„Verstehen Sie doch – ich habe Queenie nicht umgebracht. Das ist die Wahrheit! Sie war das Wichtigste für mich! Meine Stütze, meine Stärke.“
Er blickte die gestrenge Richterin mit flehenden Augen an.
„Es war eine Falle! Sie ist ein Opfer meiner Unbedachtheit, eines schicksalhaften Moments geworden ... zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber diese einfältigen, nichtsnutzigen Bauerntrampel haben es getan, DIE haben sie getötet!“
Mr. Bishop schwitzte, er hatte sich in Rage geredet. Warum glaubte ihm niemand?
Sein Herz galoppierte. Der Schweiß rann ihm nur so von der Stirn und unter den Achseln herab. Er solle sich nicht immer so aufregen, hatte sein Arzt, Dr. Mori, gesagt. Das sei nicht gut für ihn. Der hatte gut reden, dieser Penner! Er saß ja auch nicht gerade in einem Mordprozess auf der Anklagebank.
Bishop begann unkontrolliert zu husten, er konnte nichts dagegen tun. Die Töne kamen als heisere Staccatolaute aus seiner Kehle und erinnerten ihn an das Feuer eines Maschinengewehrs … bamm bamm bamm …
Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. Fast hätte er Daumen und Zeigefinger gehoben und auf diese Ziege von Richterin gezielt … doch schnell riss er sich wieder zusammen. Er musste sich unter Kontrolle halten. Sein Anwalt, Mr. Rook, sah ihn mit einem seltsamen, mahnenden Blick an und stupste unauffällig gegen den Arm seines Mandanten. Bishop sollte sich benehmen, zumindest vor Gericht. Okay, okay.
Der Angeklagte gab ein Grunzen von sich, lehnte sich ergeben auf seinem Stuhl zurück und schaffte es sogar, der grauhaarigen Matrone am Richtertisch zuzulächeln, auch wenn sein Gesichtsausdruck eher einer Grimasse glich. Wie sah die überhaupt aus!
Eine schreckliche Frisur verunstaltete ihr Haupt, das Haar hing ihr in ungepflegten grauen Strähnen in die Stirn und auf die Schultern. Trotzdem war sie ehrfurchtgebietend. Ihre Miene blieb unbewegt, nur ihre Kiefer mahlten in dem von Falten zerfurchten Bulldoggengesicht, verliehen ihm einen grimmigen Ausdruck. Ihre Augen fixierten den Angeklagten, sie schien zu überlegen, was sie von ihm halten sollte, und Bishop begann erneut der Schweiß auszubrechen. Wieder entfuhr ihm das bellende Husten, aber diesmal konnte er es unterdrücken, denn die Alte sah ihn wieder prüfend an.
Dann erteilte sie Staatsanwalt Knight das Wort. Er erhob sich sofort von seinem Stuhl, schoss wie eine Tarantel um den Tisch herum und baute sich vor dem Angeklagten auf. Der zog unmerklich den Kopf ein.
„War es nicht vielmehr so, Mr. Bishop, dass Sie es waren, der den Mord an Miss Queen - an Ihrer Queenie, wie Sie sagen - beging? Reden wir doch noch mal über Ihre Unbedachtheit, diesen "schicksalshaften Moment", den Sie erwähnten. Warum schieben Sie die ehrenwerten Landwirte vor? Diese Männer sind genauso Ihre Opfer geworden wie Ihre Herzensdame!“
Staatsanwalt Knight liebte es schwülstige Ausdrücke zu gebrauchen, es war so etwas wie sein Markenzeichen. Nun machte er eine Kunstpause, um seine Worte wirken zu lassen und fuhr sich mit der Hand über seine Glatze, sie glänzte wie eine polierte Billardkugel, abgesehen von ein paar leichten Rötungen. Er kratzte sich. Seine Kopfhaut juckte. Rasch nahm er die Hand wieder herunter und senkte seinen glühenden Blick zurück auf den Angeklagten, als ob er ihn hypnotisieren wollte. Seine Stimme schnurrte nun sanft wie eine Katze.
„Schildern Sie bitte noch einmal den Tathergang aus Ihrer Sicht, Mr. Bishop.“
Bishop war nicht dumm, er ließ sich von der aufgesetzten Freundlichkeit nicht einlullen - sie machte ihn eher nervös. Er leckte sich über die Lippen, sein rechtes Augenlid begann wieder zu zucken. Heftiger als zuvor, aber er bemerkte es nicht. War vollkommen darauf konzentriert, jetzt nur keinen Fehler zu machen, und begann zu erzählen.
„Wir waren unterwegs, wollten einen Abstecher zum Turm machen. Da war er. Hoch, schlank, eindrucksvoll. Ich konnte ihn in der Ferne sehen. Queenie wollte unbedingt dorthin, sie preschte voraus, trieb das Pferd an. Ich blieb zurück, in Gedanken, sah sie davonziehen, hielt es irgendwie für einen gefährlichen Ort … Und schon gerieten sie in diesen Hinterhalt! Zuerst stürzte sich dieser verrückte Farmer auf das Pferd und schlachtete es ab. Es war schrecklich, das mit anzusehen. Queenie war in Gefahr, das wusste ich, doch ich war unfähig zu helfen, war wie gelähmt vor Schreck … konnte nicht mehr eingreifen. Es war zu spät. Sie war stark, ja, wehrte sich, sie schlug den Mann, der das Pferd getötet hatte, setzte ihn außer Gefecht. Aber da war noch ein weiterer, der es auf sie abgesehen hatte. Sie versuchte zu fliehen, doch sie konnte ihm nicht mehr entkommen, es gab keine Fluchtmöglichkeit für sie, und ich musste mit ansehen … musste zusehen, wie …“
Bishops Stimme brach, er schluckte schwer. Tränen traten in seine Augen, die jetzt beide zuckten, und er verkrampfte seine Hände ineinander. „Er hat sie mir genommen. Das war das Ende."
Die schreckliche Erinnerung machte ihm zu schaffen, das konnten alle sehen. Sein Anwalt klopfte ihm begütigend auf den Arm, legte dann eine kühle Hand auf seine. Es sollte eine beruhigende Geste sein, doch Bishop wischte die Hand unwirsch beiseite wie eine lästige Fliege.
„Laberkopf! So helfen Sie mir doch! Und betatschen Sie mich nicht dauernd, Sie Pfeife!“
Mr. Rook zuckte merklich zusammen. Auch die Richterin, die gerade an ihrem scheußlichen Haar herumfummelte, erstarrte, klopfte dann mit ihrem Hammer und mahnte mit Donnerstimme: „Mäßigen Sie sich, Angeklagter! Diesen Tonfall dulde ich nicht in meinem Gerichtssaal, verstanden? Ich verhänge 100 Pfund Bußgeld wegen Missachtung des Gerichts.“
Ihre Augenbrauen hatten sich zu finsteren Gewitterwolken zusammengezogen, als sie ihn drohend anstarrte. Bishop knurrte wie ein Hund, aber er senkte den Blick, ballte seine Hände so fest unter dem Tisch, dass die Fingerknöchel schmerzten. Sein Anwalt hatte sich inzwischen wieder gefasst und sprach: „Wertes Gericht, verzeihen Sie meinem Mandanten. Er ist, was Sie bestimmt nachvollziehen können, durch die neuerliche Konfrontation mit dem tragischen Geschehen, der beobachteten Tat, sehr erregt.“
Er versuchte Blickkontakt zu Bishop herzustellen, der aber weiter stur nach unten guckte und sagte mit sanfter Stimme: „Mr. Bishop, bitte fahren Sie fort.“
Der Angeklagte hob den Kopf. Sein Gesicht sah zermürbt und hart zugleich aus.
„Dieser wertlose Kerl hat sie geschlagen und weggeschleift, aus meinem Blickfeld. Alles ging so schnell. Was hätte ich denn anderes tun sollen?“
Verständnisheischend blickte er um sich, auf der Richterin blieben seine Augen hängen.
„Verstehen Sie das denn nicht? Quid pro quo! Ja, ich gestehe: Ich habe den Bauerntölpel erledigt – und auch noch ein weiteres Mitglied dieser Mörderbande, denn sie haben mir meine Queenie genommen."
Wieder fühlte er den unbändigen Zorn in sich aufwallen, konnte ihn kaum noch im Zaum halten, sein Gesicht glühte, drohte zu platzen. „Aber – zur Hölle mit ihnen! Es war die gerechte Strafe für diese Wichser!“
Die Richterin wurde nun ebenfalls rot vor Wut, auf ihrer Stirn schwoll eine dicke graue Ader an. „Noch einmal 100 Pfund Bußgeld – mir passt Ihr Ton nicht! Mä-ßi-gen Sie sich!“
Bishop verlor bei diesem Gekeife die Kontrolle, sah nur noch Funken vor seinen Augen explodieren und sprang so heftig auf, dass sein Stuhl umkippte.
„Hexe! Luder! Du kannst mir gar nichts!“ Er schüttelte seine Faust, die Augen weit aufgerissen. Speichel flog von seinen Lippen, als er in Richtung des Staatsanwaltes weiterwütete:
„Drecksack! Jawohl – glotz nicht so, du Schwuchtel! Mehr als Worte verdrehen kannst du auch nicht!“
Dann wollte er gegen seinen Anwalt geifern, doch die zornschnaubende Richterin übertönte ihn mit ihrer gewaltigen Stimme, während sie den Hammer wieder und wieder aufs Holz krachen ließ. „Ruhe! Ruhe! Gerichtsdiener, entfernen Sie dieses Subjekt aus meinem Gerichtssaal! Sofort!“
Bishop war nicht mehr zu bremsen. Er nahm Gegenstände vom Tisch auf und begann, sie auf die Richterin zu werfen, immer schneller prasselten die Geschosse auf sie ein, die zum Schutz ihre Arme vor das Gesicht hob.
In diesem Moment flog die Tür auf.
„Schluss jetzt, genug! Nehmt ihn mit!“
Zwei Männer traten rasch hinzu, zerrten den spuckenden und sich windenden Bishop von seinem Stuhl und schleiften ihn in professionellem Griff aus dem Zimmer.
„Fotzen!“, hörten sie ihn auf dem Gang brüllen, die Schritte der Männer entfernten sich, genauso wie sein Gezeter. Dann wurde es still im Raum.
Krankenpflegeschülerin Holly sah erschrocken, regelrecht verstört aus.
„Ach, meine Liebe, und das an Ihrem ersten Tag! Aber so schlimm, wie es klang, ist es gar nicht“, beruhigte sie Schwester Martha, die ihren entsetzten Ausdruck sah. „Die kriegen sich schnell wieder ein.“
Nun wandte sich die robuste Schwester dem Mann am Tisch zu.
„Henry, was sollte das denn schon wieder.“
Mit einem Ruck zerrte sie ihm den Wischmopp vom Kopf und seine Glatze kam zum Vorschein.
„Sie sollen doch nicht immer Sachen aus der Putzmittelkammer entwenden, das ist verboten, das wissen Sie ganz genau. So, und nun nehmen Sie erst mal Ihre Pillen. Mund auf!“
Gehorsam öffnete der beleibte Hüne den Mund und Schwester Martha legte ihm die beiden kleinen, blauen Tabletten auf die Zunge. Sein Ärger schien verflogen. Jetzt war er wieder Henry, schluckte und spülte die Pillen mit einem Schluck Wasser hinunter, das die Schwester ihm reichte, erschien sanftmütig wie ein Lämmchen.
Martha bückte sich, zog dem Patienten seine Filzpantoffeln an die nackten Füße und führte ihn zu seinem Bett, wo er die Hausschuhe wieder auszog und ordentlich neben den Nachttisch stellte.
„In letzter Zeit hatte es so gut geklappt mit Ihnen beiden – und jetzt das. Warum können Sie das nicht lassen? Wollen Sie etwa wieder Umgangsverbot mit Carl bekommen? Mit wem wollen Sie denn dann Schach spielen?“ Henry murmelte etwas Unverständliches, setzte sich auf sein Bett und legte sich hin. Er war erschöpft und schloss sofort seine Augen. Martha zog die Decke über ihn.
„Ruhen Sie sich aus, ja? Bis später.“
Ihre Schwesternschuhe quietschten leise über das Linoleum, als sie zu Pflegeschülerin Holly zurückkehrte. Die junge Frau sammelte gerade die letzten Schachfiguren vom Boden auf und stellte sie zurück auf das Brett.
„Danke, meine Liebe, sehr aufmerksam. Kommen Sie, wir lassen Henry jetzt schlafen.“
Sie gingen hinaus und Martha schloss behutsam die Tür. Holly überlegte. Dann gab sie sich einen Ruck und fragte: „Warum hatte der alte Herr einen Wischmopp auf dem Kopf?“
Schwester Martha schmunzelte. „Holly, wir sind hier in der Psychiatrie … aber ich will versuchen, es Ihnen zu erklären. Henry war früher Richter, einer der zwölf am Supreme Court, dem obersten Gerichtshof. Bis er leider an dieser dissoziativen Identitätsstörung erkrankte.“
Die Pflegeschülerin sah Schwester Martha fragend an.
„Bestimmt sagt Ihnen der Begriff multiple Persönlichkeit etwas? Die Patienten bilden zahlreiche unterschiedliche Persönlichkeiten, die abwechselnd die Kontrolle über ihr Verhalten übernehmen. Manchmal ist Henry vier bis fünf verschiedene Personen auf ein Mal … ziemlich anstrengend.“
Marthas Stimme verhallte in dem langen, hohen Klinikflur. Sie hörten nur noch ihre Schritte, bis sie an einer Tür vorbeikamen, hinter der jemand kreischte und gleichzeitig immer wieder auflachte. Bis zum Schwesternzimmer war es noch ein Stück Weg, jetzt stiegen sie die Stufen hinauf.
Da die ältere Pflegerin so freundlich wirkte und bereitwillig erklärte, fragte Holly weiter: „Und der andere – dieser … Carl?“
„Ach, unser Carl. Der ist schon so lange hier. Leidet unter schweren Psychosen, müssen Sie wissen, weiß manchmal gar nicht mehr, wer er ist und wo, was er tut. Dabei hatte er gute Fortschritte gemacht, war so effektiv mit Medikamenten eingestellt.“
Schwester Martha seufzte, es klang ein wenig ärgerlich. „Henry hat ihn wieder manipuliert. Schade, dabei hatten die beiden in letzter Zeit so schön Schach zusammen gespielt … Und - Carl leidet außerdem noch unter dem Tourette-Syndrom …“
Die Schachfiguren
König = king
Dame = queen
Läufer = bishop
Pferd / Springer = knight
Turm = rook
Bauer = pawn
Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: canva
Tag der Veröffentlichung: 19.07.2012
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