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Meine Geschichte ...

Das klingt so langweilig, nichtssagend, wie Schule. Oder als wäre ich eine alte Frau, die einen mit ihren öden Lebenserinnerungen vollquatscht.

Nein. Das bin ich nicht. Ich bin fünfzehn und Dad sagt immer, ich habe das Leben noch vor mir. Ich soll auf mich achtgeben. Mich an die Regeln halten. Er nervt!

Früher, als ich noch kleiner war, ist mir das gar nicht so aufgefallen. Da war er nur viel weg.

Er arbeitete als Ingenieur für eine Baufirma und wurde in ganz Deutschland rumgeschickt. Deshalb lebte Oma Helga bei uns. Sie hat den Haushalt geschmissen und auf mich aufgepasst, wenn er fort war. Oft waren da wochenlang nur wir zwei. Oma und ich.

Sie hat mich von der Schule abgeholt, meine Lieblingsessen gekocht und mit mir gespielt, wenn sie nicht gerade staubsaugte oder wischte. Sie roch immer ein bisschen nach alter Frau und nach Schokolade, weil sie die ständig gegessen hat, und im Haus duftete es nach Essen oder frischgebackenem Kuchen. Abends hat sie sich zu mir auf mein Bett gesetzt und mir Geschichten aus einem dicken Buch vorgelesen. Oder sie ist in ihren hässlichen Zelten von Nachthemden nachts in mein Zimmer gestürmt, wenn ich Albträume hatte und im Schlaf schrie, hat mich an sich gedrückt und getröstet. Ich habe Oma Helga geliebt. Sie war bei uns eingezogen, als ich sieben war, als das mit meiner Ma passiert war …

Vorletztes Jahr ist Oma gestorben.

Mein Vater hat dann bei der Baufirma gekündigt und sich einen neuen Job gesucht. Hier in Hamburg.

Seitdem ist er nicht mehr so viel weg, geht morgens aus dem Haus und kommt am frühen Abend zurück. Fragt mich nach meinen Hausaufgaben, nach Klassenarbeiten. Wenn wir uns überhaupt sehen. Meistens gehe ich ihm aus dem Weg, weil er immer nur über Schule redet.

Früher haben wir uns Bilder von Mama angeguckt und er hat von ihr erzählt, aber so komisch, er hat beim Reden immer Pausen gemacht, nur noch geatmet. Das habe ich als Kind nicht verstanden.

Dann wurden diese Gespräche immer weniger und irgendwann hat er gar nicht mehr von ihr gesprochen und ich habe aufgehört, nach ihr zu fragen.

Ich muss dieses Jahr die Klasse wiederholen. Meine Lehrerin hat gesagt, dass ich vielleicht nicht auf dem Gymnasium bleiben kann. Mir doch egal. Ich hänge eh schon mit Leuten von der IGS herum, der Gesamtschule neben dem Gymnasium. Sind nicht so langweilige Streber. Die verstehen mich wenigstens und labern nicht so'n Scheiß.

Wenn Dad sich nicht in seinem Arbeitszimmer einschließt und seine alte Musik hört, hält er mir Vorträge. Wie das nervt!

„Schule ist wichtig. Du willst doch Tierärztin werden, oder? Dafür musst du studieren. Abends bist du ab jetzt um zehn zu Hause. Klar?“

Dann guckt er mich mit seinen müden Augen durch die Brille an. Das ist so cringe! Wann sind seine Haare so dünn geworden, seine Schläfen grau?

Ich presse die Lippen zusammen und gucke stur geradeaus. Und merke, dass ich wütend werde. Wütend, weil er nie richtig da ist, aber mir Vorschriften macht.

Was weiß er schon von meinen Freunden, meinem Leben? Nichts! Er will, dass ich mich wieder mit Melli und Alina treffe. Mensch Dad, das waren meine besten Freundinnen in der Grundschule, raff' mal was! Ich treff' die schon lange nicht mehr. Und Tierärztin will ich seit einer Ewigkeit nicht mehr werden. Das war früher.

Ich bin stinksauer. Er weiß gar nichts. Er hört nicht zu. Weil er alt ist. Weil er nicht weiß, wer ich bin. Weil es ihn nicht interessiert.

Das tut weh. Ich stehe auf, will raus.

„Sarah, bleib hier. Wo gehst du hin?“ Er läuft hinter mir her. Ich schaue ihn nicht an und schnappe meine Jacke. Will seinen traurigen Hundeblick nicht sehen.

„Um zehn bist du zurück!“

Ich antworte nicht und knalle die Haustür zu.

Meine Clique trifft sich jeden Abend, bei Marvin. Er lebt mit seiner Mutter in der Innenstadt. Eigentlich ist es seine Wohnung, denn seine Mutter ist nie da. Bei Marvin gibt's immer was zu trinken und Gras. Er kann die Musik aufdrehen so laut er will, keinen juckt's, auch nicht, ob er zur Schule geht oder abends Party macht. Die Entschuldigungen kann er sich selber schreiben, er ist schon achtzehn. 

Ich habe ihn und die anderen - Tami, Lara, Justin und Mats – vor einiger Zeit kennengelernt, als ich heimlich in der Pause zur IGS rübergelaufen bin und eine rauchen wollte. Die Gym-Streber latschen immer nur über unseren Schulhof und labern über Tests und Kinderkram. Und erst die lachhaften Ökoklamotten, in denen die rumlaufen. 

Ich habe sie bei den Müllcontainern stehen und rauchen sehen, sie lachten. Sahen glücklich aus. Irgendwie zusammen. Sie haben mich magisch angezogen.

Ich bin zu ihnen hin und habe Lara um eine Zigarette angeschnorrt, weil sie am nettesten wirkte. Irrtum.

Sie hat mich angeguckt, eine Augenbraue hochgezogen und so breit gegrinst, dass ich dachte, ihr Piercing springt gleich aus der Lippe.

„Na, will die kleine Gymtussi mal wild sein?“

Die anderen haben gelacht und ich fühlte, wie ich rot wurde. Aber Tami, mit dem vielen Schwarz um die Augen, hat mich von oben bis unten gemustert, mir auf die Schulter geklopft und mir eine Kippe gegeben. „Lass sie. Sie ist ganz okay – für 'ne Streberin!“

Wieder haben alle gelacht und ich fühlte mich fast, als ob ich schon dazu gehörte.

An meinen ersten Abend bei Marvin kann ich mich gut erinnern. Peinlicher Auftritt. Dad hatte sich wieder in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen und seinen Opernscheiß gehört. (Müsste ich mir mal erlauben, um die ZEIT in der LAUTSTÄRKE! Mir hatte er deswegen mal meine Boxen weggenommen!)

Er hat gar nicht gemerkt, dass ich einfach gegangen bin. Ich habe mich plötzlich ganz frei gefühlt. Mit dem Fahrrad bin ich zu Marvin gefahren.

Es war Sommer und tierisch heiß und als ich ankam, war ich total verschwitzt. Die Fenster von Marvins Wohnung standen offen und ich konnte die Musik und ihr Lachen bis auf die Straße hören. Als ob sie eine Geburtstagsparty am Samstagabend feierten, es nicht dienstags wäre.

Ich schloss mein Rad an und ging durch die Eingangstür in das Treppenhaus. Es hallte und wummerte darin von den Bässen und klang, als würden eine ganze Menge Leute da oben feiern.

Es dauerte eine Weile, bis Lara aufmachte. Sie hatten mein Klingeln und Klopfen nicht gehört.

„Hey, Strebi!“, rief sie. Sie sah albern und breit aus, drückte mich kurz.

„Strebi ist da!“, brüllte sie, als sie mich zu den anderen führte. Ich musste grinsen!

Das Fünf so einen Lärm machen konnten, und keiner der Nachbarn sagte was dazu!

Dad rief ein paar Mal an, aber ich habe ihn jedes Mal weggedrückt und das Handy irgendwann abgestellt.

An diesem Abend habe ich mich zum ersten Mal mit Wodka abgeschossen, auch etwas Hasch geraucht und dann Marvins Bad vollgekotzt.

Aber keiner hat deswegen gestresst. Sie haben mich nur ein bisschen ausgelacht und ich musste es selbst wegwischen, obwohl mir sauelend war. Ich habe mich dann auf's Sofa gepackt und bin trotz des Lärms eingeschlafen.

Am nächsten Morgen bin ich vom grellen Sonnenlicht und mit Kopfschmerzen aufgewacht.

Mann, hatte ich Durst - und alles drehte sich. Es roch nach Aschenbecher und verschüttetem Alk.

Ich war allein. Oder die anderen pennten in Marvins Zimmer.

Ich hatte das Gefühl, gleich wieder spucken zu müssen. Hab' meine Tasche genommen und bin raus. Auf's Rad. Wieder drehte sich alles, weiß gar nicht mehr, wie ich heil nach Hause gekommen bin. Hab' mir ein Aspirin aufgelöst, die Jalousien in meinem Zimmer runtergelassen und mich ins Bett gelegt.

Scheiß auf die Schule.

Doch etwas wie ein schlechtes Gewissen nagte in mir, ich konnte es nicht wegschieben, es begleitete mich in den Schlaf.


Dads Gesicht war ganz rot vor Wut, als er am späten Nachmittag nach Hause kam. „Wo warst du? Wo treibst du dich herum?“

Ich zuckte nur mit den Achseln. „Bei Freunden.“

Er drückte mich auf einen Stuhl. Ich hasse das, wenn er mich anfasst, und war froh, dass er nicht neben mir stehenblieb, sondern sich gegenüber hinsetzte.

„Bei was für Freunden? Warum bist du nicht rangegangen, als ich angerufen habe? Warst du heute überhaupt in der Schule?“

Ich starrte an ihm vorbei.

„Hör mal gut zu: Es gibt hier Regeln und an die hältst du dich, verstanden?“

Ich blieb stumm und wandte meinen Blick aus dem Fenster in den Garten. Eine Elster hüpfte gerade über den Rasen.

„Schau mich an, wenn ich mit dir rede.“ Seine Stimme wurde schärfer.

Ich hob den Blick und guckte ihn möglichst genervt an. Verdrehte die Augen, weil ihn das ärgert.

„Wenn du unsere Abmachungen nicht einhältst, gehst du abends gar nicht mehr raus.“

„Was willst du dann machen, mich einsperren?“, höhnte ich, wusste ich doch, dass er das nie tun würde.

Er tat so, als hätte er das nicht gehört.

„Kümmere dich lieber um deine Hausaufgaben und lern' für die Klassenarbeiten. Frau Caesar hat mich schon wieder angerufen. Sie macht sich auch Sorgen um dich.“

Er verstummte kurz.

„Mensch, Sarah, was ist bloß los mit dir?“

Ich hatte nicht schnell genug fort geschaut und da war er wieder, dieser Ausdruck in seinem Gesicht.

Kummer. Sorge. Alt werden.

Ich fühlte ein mieses Ziehen im Magen und wieder dieses Band, dass meine Kehle zuschnürte. Es machte mich aggressiv.

„Leck mich doch!“ Ich stand so heftig auf, dass der Stuhl umkippte, das Holz knallte wie ein Gewehrschuss auf die Fliesen.

„Lass mich einfach in Ruhe.“ Ich ging raus.

Wenn ich in den Spiegel sehe, sehe ich meine Ma, aber irgendwie auch nicht. Ich habe ihr hellblondes Haar und ihre braunen Augen. Die Haare habe ich hellrosa gefärbt, rosa wie Zuckerwatte, um anders auszusehen, an den braunen Augen kann ich nicht viel ändern.

Auf dem Foto in meinem Zimmer lächelt sie mich an, ihre Augen strahlen. Meine nicht. Schon gar nicht mehr, seit ich sie so dick mit Kajal umrande. Ich sehe aus wie ein junger, toter Abklatsch von ihr.

Manchmal, wenn ich traurig bin, krame ich mein altes Tagebuch raus. Will dann noch trauriger sein. Sehe auf meine Kinderschrift, die auf einigen Seiten ganz verschmiert ist, weil ich da geweint habe beim Schreiben. Das war lange nach dem Unfall, als ich elf war.

Irgendwann in dieser Zeit hatte ich aufgeschnappt, wie' s wirklich passiert war.

Heike, Mamas beste Freundin, war da und unterhielt sich mit Dad. Früher, nach dem Unfall, war sie oft bei uns. Bis sie vor drei Jahren heiratete, nach Dänemark zog und einfach aus meinem Leben verschwand.

Sie dachten, ich schliefe, aber ich hatte ihre Stimmen gehört, saß oben an der Treppe und belauschte sie.

„Peter, du musst mit Sarah reden. Du kannst es nicht totschweigen. Irgendwann wird sie es von irgendwem erfahren. Es ist besser, sie hört es von dir.“

„Ich kann nicht. Sie wird mich hassen. Wie soll ich ihr sagen, dass ich schuld war? Dass Maggie nicht fahren wollte, aber musste, weil ich zu besoffen war? Du weißt, sie konnte nachts nicht gut sehen und es hat so heftig geregnet. Wir haben uns gestritten. Ich habe sie umgebracht.“

Dad war verstummt und hatte so ein komisches, unterdrücktes Geräusch gemacht.

„Nein. Das hast du nicht. Rede dir das nicht mehr ein. Es war ein Unfall! Ich weiß, dass es immer noch weh tut, ich weiß ... Aber bitte, sprich mit Sarah. Geh doch endlich mit ihr zu der Kinderpsychologin, die ich dir aufgeschrieben habe.“

Sie hatten noch eine Weile weitergeredet, aber mir hatte sich alles gedreht vor Augen und ich hatte das Gefühl gehabt, nicht mehr richtig atmen zu können.

Mir hatte er nur gesagt, dass die beiden auf einer Party gewesen waren und auf dem Rückweg einen Unfall hatten. Aber nicht, dass es seine Schuld gewesen war. 

Sie hatte das Auto an einen Baum gefahren. Dad hatte eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung.

Mama war sofort tot gewesen.

Er hat natürlich nicht mit mir gesprochen. Weder am nächsten Tag, noch an einem anderen.
Seitdem hat sich etwas ausgeklinkt in mir. Er ist mir immer fremder geworden.
Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin eine Last für ihn, es wäre ihm lieber, wenn ich weg wäre.
Was wäre, wenn … immer wieder rast dieser Gedankenkreisel durch meinen Kopf.
Wenn ich nicht aufpasse, mich nicht ablenke.
Was wäre, wenn Dad nicht getrunken hätte? Wenn sie nicht zu der Party gefahren wären? Wenn sie mit einem Taxi gefahren wären?
Wenn Mama einfach noch da wäre?


Ich habe Erinnerungen an sie, aber es werden irgendwie immer weniger und ich habe Angst, dass die auch noch aus meinem Kopf verschwinden.
Ein Besuch im Zoo. Mama hat ein gelbes Kleid an und ist ganz braungebrannt. Sie hebt mich hoch, drückt mich an sich und lacht mit mir über die Affen, die über das Gelände toben. Riecht nach Sonnencreme und ihrem leckeren Shampoo.
Mama mit uns am Strand. Die Sonne brennt. Sie trägt einen Strohhut. Die Wellen, die unsere Füße umspülen, sind eiskalt, aber sie lässt plötzlich Papas Hand los und rennt albern kreischend wie ein kleines Kind ins Meer, spritzt uns mit kaltem salzigem Wasser nass. Ihr Hut fliegt ihr vom Kopf und treibt auf den Wellen. Sie ruft mich.
Früher habe ich alle Erinnerungen aufgeschrieben, wenn sie mich besuchten, heimlich, weil ich sie nicht verlieren wollte. Jetzt schreibe ich gar nicht mehr.

Mittwochnacht. Ich kann kaum gerade stehen, mein Fahrrad liegt im Vorgarten.

Ich versuche, möglichst leise die Tür aufzuschließen, aber der Schlüssel will nicht ins Schloss, es dauert, bis sie offen ist.

Im Flur taumele ich gegen den Garderobenständer. Er fällt mit einem Knall auf den Boden.

Ich muss mich an der Wand abstützen. Shit! Das Licht geht an. Da steht Dad. In seinem hellblauen Pyjama, die Haare stehen ihm ab. Er hatte schon geschlafen. Ohne Brille sehen seine Augen ganz klein aus.

„Wo kommst du her?“

Ich will an ihm vorbei, aber er stellt sich mir in den Weg.

„Du bist ja besoffen!“ Seine Stimme überschlägt sich, er schreit mich an, genau vor meinem Gesicht.

„Es reicht, Sarah! Es reicht! Ich kann nicht mehr. Schau dich an!“

Er fasst meine Schultern und schiebt mich vor den Garderobenspiegel. Ich will mich losreißen, doch sein Griff ist hart, tut weh. Seine Hände zittern, und plötzlich habe ich Angst, dass er mich schlagen könnte.

Ich gucke krampfhaft zu Boden, will nicht sehen, was ihm solche Angst macht, was diese Wut und dieses Entsetzen in ihm auslöst. Aber er packt meinen Kopf und zwingt mich, in den Spiegel zu schauen. Bevor ich die Augen schließen kann, ist es geschehen.

Meine Schminke ist schwarz verlaufen, Kotze klebt in meinem Gesicht und auf meinem T-Shirt. Meine Lippe ist an einer Seite geschwollen und hat geblutet, weil ich bei Marvin aufs Waschbecken geknallt bin, als ich pinkeln wollte. Ich sehe aus wie eine Drogenleiche.

Ich schluchze auf und will seinen Griff loswerden, ziehe den Kopf ein und verkrampfe meine Schultern.

Dad atmet schwer, er lässt mich los und tritt einen Schritt zurück. Ich schwanke und wende mich um, will in mein Zimmer. Lass mich einfach gehen!

Doch seine Stimme folgt mir: „Wenn das deine Mutter wüsste, es würde ihr das Herz zerreißen!“

Mein Atem setzt aus. Meine Kehle wird ein harter Klumpen, der nicht mehr schlucken kann. Meine Augen beginnen zu brennen, ich balle meine Hände zu Fäusten.

Wut, Trauer und Hass steigen gleichzeitig in mir auf, überfallen mich wie ein wildes, ausbrechendes Tier, das zu lange eingesperrt war.

Du redest von Mama? Du? Du hast sie umgebracht, du Arsch! Denkst du, ich weiß das nicht? Ich hasse dich! Red' nie wieder von Mama!“

Er reißt die Augen auf, öffnet seinen Mund, aber nichts kommt heraus, seine Hände sinken kraftlos herab.

Ich erschrecke über mich selbst. Kann hier nicht bleiben. Dränge mich an ihm vorbei, reiße die Haustür auf und stolpere in die Nacht hinaus.


Den ganzen Weg zu Marvin unterdrücke ich die Tränen.

Ich will nicht weinen über Dinge, die ich nicht ändern kann. Die Vergangenheit sind.

Er hat selbst Schuld, rede ich mir ein, aber ein Teil von mir glaubt es nicht, will ständig diese albernen Tränen herauspressen. Ich habe seit Jahren nicht mehr richtig geweint. Ich will das nicht.

Wütend wische ich mir über die Augen und trete noch härter in die Pedalen, ramme fast einen Laternenpfahl. Aber die Betrunkenheit umklammert mich nicht mehr so heftig.

Ich klingele Sturm. Marvin öffnet, die anderen sind noch da. Es riecht nach Kippen und Hasch. Das Lachen verstummt, als wir eintreten, nur noch die Musik dröhnt. Ich stelle sie leise.

„Was ist los?“

Alles platzt aus mir heraus. Es ist mir egal, ob sie mich gleich rausschmeißen, weil ich ihre Party versaue. Ich muss es loswerden, die ganze Kacke.

Keiner sagt etwas, während ich es herausschreie.

Lara steht der gepiercte Mund offen.

Ich bin fertig, atme heftig. Endlich steht Tami auf. Sie kommt auf mich zu und nimmt mich stumm in den Arm, zieht mich an ihre Schulter. Ich klammere mich an sie und denke an Mama.

Frühmorgens wache ich auf Marvins Sofa auf. Es ist noch dunkel, aber draußen zwitschern die Vögel so laut, dass sie mich geweckt haben, ihre Stimmen flattern durch die offene Balkontür herein. Mein Herz pocht ganz schnell und tut irgendwie weh. Ich habe geträumt, von meinen Eltern und mir und Oma Helga. Alles war wirr. Durcheinander.

In mir brennt etwas. Ich muss es löschen. Ich fühle mich schlecht. Wie ein Arschloch. Ich muss nach Hause. Sofort.

Aber Dad ist nicht wach. Das Haus ist dunkel und still. Ich schleiche zu seinem Schlafzimmer. Bleibe davor stehen. Weiß nicht, was ich dort tue. Horche an der Tür, doch ich kann nichts hören außer meinem eigenen Atem.

Ich lege die Hand auf die Klinke. Ziehe sie wieder zurück. Drehe mich um und verschwinde leise in meinem Zimmer.

Als mein Wecker klingelt und ich um halb acht in die Küche schlurfe, ist er schon fort.

Mittags komme ich von der Schule und sehe in unserer Einfahrt einen silbernen Mercedes stehen. Heike ist da! Was macht sie hier um diese Zeit? Ist Dad auch zu Hause?

Ich mag Heike. Sie lacht viel und ist eine von den Frauen, die nie alt werden, obwohl sie Falten bekommen wie jede andere. Das letzte Mal hat sie uns vor einem Jahr besucht, mit ihrem Mann aus Dänemark. Heike sagt nie solche Sachen wie „Was macht die Schule?“ oder „Mensch, bist du aber groß geworden.“

Sie hat mich einfach in den Arm genommen und mir ein Geschenk überreicht, ein tolles Oberteil in meiner Lieblingsfarbe und dazu passende Ohrringe.

„Falls du's nicht magst, sag's ruhig. Dann zieh ich es an!“, hat sie gesagt und mir zugezwinkert.

Aber was macht sie jetzt hier?

Dads Wagen ist nicht da. Ich schließe die Tür auf und trete ein. Höre Heikes Stimme aus der Küche, sie scheint zu telefonieren.

Ich gehe dorthin, bleibe im Türrahmen stehen. Sie hat ihr Handy am Ohr, sieht mich, murmelt eine schnelle Entschuldigung und legt auf. Schaut mich weiter an und steht auf.

„Hallo, Sarah.“

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Stehe einfach weiter herum. Mag sie und hasse sie zugleich, weil sie mich im Stich gelassen hat. Heike tritt auf mich zu und breitet ein wenig die Arme aus, mit fragendem Blick. Ich lasse mich umarmen und an sie drücken, sie riecht vertraut nach ihrem Parfüm.

„Ach, Liebes. Was für ein Mist“, murmelt sie.

Sie setzt sich wieder auf die Bank und zieht mich neben sich.

„Was machst du hier?“, platzt es aus mir heraus.

„Dein Vater hat mich angerufen. Gestern Nacht.“ Mehr braucht sie nicht zu sagen. Sie weiß über alles Bescheid.

Ich merke, wie mir die Röte ins Gesicht steigt, es wird ganz heiß. Ich starre auf die Tischdecke.

„Es tut mir so leid, wie sich das bei euch entwickelt hat. Ich möchte euch so gerne helfen. Ich bin hergekommen, damit wir sprechen können.“

Sie steckt die Hand in ihre Beuteltasche und zieht einen großen braunen Umschlag heraus.

„Dein Vater wollte bisher nicht, dass du das bekommst. Ich habe ihn gestern Nacht überredet, dass ich sie dir endlich geben darf. Er ist genauso stur wie du!“

Ich habe das Gefühl, dass ich gleich weinen muss und richte meinen Blick weiter angestrengt auf das beruhigende Blau der Tischdecke.

„Du kannst mich immer anrufen, wenn etwas ist. Das weißt du doch, oder?“

Sie beugt ihren Kopf etwas nach unten, will Blickkontakt herstellen. Endlich hebe ich den Kopf.

„Warum haben alle Mama vergessen? Papa, du und all die anderen?“

Trauer zieht durch Heikes Augen wie eine graue Wolkendecke.

„Keiner hat sie vergessen. Schon gar nicht dein Vater und ich. Wie könnten wir auch? Sie war meine beste Freundin, seit wir Kinder waren. Und sie wird es immer bleiben.“

Kurz presst sie die Augen zu und atmet tief durch.

„Bitte, lies das. Für dich allein. Nimm dir Zeit.“ Sie legt ihre Hand auf meine.

„Möchtest du, dass ich bleibe?" Ich schweige, schaue auf den Tisch.

„In Ordnung, dann gehe ich jetzt. Aber ich bin immer für dich da, Tag und Nacht, okay?“

Ich kann immer noch nicht antworten, muss schlucken und nicke nur. Heike drückt noch ein Mal meine Hand, nimmt ihre Tasche und geht.

Ich bleibe vor dem braunen Umschlag sitzen, er glotzt mich an wie eine gefährliche Schlange.

Ich habe ein wenig Angst vor dem, was da drin ist.

Warum wollte Dad nicht, dass ich es lese?

Kommen noch mehr böse Geheimnisse auf mich zu?

Mein Magen verkrampft sich. Warum habe ich Heike nicht einfach gefragt, was es ist?

Ich fühle mich wie vor einer Prüfung, auf die ich nicht vorbereitet bin. Meine Finger zittern ein wenig, als ich den Umschlag aufreiße, den Inhalt herausschütte. Briefe rutschen heraus, die meisten Umschläge sind weiß, andere farbig oder gemustert, mit unterschiedlichsten Handschriften bedeckt. Auf manchen kleben Briefmarken. Da ist ein einzelner Bogen gelbes Briefpapier, ich erkenne Heikes Handschrift.

Liebe Sarah!

Diese Briefe sind schon ziemlich alt, sie sind kurz nach dem Unfall geschrieben worden. Ich hatte all diese Menschen gebeten, Briefe an dich schreiben, damit du sie lesen kannst, wenn du etwas älter bist. Es sind Erinnerungen von Menschen, die deiner Mutter nah standen. Sie haben für dich festgehalten, was für ein Mensch sie war, was sie ausmachte und immer noch für sie ausmacht. Damit du ein Stück von ihr zurückerhältst.
Vorab: Dein Vater liebt dich sehr und ich glaube, du liebst ihn auch.
Ich hoffe, dass ihr das bald in den Griff bekommt und habe deinem Vater einen guten Mediator genannt.
Ihr schafft das! Ich umarme dich.

Heike


Ich schlucke, greife nach dem ersten Brief und öffne ihn.

Liebe Sarah,

Heike hat mich gebeten, etwas über Deine Mama aufzuschreiben.
Das will ich gerne tun, auch wenn es mich gerade sehr traurig macht, denn ich habe Deine Mama sehr lieb gehabt. Aber wie muss es Dir und Deinem Vater erst gehen!
Ich weiß, dass Du im Moment noch zu klein bist für diese Briefe, die für Dich geschrieben werden.
Aber ich hoffe von ganzem Herzen, dass sie Dir später helfen und gefallen werden, wenn Du sie bekommen wirst. Mein Name ist Ute, ich bin mit Heike und Deiner Mama zur Schule gegangen. Wir waren zusammen in einer Klasse, von der Grundschule bis zum Schulabschluss. Deine Mama war immer so fröhlich. Ich war früher eher ängstlich und schüchtern, bei der Einschulung habe ich die ganze Zeit geweint. Da ist Deine Mutter gekommen und hat mich an die Hand genommen und gesagt: „Warum weinst Du? Heute ist ein toller Tag – wir kommen zur Schule! Da wird gelacht, gesungen, gelesen und gerechnet – aber nicht geweint!“
Ich weiß es noch ganz genau, wie verblüfft ich gewesen war und aufgehört hatte zu weinen.
Maggie hatte geschafft, woran alle Erwachsenen, die mich umstanden hatten, verzweifelt waren.
Von dem Tag an waren wir Freundinnen. Deine Mama war auch Klassensprecherin und sehr beliebt. Sie hat viele Späße in der Schule gemacht. Ein Mal hat sie sich mit Heike im Klassenzimmerschrank versteckt, einfach so, aber dann ist ein Regalbrett runter gepoltert, auf ihren Kopf. Sie hat erst „Aua!“ geschrien und dann haben die beiden gelacht und gelacht im Schrank, auch noch, als unsere strenge Lehrerin die Schranktür aufriss und die beiden anbrüllte.
Als ich mit vierzehn meinen ersten schlimmen Liebeskummer hatte, hat Maggie zwei Nächte bei mir geschlafen, mich getröstet und zum Lachen gebracht, auch wenn ich zwischendurch immer wieder anfing zu plärren. Sie hat selber auch kein Auge zugemacht und deshalb eine wichtige Arbeit vermasselt. Aber sie hat mir so gut getan. Deine Mama war eine echte Freundin und in meinem Herzen wird sie das immer bleiben, auch wenn wir uns nach dem Schulabschluss leider nicht mehr sahen, denn ich zog weg und der Kontakt schlief ein. Aber zehn Jahre lang war sie meine Freundin gewesen und hat mir so viel gegeben.
Ich wünsche Dir für Dein Leben nur das Beste und hoffe, dass Du und Dein Vater das Lebensglück zurückgefunden habt, wenn Du dies liest.

Herzlichst, Ute Wohltmann


Ich lasse den Brief sinken.
Lebensglück, von wegen. Vom Glücklichsein bin ich weit entfernt.
Aber das konnte die Frau damals ja nicht wissen. Wieder beginnen meine Augen zu zwiebeln.
Ich ziehe die Nase hoch und wische mir mit dem Ärmel über die Augen, schnappe mir den nächsten Brief und reiße ihn auf.

Liebe Sarah!

Ich bin nicht gut darin, meine Gefühle und Gedanken in Briefen oder Gesprächen mitzuteilen. Aber auch ich will Dir über Deine Mutter schreiben, die so lange meine Kollegin und Freundin war. Ich habe ein Gedicht über Deine Mutter geschrieben und hoffe von Herzen, dass Du auch ohne einen richtigen Brief verstehst, was sie mir bedeutet hat, weil ich nicht weiß, wie alt Du sein wirst, wenn Du die dieses Schreiben bekommst.

Wir sind uns begegnet
du hast Spuren hinterlassen
in mir
deine Handschrift, dein Zeichen
unauslöschlich
in meinem Herzen
hast du dir Raum geschaffen
für immer.
Freundin, für viele Jahre.
Offenes Ohr für meine Sorgen.
Tröstende Worte, in Kummer und Leid.
Einigkeit.
Tod, grüße sie von mir.

In Erinnerung an Deine Mutter, Anne Kröger



Gott, oh Gott. Tod, grüße sie von mir, absolut spooky. Komische Frau. Ich kenne sie gar nicht.
Aber eigentlich … na,ja, sie hat einfach versucht, nett zu sein.
Ich wühle mich durch die Briefe auf der Suche nach bekannten Namen.
Erstarre, weil ich Papas Handschrift erkannt habe. Er hat auch einen Brief geschrieben, an mich?
Ein schwerer Klumpen sackt in meinen Magen, mein Brustkorb wird zu Beton und etwas Saures steigt in meiner Kehle auf.
Ich halte seinen Brief in den Händen. Zögere. Lege ihn weg. Er macht mir zu viel Angst.
Krame mich weiter durch den Haufen. Erspähe Heikes schwungvolle Handschrift. Atme durch.
Ich will lieber erst Heikes Brief lesen. Das ist sicherer, glaube ich.
Der Umschlag ist fliederfarben und nicht zugeklebt. Ich ziehe das Blatt heraus.


Liebe Sarah!

Du bist ein so wundervolles Kind, neugierig und stark, fröhlich und liebevoll, voll koboldhafter Ideen.
Du erinnerst mich so sehr an Maggie, die ich im selben Alter kennengelernt habe. Nach dem tragischen Unfall brauchte ich eine Aufgabe, wenn ich nicht bei Dir und Deinem Vater war.
Ich hatte den Gedanken, dass ich alle Menschen, die Deine Mama gut kannten, kontaktiere und sie bitte, Dir zu schreiben. So viele Erinnerungen und gute Wünsche sind schon zusammen gekommen, weil Maggie ein einzigartiger und warmherziger Mensch war.
Wir haben gemeinsam die Schule besucht, zusammen unseren ersten Liebeskummer gemeistert, zusammen studiert, niemand kannte mich besser als sie.
Ich habe sie durch ihre Schwangerschaft begleitet und durfte Dich nach der Hebamme und Deinem Vater als Dritte im Arm gehalten, voller Stolz, als wärst Du auch mein Kind.
Natürlich war Deine Mama nicht perfekt. Wer ist das schon! Sie konnte eine furchtbare Kratzebürste sein, wenn sie schlechte Laune hatte oder unzufrieden war.
Auch war sie immer so direkt und ehrlich, dass es manchmal schon verletzend war. Aber all das ist unbedeutend im Hinblick auf die vielen guten Seiten, die sie hatte. Du siehst nicht nur aus wie sie, Du bist auch genauso stark und wundervoll und eine ganz eigene Persönlichkeit.
Vergiss das nie. Liebe, liebe Sarah, ich hoffe von ganzem Herzen, dass euer Leben wieder glücklich wird, dass Dein Papa die Kraft haben wird, für Dich, für euch stark zu sein. Ihr beide und Oma Helga seid jetzt die Familie.
Ich hab Dich lieb,

Heike


Ich habe keine Familie mehr. Da sind nur noch Dad und ich.
Wieder dieses Ziehen in der Brust. Ein fieses Stechen. Ich will nicht mehr weiterlesen.
Was soll das alles hier? Welchen Sinn soll es haben, außer alte Wunden wieder aufzureißen?
Ich presse die Backenzähne aufeinander und verkrampfe meinen Kiefer. Die Ecke eines beigen Umschlags blitzt unter den anderen hervor. Ich kenne die zitterige Krakelschrift.

Oma. Ach, Oma. Was hast du für mich geschrieben? Hast du ein wenig Trost für mich?
Wieder fühle ich ein Stechen in der Brust und ziehe Omas Umschlag hervor, reiße ihn auf und beginne zu lesen.


Mein kleiner Engel!

Mein lieber Schatz. Jetzt wohne ich seit drei Monaten hier und gebe mein Bestes, Dir, euch gerecht zu werden. Und eure Traurigkeit und meine eigene bricht mir fast das Herz.
Auch meinen Sohn, Deinen Vater, so zu sehen. So zerbrochen, gebeugt, untröstlich.
Warum musste Gott unserer kleinen Familie dieses Schicksal aufbürden? Ich hadere mit ihm.
Nachts hast Du schlechte Träume und ich laufe hinüber in Dein Zimmer, um Dich zu trösten.
Ich habe Deinem Vater gesagt, dass er Urlaub nehmen soll, um bei Dir zu sein. Doch er kann nicht. Er vergräbt sich in seiner Arbeit und sieht furchtbar schlecht aus. Das ist seine Art der Trauer. Das macht mich traurig.
Aber Heike sagte, ich soll Dir etwas von Mama schreiben. Wie war Deine Mutter? Nun, sie war schön. Eine wirklich schöne Frau. Ihre Augen lachten fast immer und sie war überhaupt nicht eingebildet, wie das schöne Menschen doch so oft sind. Sie war lebendig, so ganz anders als Dein Vater. Der war als kleiner Junge schon ruhig und eher in sich gekehrt gewesen.
Deine Mutter aber konnte ihn und alle anderen mitreißen, hatte viel Temperament.
Sie war Dir eine wunderbare Mutter, aufmerksam und liebevoll, hat aufgehört als Journalistin zu arbeiten, als Du geboren wurdest, obwohl sie ihren Beruf so liebte. War für Dich da.
Ich fürchte, ich kann sie nicht ersetzen. Das tut mir so leid.
Lieber Schatz, ich hör jetzt auf. Lass Dir sagen, dass wir alle Dich lieben, besonders Dein Vater und ich.
Ich wünsche Dir alles Glück dieser Erde und dass die Zeit die Wunden heilen wird, dass alles gut wird.

Deine Oma Helga


Ich kann nicht mehr. Ich kann nicht mehr!
Die Tränen brechen einfach so aus mir raus, schütteln mich. Ich schreie auf.
Stoße die lang unterdrückte Klage aus, sie schallt durch den Raum und prallt von den Wänden zurück in meinen Körper. Ach Omi, ach liebe Omi. Ich vermisse dich.
Ich rolle mich auf der Küchenbank zusammen und lasse alles hinaus. Weiß nicht, wie lange ich dort liege und weine, bis nichts mehr aus mir herauskommt.

Irgendwann setze ich mich wieder auf, blicke auf die Briefe, die den Tisch bedecken. Will sie zusammenschieben und in den Umschlag packen. Aber einer starrt mich an, schreit nach mir, obwohl oder weil ich ihn beiseite gelegt habe.
Ich will mir auch noch den Rest geben. Papas Brief. Er hat ihn erst gestern geschrieben, sehe ich.

Sarah. Ich habe lange gebraucht, mich hierzu aufzuraffen. Über deine Mutter zu schreiben.
Ich habe sie sehr geliebt und tue es immer noch.
Du weißt, dass ich in den letzten Jahren andere Frauen kennengelernt hatte, aber nach kurzer Zeit war es immer vorbei. Deine Mutter war der Mittelpunkt meines Lebens, sie leuchtete, wenn sie den Raum betrat und ihr Strahlen färbte auf alles und jeden ab.
Ein Teil von mir ist fort mit ihr, der bessere.
Ich habe mich immer, seit wir uns kennenlernten, gefragt, was sie in einem durchschnittlichen Langweiler wie mir sieht. Warum sie mich gewählt hat. Ich habe sie früher mal gefragt und sie hat gelacht, mich umarmt und gesagt: „Weil du der beste, aufregendste und interessanteste durchschnittliche Langweiler der Welt bist und ich keinen anderen will.“
So war sie. Wenn ich dich ansehe, sehe ich sie. Du siehst ihr so ähnlich, hast die gleichen Augen, so viel von ihr. Das ertrage ich manchmal nicht, obwohl ich auch dich so lieb habe. Am schlimmsten ist diese schreckliche Schuld.
Ich glaube immer noch, dass ich verantwortlich für Mamas Tod bin, auch wenn alle es mir ausreden wollten, es auf das Schicksal schieben. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen, ich weiß nicht, ob der Alkohol daran schuld war, dass ich über sie bestimmt habe. Wir haben uns während der Fahrt gestritten. Und dann ging alles so schnell. Innerhalb von Sekunden war es vorbei. War sie tot.
Und ich bin es auch, irgendwie. Ich fühle mich schlecht, weil ich für dich da sein sollte, mich zusammenreißen sollte, endlich die Therapie fortführen sollte, die ich damals abgebrochen habe, weil ich es nicht aushielt. Ich sollte dir Hilfe geben, zuhören, unser Leben auf die Reihe kriegen. Früher habe ich mich hinter meiner Arbeit und Oma versteckt. Jetzt nur noch hinter der Arbeit.
Aber ich will und muss es besser machen und werde es schaffen. Heike hat uns einen Therapeuten aufgeschrieben. Wenn du es dir vorstellen kannst, würde ich gerne mit dir dorthin gehen.
Ich wünsche mir Kraft, ein guter Vater zu sein. „Liebe mich dann am meisten, wenn ich es am wenigsten verdient habe. Denn dann brauche ich es am nötigsten“, dieses Zitat geht mir ständig durch den Kopf. Bitte gib mir noch eine Chance. Ich liebe dich, Sarah. Ich liebe dich sehr.

Papa


Tränen laufen über mein Gesicht. Ich fühle mich leer. Schuldig. Und zeitgleich schlägt tiefer Schmerz seine Krallen in meine Brust.
Ach, Papa. Warum sind wir uns so fremd geworden? Warum haben wir uns so weit voneinander entfernt? Nicht miteinander gesprochen? Warum sind meine Gedanken immer nur um mich gekreist?
Warum hast du nicht mit mir über das wirklich Wichtige gesprochen? Ich lege meinen Kopf auf meine Arme auf dem Tisch.
So fühlt es sich an, wenn das Herz bricht, denke ich.

Irgendwann höre ich den Schlüssel im Schloss. Höre ihn seine Tasche in den Schrank stellen, seine Jacke auf einen Bügel in die Garderobe hängen. Seine zögernden Schritte. Ich kann mich nicht rühren.

„Sarah?“ Seine Stimme ist leise, klingt zaghaft, als denke er, dass ich sowieso nicht da bin.

Er muss das Licht in der Küche gesehen haben, denn er öffnet die Tür. Ich schaue auf. Er sieht mich an. Sieht die Briefe. Seiner liegt immer noch vor mir auf dem Tisch. Er bleibt stehen.

So viele Gefühle, die sich in seinem Gesicht streiten, eines davon ist Angst.

Langsam stehe ich auf, dann laufe ich auf ihn zu und falle ihm um den Hals, rieche sein Rasierwasser und seinen vertrauten Geruch. 

Erinnerungen brechen über mich ein, und wieder wird mein Herz gesprengt und die Tränen und Schluchzer platzen hervor.

„Es tut mir so leid, Paps", flüstere ich.

Er umarmt mich auch, erst vorsichtig, dann ganz fest, als ob er mich zerquetschen will.

Beide weinen wir und bleiben eine Ewigkeit so stehen.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: ua.amnesty.ch
Tag der Veröffentlichung: 28.06.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Wie kann man einen Menschen beweinen, der gestorben ist? Diejenigen sind zu beklagen, die ihn geliebt und verloren haben. Helmuth James Graf von Moltke

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