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Es war 1982 und ich war in der dritten Klasse.
Unsere Klassenlehrerin, Frau Oelrich, wollte ein Musik-Theaterstück mit uns aufführen, sie wählte „Schneewittchen“ aus.
Wir waren erfüllt von aufgeregter Vorfreude über diese willkommene Unterbrechung des Schulalltags.
Neben dem Schauspiel sollten wir Kinder auch singen und musizieren, jeder sollte den Part erhalten, der am besten zu ihm passte, versprach unsere Lehrerin. Leider erkrankte ich gerade in der Woche, als die Rollen verteilt wurden! Und so wurde aus mir statt des ersehnten Schneewittchens (deren Rolle ich als Blondschopf allein wegen meiner Optik nicht erhalten hätte) ein Kaninchen, das mit Schneewittchen durch den Wald hoppeln durfte. Das traf mich erst tief, vor allem, da ich nun keinen Sprechtext hatte (denn ich habe schon immer gerne geredet).
Aber ich fügte mich (kaum murrend) in mein Schicksal und stürzte mich in die Kaninchenrolle, nervte meine Mutter mit dem Hasenkostüm, in dem ich ununterbrochen durch unser Haus hoppelte und sie löcherte: „Sehe ich gut aus? Ist das gut so?“

Der Tag der Aufführung rückte näher, die Generalprobe war absolviert.
Am heißersehnten Nachmittag füllte sich die Aula nach und nach mit Kindern, Eltern, Großeltern und Lehrern. Frau Oelrich konnte nicht verbergen, dass sie fast aufgeregter war als wir Kinder, die immer wieder kichernd und mit klopfenden Herzen durch den Vorhang auf die vollbesetzten Reihen lugten.
Bis auf zwei Kinder, die sich krank gemeldet hatten, war an diesem Nachmittag die ganze Klasse in die Aula eingefallen, hatte sich verkleidet und schminken lassen.
Nun wirbelten wir vor lauter Aufregung hinter dem Vorhang herum, als das Unfassbare geschah: Nicole, die böse Königin (auch im wirklichen Leben kein besonders nettes Mädchen), erbrach sich mitten auf die Bühne. Kreidebleich im Gesicht lief sie weiter und aus ihrem Mund ertönte ein schriller Dauerschrei. (Was um so grotesker aussah, als sie schwarz geschminkte Lippen und Augen hatte). Sie erbrach sich ein zweites Mal, diesmal auf den Vorhang.
Meine Klassenlehrerin stöhnte auf, sie stand direkt neben mir. Besorgt war ihr Blick, als sie die weinende Nicole aus ihrem Kostüm schälte, sie tröstete und umzog und von der Bühne hinunter zu ihren Eltern führte.
Im Publikum hatte sich eine fragende Unruhe ausgebreitet. Alle hatten mitbekommen, dass die Hauptdarstellerin unpässlich war und ausfiel, denn Nicole hatte beim Verlassen der Aula wie eine Sirene geheult und ihre Eltern angekeift. Noch vor der Tür war ihr Zetern zu vernehmen.
Erschrocken umringten wir Kinder Frau Oelrich, die sich die Haare raufte.
„Was machen wir denn jetzt?“
„Wir wollen so gerne unser Stück aufführen. Bitte!“
„ Geht`s nicht auch ohne Nicole?“
Die Kinder bombardierten unsere Lehrerin mit Fragen. Da fiel Frau Oelrichs Blick plötzlich auf mich, um dort einen Moment zu verharren. Ich bemerkte es nur am Rande, war ich doch tief in die Sorge verstrickt, nun doch nicht mein mühsam geprobtes Hasenhoppeln vorführen zu können.
„Uschi! Komm mal her.“
Ich trat mit klopfendem Herzen vor, wusste ich doch nicht, was ich gerade falsch gemacht hatte und blickte zu ihr auf. „Willst Du die böse Königin spielen?“
Mein Herz blieb stehen und mein Mund stand offen. Die Hauptrolle! Wie kam sie gerade auf mich? (Im Nachhinein eine klare Sache: Ich war der unerschrockene Klassenkasper und sehr spontan!)
Ich fühlte mich plötzlich losgelöst von mir selbst und sah mich nicken. Frau Oelrich steckte sofort ihren Kopf aus dem Vorhang und rief: „Einen Moment bitte, es geht gleich los!“
Sie wandte sich mir wieder zu. „Prima, dann schlüpf hier rein.“
Sie reichte mir Nicoles Kostüm (auf dem – wovon ich mich schnell noch überzeugte - Gott-sei-Dank keine Kotze klebte).
„Anja, hol mir die Schminkstifte!“
Jetzt ging alles rasend schnell. Sie malte mir so fahrig im Gesicht herum, dass mein Gesicht weitaus gruseliger aussah als das von Nicole, aber das wusste ich zu dem Zeitpunkt glücklicherweise nicht.
„Aber Frau Oelrich!“, raunte ich ihr zu, als das Publikum voller Erwartung verstummte und Tobias vor dem Vorhang die Ansage machte. „Ich kann doch den Text gar nicht!“
Sie strich mir über die Wange. „Natürlich kennst Du ihn! Sprich ihn einfach so, wie Du meinst! Toi, toi!“ Damit schob sie mich aus dem Vorhang, denn schon war ich dran. 


Wie ich die ganze Chose hinter mich brachte, weiß ich nicht mehr im Einzelnen. Aber es waren ein paar kräftige Lacher aus dem Publikum dabei. Eine Szene werde ich nie vergessen: Als der Jäger nicht auftauchte, weil Frau Oelrich entgangen war, dass er zur Toilette gegangen war.
„Jäger!“, rief ich.
„JÄGER!“, etwas lauter.
„WO -BLEIBT - DER - JÄGER!“
Ein leichtes Kichern breitete sich aus. Ich musste improvisieren, schritt nach vorne an den Rand der Bühne und versuchte eine dramatische Pose ein zu nehmen: „Ja, ihr Leute, so ist das mit den Untergebenen: Wenn man sie am dringendsten braucht, ist keiner zur Stelle.“
Die ersten Lachsalven ertönten. Ich blies mir den Pony aus dem Gesicht, den mir die Krone ständig hineindrückte. Noch immer war kein Jäger zu sehen.
„Aber auch das werde ich wie eine große Königin ertragen. Undankbares Volk!“
Wieder Lachen. In diesem Moment schob Frau Oelrich mit hochrotem Kopf den aufgelösten Jäger durch den Vorhang.
Ich erfasste sofort, dass er gleich anfangen würde zu heulen, legte ihm einen Arm um die Schulter und flanierte mit ihm über die Bühne: „Na, na, keine Angst, Jäger, ich werde Dich schon nicht hinrichten lassen, bloß weil Du zu spät kommst - jedenfalls nicht, wenn Du mir Schneewittchens Herz bringst!“
Wie schütteten sich die Zuschauer aus vor Lachen, aber der Jäger war wieder in der Spur. Als ich am Ende vor dem Spiegel tot zu Boden sank, stieß ich mir noch den Kopf an und schrie laut „Aua!“, aber es war geschafft. Wir Kinder verschwanden unter Applaus hinter dem Vorhang und warteten darauf, dass Tobias uns einzeln und in Gruppen hervorrief, damit wir uns verbeugen konnten.
Da ich als letzte dran sein würde, hatte Frau Oelrich ausreichend Zeit mich zu drücken und zu herzen.
„Du bist einfach unglaublich!“ war das schönste Kompliment, das meine Lehrerin mir je machte und meine Wangen glühten vor Stolz.
„Die böse Königin gespielt von Nicole – nein, äh von Uschi!“, verhaspelte sich Tobias und ich trat heraus.
Es war ein unbeschreibliches Gefühl, das Bad im Applaus, das Füße stampfen und die „Zugabe-Rufe!“.
Als die Eltern und Lehrer in der ersten Reihe aufstanden und mir zu lächelten, hätte ich vor Freude beinahe begonnen zu weinen! Ich hob die Arme und winkte ihnen zu, hörte gar nicht mehr auf, mich zu verbeugen, bis Frau Oelrich mich endlich zurück in die Reihe der Darsteller zog, die sich inzwischen alle aufgestellt hatten.

Dieser Nachmittag war eine entscheidende Weiche in meinem Leben: Ich spielte weiter Theater bis hin zum Abitur, studierte u.a. Darstellendes Spiel und bin heute die „Theaterfachfrau“ an unserer Grundschule.
Ich will den Kindern dieselbe Freude und das wachsende Selbstbewusstsein vermitteln, das ich damals verspürte. Und ich glaube, es macht ihnen Spaß!

Impressum

Texte: U. Kollasch
Bildmaterialien: Johanneskantorei-düsseldorf.de
Tag der Veröffentlichung: 10.06.2012

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