und Kindern. War er schon zu Lebzeiten ein gefährlicher Mörder, so bedenkt, über welche Kräfte er jetzt verfügt. Dürfen wir diese Menschen ihrem Schicksal überlassen?“

Sie ließ ihre Worte wirken, während Nera die Königin ungläubig anstarrte. Ihre Besorgnis um die Dorfbewohner passte nicht zu ihr, aber sie fuhr bereits an Ethel gewandt fort: „Kind, hast du auch gesehen, wer für die Errettung der Dorfbewohner bestimmt ist?“

„Ja, meine Königin.“

Wieder gerieten die versammelten Menschen in Aufruhr und murmelten, so dass Ailech sich dazu berufen fühlte „Ruhe!“ zu brüllen. Die Stille kehrte in den Saal zurück und der Druide sprach: „Mein König, meine Königin. Wir nehmen die Vision sehr ernst. Ihr wisst, was das bedeutet. Wir müssen einen Schutz für die Menschen des Dorfes entsenden. Wer, Sklavin, ist dafür bestimmt, wen sahst du im Aisling?“

Neras Herz begann schneller zu schlagen, eine seltsame Unruhe erfasste ihn, die zu einer bösen Vorahnung anwuchs. Einen kurzen Moment traf sein Blick auf den des Mädchens, bevor es seine Lider wieder niederschlug. Schuld und Scham hatten in ihren Augen gestanden.

„Ich habe Nera gesehen“, sagte sie mit zitternder Stimme.

Während die Menschen um ihn herum den Atem anzuhalten schienen, bevor sie aufgeregt zu flüstern begannen, hatte der Krieger das Gefühl, eine eiskalte Hand ergreife sein Herz und stoße es in seinen Magen.

Er spürte, dass die Sklavin log, fühlte auch ihre tiefe Verzweiflung darüber. Er erinnerte sich daran, wie sie vorhin an ihm vorbei zur Königin geeilt war. Blickte auf ihren geschwollenen Mund, der bei ihrer Begegnung im Gang noch unverletzt gewesen war.

Dann sah er die selbstgefällige Häme aus Nathairas Augen blitzen, die sich in die seinen brannten. Auch wenn er wusste, dass die Sklavin auf Nathairas Befehl die Unwahrheit sprach – es war nicht von Belang. Er konnte dem, was nun folgte, nicht entgehen.

So trat Nera vor seinen König und die weisen Männer und wartete auf ihre Anweisung.

Viele Eindrücke strömten gleichzeitig auf ihn ein: Die tiefe Betroffenheit, die sich plötzlich wie ein Schatten über die Große Halle legte, darunter die fast greifbare Erleichterung der Männer, dass sein Los nicht sie getroffen hatte.

Er nahm Aluinns faltiges Gesicht wahr, in dem Unwillen mit Mitleid und schwerer Sorge kämpften. Nathairas triumphierendes Hochgefühl, das sie hinter einer gleichgültigen Maske zu verbergen suchte, und die ernsten, asketischen Mienen der Druiden, die den Aisling der Sklavin an einem bedeutungsvollen Abend wie diesem nie in Zweifel ziehen würden.

Neras Blick heftete sich wieder auf Aluinn. „Mein König, ich bin bereit.“


Aluinns Herz wurde schwer, als er Nera vor sich stehen sah, der ihm in all den Jahren treu gedient hatte und der ihm einer der Liebsten am Hofe war. Er schätzte den dunklen, stillen Krieger, seine Ehrlichkeit, seine unverrückbare Loyalität. Einen Sohn wie ihn hatte er sich immer gewünscht.

Wie oft hatte Aluinn in seinen Gedanken den jungen Mann mit seinem aufbrausenden, stets auf seinen Vorteil bedachten Sohn Fearghus verglichen.

Wäre mein Körper doch noch so stark wie vor Jahren, kein Hautsack mit morschen Knochen! Ich würde Nera begleiten und an seiner Seite kämpfen.

Tief einatmend erhob sich der König vom Thron, er fühlte sich um Jahre gealtert. Ihm war bewusst, dass er Nera mit seinem Befehl in den Tod schicken würde. Nur ein Wunder konnte ihn noch retten.

Aluinn richtete sich auf und schaute über die immer noch in Stille und Betretenheit verharrende Menge.

„Weise Männer von Cruchain, Volk von Cruchain. Ihr alle habt die Vision des Mädchens vernommen. Nera ist dazu ausersehen, die Dorfbewohner zu retten und den Draugr zu richten. Aber - “ Nun straffte er seine gebeugten Schultern. „ist irgendeiner unter den Männern hier, der den Mut besitzt, Nera zu begleiten, seinen Arm und sein Schwert zu verstärken?“

Der König ließ seinen eindringlichen Blick über die Gesichter der Männer im Saal gleiten. Viele zeigten erschrockene Mienen, Unwillen, Angst oder schauten verschämt zu Boden. Die Stille schien sich noch zu verdichten, nur leises Füße scharren und unterdrücktes Räuspern waren zu hören.

„Nein? Nicht einer?“, wagte Aluinn einen letzten Vorstoß, doch er kannte die Antwort bereits.

Da die Sklavin allein Nera im Aisling gesehen hatte, konnte außer ihm niemand gezwungen werden, in dieser Nacht die sicheren Mauern zu verlassen. Also wandte sich der König an seinen Krieger, der noch immer reglos vor ihm stand.

„Mein Krieger, seien die Götter mit dir. Wir alle werden dein Heil und deine Stärke in unsere Anrufungen und Gesänge mit einbeziehen. Geh nun, und erfülle deine Pflicht.“

Trauer stand in Aluins Zügen, als er Nera die Hand auf die Schulter legte, doch seine Worte waren voller Groll, als er wieder erhob: „Wenn ihr nicht die Tapferkeit besitzt, ihm im Kampf zur Seite zu stehen, so verabschiedet ihn wenigstens würdig!“

Er gab dem Sklaven, der Neras Waffen und Brustschutz bereits aus dem Kriegerquartier geholt hatte, einen Wink, und ließ sich Schwert und Speer übergeben. Unruhe machte sich breit, als alle Männer nach ihren Schwertern und Schilden griffen und sich zu einem Spalier für den Gefährten aufstellten. Während der Krieger seinen Brustschutz anlegte, hielt Aluinn dessen Waffen den Druiden entgegen, damit diese sie segneten.

„Geh, mein Sohn, kämpfe tapfer. Und - kehre zu uns zurück“, sagte der König leise.

Nera schluckte und neigte sein Haupt. Kurz umfassten sie zum Abschied gegenseitig ihre Handgelenke, dann griff der Krieger nach seinen Waffen und schritt an der Reihe der Männer entlang, die sich bis zum Portal aufgestellt hatten.

Mit ihren Schwertern schlugen sie im gleichen Takt auf die Schilde. Der ohrenbetäubende Krach erschütterte die Halle, brachte die Leiber der Versammelten zum Beben wie ein mächtiger, eiserner Herzschlag. Dieses vertraute Geräusch, das stets vor Schlachten angestimmt wurde, gab Nera Kraft.

Bevor er die Große Halle verließ, wurde ihm bewusst, dass er wahrscheinlich nie nach Cruchain zurückkehren würde, und er warf er einen letzten Blick über die Schulter. Unbemerkt von den anderen zwinkerte ihm Nathaira zu und spitzte die Lippen zu einem höhnischen Kuss.

Keine einzige Wolke verhüllte mehr die Sicht auf den schwarzen Sternenhimmel, als Nera über die Zugbrücke in die Kälte der Nacht hinaus ritt.

Weder Kennan noch Leith hatten es gewagt, dem Krieger in die Augen zu schauen, als sie ihm seinen Hengst übergeben hatten. Wortlos waren die Männer auseinandergegangen. Nun beeilten sich die Torwachen, die Brücke wieder hochzuziehen, während Nera sich immer weiter von den Lichtern Cruchains entfernte und der kühle Tau der Nacht sich auf Land und Reiter herabsenkte.

Fahler Mondschein tauchte die Ödnis um die Burg in geisterhaftes Licht.

Etwas Dunkles, Böses lag in der Luft, das spürte nicht nur der Krieger. Der Hengst schnaubte durch geblähte Nüstern. Nera konnte das Weiße in seinen aufgerissen Augen sehen, doch er trieb ihn an, und das treue Tier gehorchte, wie immer.

Der Weg bis zum Hügel über dem Tal der zwei Seen, auf dem der Galgen stand, war nicht weit, aber sie mussten erneut den dichten Wald durchqueren, was ein mulmiges Gefühl in seiner Magengegend hervorrief. Obwohl der Himmel jetzt klar war, kroch noch immer Nebel über den Boden, hüllte die Stämme der Bäume in weiße Tücher.

Während Nera vorsichtig weiterritt, und dabei seinem Pferd immer wieder beruhigende Worte ins Ohr flüsterte, lauschte er angestrengt auf Geräusche in der Dunkelheit des windstillen Waldes, auf irgendwelche Anzeichen von Gefahr. Er vernahm nichts außer dem dumpfen Aufsetzen der Pferdehufe auf dem Waldboden, über den nun immer dichtere Nebelschwaden wallten.

Die Kälte des herannahenden Winters drang durch seine Kleidung und ließ ihn frösteln, der Geruch der dunklen Erde Taras, von feuchtem, verwesendem Laub und dem nahegelegenen Moor stieg ihm in die Nase. Kein Blattwerk raschelte, nichts bewegte sich, die Tiere des Waldes schienen in Furcht zu verharren.

Allein der langgezogene, einsame Klageruf der Ulchabhán, der Toteneule, durchschnitt die unheimliche Stille. Ihr Gesang trieb ihm einen Schauer über den Rücken, kündigte er doch, wie Nera wusste, den baldigen Tod eines Menschen an.

Der Krieger versuchte, die Furcht vor dem bösen Omen nicht in sich aufsteigen zu lassen, als ein plötzlicher Windstoß durch die Blätter am Boden fuhr. Der Hengst scheute und schnaubte.

Nera glaubte, einen Schatten an ihnen vorbeihuschen und in den Büschen verschwinden zu sehen. Er schnalzte mit der Zunge, um das Pferd anzutreiben, doch es bäumte sich auf und begann wiehernd zurückweichen.

Was war da?

Erneut fegte eine Windbö heran, verwirbelte das Laub und brachte die umliegenden Büsche zum Rascheln. Da! Der Schatten! Doch die Dunkelheit und der verfluchte Nebel nahmen Nera die Sicht. Er kniff die Augen zusammen und zog sein Schwert, spürte wie sein tänzelnder Hengst die Gefahr, und Schweiß brach ihm aus.
Etwas Bedrohliches kreiste sie ein. Panisch blickte er sich um.

Wie soll ich etwas bekämpfen, das ich nicht sehen kann?

In diesem Moment nahm er aus dem Augenwinkel wahr, dass etwas Dunkles auf sie zuraste, zeitgleich vernahm er ein Knurren und Schnappen.

Der Hengst bäumte sich wiehernd auf, warf seinen Reiter ab und preschte davon. Nera war hart auf dem Boden aufgeschlagen, doch stand er sofort wieder auf den Beinen, umfasste sein Schwert mit beiden Händen und drehte sich langsam im Kreis. Ein Grollen ertönte, ganz in seiner Nähe.

Neras Nackenhaare stellten sich auf. Das kehlige Knurren wurde lauter, doch er konnte nicht ausmachen, aus welcher Richtung es kam.

Er folgte seinem Instinkt und rannte los, musste hinaus aus dem Wald!

Zumindest eine Lichtung erreichen, denn in der Dunkelheit und dem dichten Nebel hatte er gegen das schattenhafte Wesen kaum eine Chance. Äste peitschten ihm ins Gesicht, sein Herz raste, als ihm plötzlich eine Baumwurzel die Beine wegzog, er strauchelte und fiel.

Nera riss die Augen auf. Aus dem Nebel glühte ihm ein gelbes Augenpaar entgegen, es näherte sich, genauso wie das bedrohliche Knurren, das aus den Tiefen eines mächtigen Brustkorbes zu dringen schien. Der Kopf eines Wolfes schob sich aus den weißen Schwaden, die hochgezogenen Lefzen entblößten lange, messerscharfe Reißzähne.

Der Krieger erhob sein Schwert, glaubte den stinkenden Atem der Bestie zu riechen. Das wolfsähnliche Untier schlich geduckt auf ihn zu, geiferte und schnappte nach ihm. Nera wich den Angriffen geschickt aus. Er spannte die Muskeln an und umfasste die Waffe fester, als das Ungeheuer sein Maul aufriss und zum Sprung ansetzte.

Pfeilschnell flog die Bestie auf ihn zu. Nur seinen guten Reflexen hatte Nera es zu verdanken, dass er im richtigen Moment das Schwert niederfahren ließ. Ein Jaulen ertönte, als sich die Klinge in die Flanke des Wolfes grub, das Tier prallte zurück in den Nebel, ein röchelndes Hecheln war zu hören.

Nera trat vor und schaute auf das Untier herab. Jetzt erkannte er, was es war: Auf dem Waldboden lag ein fáelur, ein Werwolf. Zorn blitzte aus den gelben Augen, er warf seinen Kopf hin und her, versuchte, sich wieder aufzurichten, ein bösartiges Knurren drang aus seiner Kehle.

Trotz der tiefen Wunde, die Nera ihm beigebracht hatte, sprang der Werwolf wieder auf und stieß ein markerschütterndes Brüllen aus.

Der Krieger zögerte nicht, holte aus und schlug ihm dem Kopf ab, bevor der fáelur erneut angreifen konnte. Das Haupt der Bestie fiel mit einem dumpfen Laut auf die Erde, kullerte vor Neras Füße.

Der trat heftig atmend einen Schritt zurück, sein Herz pochte wie ein Hammer auf einem Amboss.

Noch immer hielt ihn das Grauen über die Begegnung mit einem Geschöpf der Unterwelt gefangen.

Er atmete tief durch und mahnte sich zur Ruhe, als ihn von hinten etwas ansprang und er gleichzeitig einen schmerzhaften Biss in seine Wade spürte. Nera schrie auf und wirbelte herum.

Er war unachtsam gewesen, es waren zwei!

Diese Bestie war etwas vorsichtiger, aber seine Augen glommen ihm genauso gelb und tückisch entgegen, während sie sich belauerten und umrundeten. Immer wieder schoss der zweite fáelur vor, mit gefletschten Zähnen. Als er sich weiter vorwagte, machte Nera einen Ausfallschritt und ließ das Schwert niederfahren, enthauptete auch diesen Wolf.

Angespannt lauschte er, seine Augen schweiften durch das Gebüsch.

Da bemerkte er, dass eine rasche Veränderung mit den erlegten Wölfe vor sich ging: Ihr struppiges Fell bildete sich zurück, genau wie die Fänge und Klauen, stattdessen nahmen die Kadaver immer menschlichere Formen und Züge an.

Nur Augenblicke später blickte Nera auf die Köpfe eines Jünglings und eines Mädchens herab. Ihr langes Haar war verfilzt und aus den verhärmten, schmutzigen Gesichtern starrten ihn erloschene Augen an. Sein Blick wanderte zu den nackten Menschenleibern, sie wirkten so unschuldig, wie sie da vor ihm im Laub lagen. Es waren fast noch Kinder gewesen, dachte Nera voller Bedauern, und wandte sich schaudernd ab. Eine Erinnerung zog durch seinen Kopf.

Vor etwa einem Jahr waren zwei Bauernkinder vom Beerensammeln nicht ins Dorf zurückgekehrt. Das also war ihr furchtbares Ende gewesen.

Neras Kehle zog sich vor Mitleid zusammen, aber er durfte keine Zeit verlieren. Er musste weiter, zum Galgen, und den Gehenkten enthaupten, nur auf diese Weise konnte ein Draugr getötet werden. Aufgrund der Begegnung mit den fáelur war sich der Krieger nicht mehr sicher, ob die Vision der Sklavin nicht doch der Wahrheit entsprach …

 

Nach einiger Zeit erreichte er den Rand des Moores. Nur Wenigen außer Nera, der diesen Weg öfter nahm, war der trittsichere Pfad durch das tückische Gelände bekannt.

Vorsichtig setzte der Krieger die Füße voreinander, blieb stehen, wenn sich eine vereinzelte Wolke vor den Mond schob und ihn vollkommene Dunkelheit umfing.

Die Bisswunde in seiner Wade schmerzte pochend, zog wie eine sengende Spur in seinem Bein hoch, und sein Herzschlag setzte immer wieder aus. Ihm wurde kalt und er zitterte, obwohl ihm der Schweiß die Stirn hinab lief und das Blut wie Feuer durch seine Adern raste.

Er zwang sich, ruhig zu atmen und humpelte weiter, konzentrierte sich darauf, nicht über Wurzeln oder andere Fangarme des Waldgottes zu stolpern, als er ein Seufzen zu seiner Rechten vernahm. Der Laut ließ Nera innehalten und sich wieder angespannt umsehen.

Fahl leuchteten die Stämme der Birken im Mondlicht, viele waren in das Wasser gestürzt, das schwarz und still vor ihm aus dem Nebel glänzte. Ein Leuchten erregte seine Aufmerksamkeit. Es schwebte wie das Licht einer Fackel über das Moor und erlosch, um kurz darauf an anderer Stelle wieder aufzuflammen.

Erneut vernahm Nera den schwermütigen Laut, er hallte gespenstisch zu ihm herüber.

Nera achtete auf das Licht, dabei lauschte er angestrengt. War das ein leises Rufen? Es näherte sich, schien von allen Seiten auf ihn einzudringen. Er glaubte, seinen Namen zu hören und erstarrte. Sein Atem stockte. Diese warme Frauenstimme war ihm vertraut, niemand kannte sie besser als er, und Grauen und eine verzehrende Sehnsucht erfassten ihn gleichermaßen.

Ailean!

War es möglich, dass sie hier war? Dass ihre Seele zu ihm sprach? Heute, in der Nacht der Toten?

„Ailean!“

Die Ödnis verschluckte seinen Ruf. Alle Vorsicht außer Acht lassend verließ Nera den sicheren Weg. Die Hoffnung, seine geliebte Frau zu sehen, mit ihr zu sprechen, trieb ihn zu der Stimme. Er trat vor bis an das schwarze Wasser. Der Boden unter seinen Stiefeln gab nach, begann an seinem rechten Fuß zu ziehen, doch der Krieger beachtete es nicht, brannte doch allein das Verlangen in ihm, Ailean zu finden.

Neras Blick irrte über das Wasser, durchbohrte die Nebelschwaden, sein Herz schlug ihm bis in den Hals.

„Ailean! Wo bist du?“

Tiefe Verzweiflung warf ihre Netze über ihn. Bildete er sich das alles nur ein?

Was war das? Eine einzelne, weiße Schwade löste sich aus dem Nebel, waberte in seine Richtung und verformte sich, nahm langsam die Gestalt seiner toten Frau an.

Nera konnte ihr Lockenhaar sehen, die schlanken Arme, die sich nach ihm ausstreckten.

Mo ghrá !“ Mein Geliebter.

Das vertraute Kosewort stach in Neras Herz, ließ es sich zusammenziehen. Aileans weiche Stimme umflog ihn wie ein Vögelchen, zog ihn vorwärts wie an unsichtbaren Schnüren. Tränen schmerzten in seinen Augen wie Nadelstiche.

Der Wunsch, zu der so lang vermissten, geliebten Stimme zu gelangen, wurde übermächtig. Seine Hand öffnete sich wie von selbst, als er weiter vortrat, sein Schwert entglitt ihm und versank mit einem gurgelnden Geräusch im Moor, während die weiße Gestalt ihn weiter lockte und mit ausgebreiteten Nebelarmen vor ihm schwebte.

In diesem Moment tauchte ein gleißendes Licht das Waldstück und das Gewässer in eine Helligkeit, die blendete. Nera blieb stehen und kniff die Augen zusammen, beschirmte sie mit der rechten Hand. Hinter seinem Rücken erklang ein Wispern, einem melodischen Flüstern gleich. Es strich über seinen Kopf hinweg, schien ihn einzuhüllen, verfing sich in den Zweigen der Bäume und schien von überall widerzuhallen. Ein betörend schöner Klang, ein singender Lufthauch, der Neras Gehör streichelte, und trotz seiner Zartheit von großer Macht und Magie erfüllt war.

Vom Gewässer fegte ihm ein bösartiges Zischen entgegen und ließ Nera aus der Versunkenheit aufschrecken. Er traute seinen Augen kaum, als sich Aileans weiße Nebelgestalt verwandelte: In der Spanne eines Atemzugs färbte sich die Erscheinung schwarz wie die Nacht und wuchs zu imposanter Größe an.

Rote Augen glommen aus der rauchigen Gestalt, sie schoss auf Nera zu und fauchte dem Krieger einen grauenhaft tiefen Laut des Bösen entgegen - ein Dämon!

Das magische Wispern wurde kraftvoller, begann durch das Laub zu rauschen, schwoll zu einem durchdringenden Singen an. Das Gleißen verstärkte sich, sodass Nera seine Augen zu schmalen Schlitzen verengen musste.

Ein letztes zorniges Fauchen entwich dem Dämon und strich wie ein übelriechender Wind über Neras Gesicht, dann löste er sich auf.

Der Krieger hatte das Gefühl, ohnmächtig zu werden, ihm schwanden die Sinne und er ließ sich am Ufer zu Boden sinken. Die Brust tat ihm weh vor Kummer, obwohl er soeben nur das Trugbild seiner geliebten Frau verloren hatte. Doch wer oder was hatte ihn gerade vor dem Dämon gerettet?

„Nera.“

Der melodische Hauch liebkoste ihn. Der Krieger wollte sich nach der überirdisch schönen Stimme umwenden, aber eine seltsame Lähmung hielt seinen Körper gefangen.

Der Schmerz in seinem Bein flammte wieder auf.

Das Licht wurde schwächer, schwebte an seinen Augenwinkeln vorbei und vor ihm tauchte die leuchtende Gestalt einer Sidhe auf. Antlitz und Gestalt waren von göttlicher Vollkommenheit, ihre Silhouette flimmerte in der Finsternis des nächtlichen Waldes.

Trotz der Windstille umwehte langes, silbernes Haar ihr Gesicht, aus dem Nera Augen entgegen strahlten, die vom tiefsten Blau waren, das er je gesehen hatte. Blauer als der unendlich weite Augusthimmel über Tara. Milchweiß schimmerte ihre Haut und auch ihre Schleier schienen in einem Luftzug zu wallen.

„Nera.“

Erneut drang der Hauch an sein Ohr, umschmeichelte es wie das Flüstern einer lauen Brise.

„Hör mir zu. Du hast nicht mehr viel Zeit. Lass mich dir helfen.“

Er konnte seine Augen nicht von der Erscheinung abwenden, das leuchtende Blau dieser Augen zog ihn in ihren Bann.

„Wer bist du?“, flüsterte er.

„Mein Name ist Eldárwen, ich gehöre zum Volk der Mondelben.“

Eldárwen beugte sich zu Nera herab, und der Duft einer blühenden Frühlingswiese hüllte ihn ein.

Er wich vor der Elbin zurück. Zu viel war in dieser Nacht geschehen, zu viel Lüge und Trug hatte er erfahren müssen.

Er schlug ein Schutzzeichen vor ihr in die Luft, aber Eldárwens Gesicht blieb sanft. Ihre zarte Stimme erklang in seinem Kopf. Erst jetzt sah Nera, dass sich ihre Lippen beim Sprechen nicht bewegten.

„Hab keine Furcht vor mir, Nera. Es war an Beltane, als du geboren wurdest, und ich war bei dir. Stand in der ersten Nacht deines Lebens an deiner Wiege und las dein Schicksal. Ich wusste, dass du in dieser Nacht hierher kommen würdest. Ich bin deine Anam Cara.“

Seine Seelenverwandte?

Die Elbin streckte eine schmale Hand aus und ihre Fingerspitzen näherten sich Neras Stirn, strichen wie flatternde Schmetterlingsflügel über seine Wange und seinen Mund und zogen eine warme, zeitgleich kühl-prickelnde Spur über seine Haut. Neras Herzschlag und Atem verlangsamten sich und eine seltsame Ruhe erfasste ihn.

Eldárwen schob behutsam sein Beinkleid hinauf und hielt ihre Hand über die geschwollene Wunde, ihre Augen verdunkelten sich vor Sorge.

Der Krieger hatte viel Blut verloren und sein Unterschenkel begann, sich zu verfärben, schwarzes Adergeflecht war auf dem Fleisch zu sehen.

Nera erschrak bei dem Anblick. Würde er sein Bein verlieren?

Sie zog einen feingearbeiteten Dolch aus den Falten ihres Gewandes, er glitzerte im Mondlicht. Sie sprach ein Elbenwort, woraufhin die Klinge himmelblau zu strahlen begann.

Nera riss die Augen auf und schob seinen Körper zurück.

„Hab keine Furcht“, beruhigte sie ihn wieder und die sanften Augen bannten ihn erneut, während sie die flache Seite der Klinge behutsam auf die Wunde legte.

Das bläuliche Leuchten wechselte zu einem glühenden Rot, und rief Nera die schrecklichen Augen des Schattendämons in Erinnerung. Tiefe Traurigkeit legte sich über Eldárwens feine Züge.

„Es ist zu spät, Nera. Selbst die Macht meines Volkes kann dich nicht mehr heilen. Wenn du ein Mensch bleibst, wirst du dich in einen féalur verwandeln.“

Panik stieg in Nera auf. Jetzt wusste er, was das fürchterliche Brennen und Ziehen sowie die ansteigende Hitze in seinem Körper bedeuteten, die Schmerzen, die immer peinigender wurden.

Nein! Er wollte nicht zu einer grausamen Bestie werden. Güte und Menschlichkeit würden ihn verlassen, er würde reißen und jagen, und irgendwann selbst verfolgt und getötet werden.

Niemals durfte das geschehen!

„Hilf mir, Eldárwen, bitte“, flüsterte er.

„Es liegt nicht in meiner Macht, dich zu heilen“, wiederholte die Elbin. „Aber - begleite mich, werde einer der unseren. Unsterblich, gefeit gegen Krankheiten, den Tod und das Böse, mit magischen Kräften beschenkt.“

Sie löste ihre Augen von ihm und wandte sie gen Horizont.

„Es bleibt nicht mehr viel Zeit. Sobald die Dämmerung anbricht, schließen sich die Tore zur Anderswelt für die Menschen, dann bist du verloren, und nichts kann dich mehr retten.“

Nera schwieg erschüttert. Was sprach Eldárwen da? Was sollte er in ihrer Welt?

Bisher hatte ihn in jedem Gefecht, und auch in dieser Nacht im Angesicht aller Gefahren, sein tief verwurzelter Glaube aufrecht erhalten: Nach seinem Tode in den Großen Hain des Friedens einzugehen, in dem Ailean und ihr Kind auf ihn warteten.

Er wollte weder ein Elbe werden noch Unsterblichkeit und Magie erlangen.

Eldárwen betrachtete den Zögernden, las seine Gedanken und verharrte eine Weile in stummer Trauer, bevor sie fortfuhr: „Spätestens im Morgengrauen wird sich deine Verwandlung vollzogen haben. Als Gestaltwandler ist dir der Eintritt in den Großen Hain des Friedens verwehrt.“

Den tiefen Schock und das Leid in Neras Gesicht sehend, ergriff sie seine Hand. Ihre waren kühl wie Morgentau und so winzig und zart wie die eines Kindes, so dass sie beide brauchte, um seine zu umschließen.

Trotz der Leichtigkeit sandte die Berührung eine derartige Macht aus, dass sich Neras Arme mit einer Gänsehaut überzogen.

„Komm mit mir, lass die Trauer und dein altes Leben hinter dir. Ziehe ein in unser Reich des Friedens.“

Sie hielt inne, ihr Gesicht strahlte vor Zuneigung.

Nera schwieg. Was sollte er tun?

Er dachte an seinen Auftrag, den Draugr zu töten. Er war ein Krieger, hatte einen Eid geleistet, seinem Herrn zu gehorchen und zu dienen, koste es auch sein Leben.

Wieder las Eldárwen seine Gedanken.

„Du wirst die Menschen auf Burg Cruchain nicht retten können.“

Nera starrte sie an. „Die Menschen von Cruchain? Ich bin entsandt worden, den Draugr zu töten, um die Dorfbewohner zu schützen.“

Das Gesicht der Elbin blieb unbewegt, dann erhob sie sich in einer fließenden Bewegung von dem Stein.

„Sieh her. Ich zeige dir die Zukunft, deine und die des Volkes von Tara.“

Sie berührte die Wasseroberfläche mit der Spitze ihres Dolchs und murmelte Worte in Elbensprache, sie klangen wie das sanfte Rauschen des Windes.

Wieder glomm die Klinge auf und ebenso das Wasser. Es glich nun einem Spiegel, doch erkannte er nicht Eldárwens und seine Gestalt darin, sondern Wolken, die sich langsam verzogen. Bilder entstanden, kristallisierten sich, um wieder zu verschwimmen: Er sah sich selbst, wie er geschwächt weiterzog, immer wieder zusammenbrach, weil sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde und sich veränderte …

Den Galgen, an dem der Gehenkte baumelte. Krähen hatten der Leiche die Augen ausgehackt, aber der Tote war kein Draugr …

Die mächtigen Mauern von Burg Cruchain. Rauch stieg von überall auf, ein Heer in den Farben Connachts, König Ennochs Krieger, zogen durch das zerstörte Tor, mordeten, brandschatzten, plünderten. Überall lagen die Leichen der Menschen Cruchains verstreut, Männer, Frauen und Kinder …

König Ennoch saß auf Aluinns Thron, er hielt eine schwere Kette in der Hand. Sie endete in einem eisernen Ring, der Nathairas Hals umschloss. Sie kauerte zu Füßen Ennochs, wirr hing ihr das goldene Haar ins Gesicht, die stolze Königin schien gebrochen …

Aluinns blutleeren, schreckensstarren Kopf hatten sie über das Portal genagelt, wie eine Trophäe ...

Eine wolfsähnliche Kreatur hetze über die öde Fläche, die Cruchain umgab. Die gelben Augen waren zu Schlitzen zusammengezogen, die Bestie war größer und gefährlicher als die beiden fáelur, die Nera getötet hatte. Der Wolf riss unter wildem Gebrüll das Maul auf, als Pfeile ihren Leib durchbohrten und ein Schwerthieb ihn enthauptete. Der abgetrennte Wolfskopf veränderte sich … Nera blickte auf sein eigenes, bleiches Gesicht.

Eldárwen zog den Dolch zurück, das Leuchten verglomm und sie schob ihn in die Falten ihres Gewandes. Still und schwarz lag das Wasser vor ihnen.

„Nein, nein …“, flüsterte Nera und unterdrückte die aufsteigenden Tränen der Verzweiflung.

Sollte das wirklich sein Ende sein - und das seines Volkes und seines geliebten Königs?

Doch dann brandete der alte Kampfgeist in ihm auf. Er musste sie warnen. Wenn er sich beeilte, würde er Cruchain vielleicht erreichen, bevor sich seine Umwandlung vollzogen hatte.

Er versuchte aufzustehen, doch die Beine gaben unter ihm nach. Sein Körper verkrampfte sich und eine Welle des Schmerzes überrollte ihn. Die fortschreitende Verwandlung tobte nun durch seinen Körper, stampfte, stob und brüllte. Feuerzungen leckten in ihm, fuhren ihm brennend in die Augen, kreischten in seinen Ohren und zerwühlten mit scharfen Klingen seine Innereien.

Nera stöhnte, ihm wurde schwarz vor Augen. Dumpf hörte er seinen Namen, immer wieder eine Frage, wie aus aus der Ferne. Verschwommen näherte sich Eldárwens strahlendes Gesicht, sie legte ihre Stirn auf seine und Neras Blick wurde wieder klarer, die schreckliche Pein zog sich ein wenig zurück.

„Willst du mit mir kommen? Ich brauche deine Erlaubnis, dich in mein Reich zu bringen!“

Ihre drängende Stimme holte ihn in das Bewusstsein zurück.

„Aluinn…“, krächzte Nera, er fühlte den tosenden Schmerz wieder heranrasen, trotz der lindernden Berührung der Elbin.

„Du kannst ihn warnen, glaube mir, aber dafür musst du mit mir kommen.“

Erneut zerflossen Eldárwens Züge vor ihm, aus seiner Kehle drang an Stelle eines Stöhnens ein dumpfes Grollen, wie aus den Tiefen der Unterwelt.

Leuchtende Tränen rannen über Eldárwens Wangen, die sich in schimmernde Perlen verwandelten, bevor sie auf den Waldboden fielen.

„Vertrau mir, Liebster, vertrau mir! Willst du mit mir gehen?“

Als sie Neras geflüsterte Antwort vernahm, schloss sie ihn in ihre Arme und begann ein Klagelied zu singen, dessen tiefe Traurigkeit die Tiere in ihren Verstecken, selbst die Bäume erstarren ließ.

Kurz vor der Dämmerung erhob sie sich mit ihm in die Lüfte. Immer höher und höher schraubte sie sich, hielt Nera, halb Mensch, halb Bestie, der sich mit wild verzerrtem Gesicht in ihren Armen wand, fest an sich gepresst.

Bevor sie mit ihm durch das strahlende Portal des Mondelbenreiches glitt, verschloss sie seine Lippen mit ihren und erneut rannen die Perlen ihrer Tränen über ihre Wangen und seinen Körper.

Das, was sie nun tun musste, ließ sie für einen Moment des Leids innehalten. Der Zeitpunkt war gekommen, ihm seine Menschlichkeit zu nehmen.

Eldarwén griff nach dem Dolch und stieß ihn Nera ins Herz.

Frieden breitete sich auf dem Gesicht des sterbenden Kriegers aus.

 

Aluinn saß in seinem Gemach vor der Feuerstelle und blickte in die Glut der sterbenden Flammen.

Tiefe Sorgenfalten hatten sich in sein Gesicht eingegraben.

Fünf Tage waren vergangen, seit Nera in die Nacht des Dunkelmonds hinaus geritten war, und niemand rechnete noch mit der Rückkehr des Kriegers. Der Gedanke an ihn, an den Verlust, erfüllte den König mit Gram, er fühlte sich alt und müde.

So viele Sonnenwenden lagen hinter ihm, er ahnte, dass der Totengott bereits seine Arme nach ihm ausstreckte. Längst war es an der Zeit, einen Nachfolger zu benennen.

Doch wer sollte König von Tara werden? Niemals durfte sein Sohn Fearghus die Krone und die Macht erlangen, das war Aluinn bewusster als jemals zuvor. Wegen Fearghus' Unbesonnenheit musste Tara einen Krieg mit Connacht fürchten.

Ein eiserner Ring schien seine Brust zusammen zu drücken, als er an den gestrigen Abend zurückdachte, an dem ein Bote König Ennochs um Einlass gebeten hatte.

Er selbst hatte gerade im Bade gesessen, weil ihn, wie so oft in letzter Zeit, Schmerzen in den Knochen geplagt hatten.

So hatten Nathaira und Fearghus den Gesandten empfangen. Ennoch wollte wissen, wann das Gold zu erwarten sei, das die Vermählung von Innogen und Connal besiegeln und die Reiche Tara und Connacht zusammenführen sollte.

Warum Ennoch das Gold verlange?, hatte Fearghus gefragt.

Selbst Aluinn, dem man es erst später berichtete, hatte ob der rüden und beleidigenden Antwort schlucken müssen, und er hatte sich an Neras betrübten Gesichtsausdruck erinnert, an Samhain, als er ihr Gespräch abgebrochen hatte. Hätte er dem Krieger damals nur zugehört …

Er selbst wäre am nächsten Tag nach Connacht geritten, um die Sache mit Diplomatie zu klären. Fearghus aber war aufgebraust, er hatte den Überbringer der Nachricht zu Boden geschlagen, und Nathaira, anstatt den Sohn zu bremsen, hatte diesen noch zu weiterer Gewalt angestachelt. Danach hatte Fearghus dem geschundenen Boten die Kleidung abnehmen lassen, ihn nackt auf sein Pferd gesetzt und mit einer beleidigenden Schmährede auf König Ennoch aus Burg Cruchain gejagt.

Aluinn seufzte. Nun war alles verloren. Zwei große Reiche standen Tara bereits feindlich gegenüber. Seine Hoffnung war gewesen, sie durch das Bündnis mit Connacht in Schach halten zu können. Was nur sollte er tun?

Mit diesem Gedanken und dem Herz voll quälender Sorge glitt der alte König in den Schlaf.

„Mein König …“

Ein Luftzug strich über sein Gesicht. Langsam öffnete Aluinn die Lider.

Er saß im Dunkeln, Kälte umfing ihn und ließ seine Glieder wieder schmerzen.

Das Feuer war heruntergebrannt, nur noch winzige Glutaugen blinzelten aus der Asche.

„Aluinn.“

Die Stimme zog wie ein Windhauch durch sein Gemach, verstärkte die Glut im Kamin. Der König blickte sich um, aber dort war niemand.

„Wer ist da?“, krächzte er.

Erneut fuhr eine Bö durch den Raum und plötzlich loderte das Feuer wieder auf, jedoch waren die Flammen bläulich und verbreiteten keinerlei Wärme.

Aluinn erstarrte und sog scharf den Atem ein. Träumte er?

Aus dem Feuer strahlten ihm Augen wie Saphire entgegen, aus einem Gesicht, das von silbernem Haar umweht wurde. Das schneeweiße Antlitz erinnerte den König an … war das … konnte das …

Jedoch wies das Gesicht keine Narbe auf, die Züge waren zu glatt … und doch …

„Mein König, Connacht plant einen Überfall, Ihr müsst rasch handeln.“

„Nera“, flüsterte Aluinn und starrte auf die Erscheinung im Feuer. Er erkannte ihn, auch wenn die Stimme des Kriegers wie der sanfte Atem des Windes klang.

„Was ist mit dir geschehen?“

Das Antlitz blieb unbewegt, aber das Strahlen der blauen Augen zog den König in ihren Bann und eine seltsame Ruhe legte sich über ihn.

„Ihr müsst einen Boten nach Leinster senden, um ein Bündnis …“

„Zu König Oengus?“, fiel Aluinn der Erscheinung ins Wort. „Niemals! Er steht uns feindlich gegenüber, hat vor Jahren alle Versöhnungsangebote ausgeschlagen!“

Das leuchtende Blau der Augen wurde intensiver und Aluinns Erregung legte sich wieder. Erneut wehte ihm die Stimme entgegen, und der König bemerkte erst jetzt, dass sich die Lippen der Erscheinung nicht bewegten.

„Oengus ist alt und schwach. Sein Sohn Niall trifft seit Längerem schon alle Entscheidungen. Verhandelt mit ihm, er wird Euch empfangen, er ist weise und besonnen. Niall wird bald König und er wird ein besserer sein als sein Vater, für Leinster – und auch für Tara, und ein guter Ehemann für Eure Tochter …“

Aluinn fixierte die Erscheinung in dem geisterhaften Feuer und verharrte stumm. Dunkel war ihm bewusst, dass er träumte. Konnte es sein, dass ihm gerade ein Aisling widerfuhr?

Das Lodern der Flammen nahm ab, zeitgleich verblasste das flimmernde Gesicht.

Ein letztes zartes Wispern drang an Aluinns Ohren: „Lebt wohl, mein weiser König …“

Auf einen Schlag erlosch das Flackern.

 

Aluinn schreckte hoch, sein Herz schlug heftig gegen seine Rippen. Er presste eine Hand auf seine Brust. Vollkommen finster war es im Gemach, in der Feuerstelle lag nur tote Asche. Er fror.

Der König schloss die Augen und lehnte sich zurück, ließ seine Gedanken schweifen. Er war im Schlaf in einen Aisling gefallen, in dem ihm Nera begegnet war, wenn auch in anderer Gestalt … Was nur war aus ihm geworden? Hatte sein Geist aus dem Großen Hain des Friedens zu ihm gesprochen?

Er würde es wohl nie erfahren.

Schwerfällig erhob er sich vom Stuhl. Was für ein Wesen sein einstiger Krieger nun auch war, er zweifelte nicht an ihm. Er würde seinen Rat befolgen, der Vision vertrauen, und sich morgen - nur von einer kleinen Eskorte begleitet, die seine friedlichen Absichten bewies - nach Leinster aufmachen.

Zuvor würde er den Segen der Druiden für die bevorstehenden Verhandlungen einholen. Ruhe und Frieden stiegen in ihm auf.

Bevor sich der alte König schlafen legte, entzündete er Weihrauch in einer Schale und betete zu Dagda, dem Gott der Zuversicht und der Stärke.

Seine letzten Worte aber galten einem anderen.

„Die Welt ist dunkler geworden, denn dein Licht am Firmament ist verloschen. Ich klage, denn dein Stern ist verglüht. Mögen die Götter dich auf sicheren Pfaden durch die andere Welt geleiten", sprach er die Worte eines alten Totengebets.

„Mögen Heil und Segen über Tara kommen und ein neues, starkes Herrschergeschlecht hervorbringen", betete er weiter. 

„Heil und Segen auch dir, Nera. Tara hat einen großen Mann verloren. Nimm meinen Dank, mein treuer Krieger, wo immer du auch bist. Nie sollst du vergessen werden.“

 

Impressum

Texte: alle Rechte allein Ursula Kollasch, Urheberrecht notariell geschützt!
Bildmaterialien: 4ever.eu bearbeitet von susymah
Tag der Veröffentlichung: 11.10.2012

Alle Rechte vorbehalten

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