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»Abgeschwächte Pupillenreaktion beidseits«, stellte Oberarzt Dr. Haley fest, dem Patienten die Lider anhebend und in die Augen leuchtend. Nun kniff er ihn in den Unterarm, beobachtete ihn genau.

»Reagiert nicht auf Schmerzreize, zeigt keinerlei Schutzreflexe. EEG?«

Krankenpflegeschülerin Susan reichte ihm den Ausdruck, den er überflog.

»Hiernach auch keine Reaktion auf vestibulo-okuläre Reize.«

Susan sah leicht irritiert auf, was dem Arzt nicht entging. Bisher hatte die junge Frau alle Befunde rasch in das Formular auf dem Klemmbrett eingetragen. Errötend senkte sie den Blick, sodass Haley weiter ausführte: »Vestibulo-okuläre Reaktionen sind die Augenbewegungen bei Reizung des Gleichgewichtsorgans. Ich gehe in diesem Fall von einem Koma 3. Grades aus, hervorgerufen durch ein schweres Schädel-Hirn-Trauma. Zusätzlich hatte er Wasser in der Lunge aufgrund seines Sturzes in den Fluss.«

Der Arzt steckte die kleine Lampe in die Kitteltasche. »Sie befinden sich noch im ersten Lehrjahr, Susan. Da dürfen Sie ruhig fragen!«

Die Krankenpflegeschülerin schluckte. »Ja, Dr. Haley.«

Wegen seines gönnerhaften Tonfalls fühlte sie sich noch schlechter, während sie die Daten eintrug, und hoffte, dass sie die Fachbegriffe richtig schrieb.

»Nun schauen Sie genau zu.«

Susan trat neben den Arzt und beobachtete, wie er die Lage des Tubus untersuchte. Der Beatmungsschlauch saß korrekt und gewährleistete die Versorgung des Patienten.

»Geben Sie die Befunde in den Computer ein.«

Mit dieser Anweisung rauschte der Doktor aus dem Raum.

Susan blickte seufzend auf den Mann mit dem Kopfverband hinab. Außer dem regelmäßigen Geräusch des Beatmungsgerätes und dem Piepsen des Monitors, der die Herzfunktionen anzeigte, war im Zimmer nichts zu vernehmen.

Wer war der Schwerverletzte, den ein frühmorgendlicher Jogger vorgestern am Ufer des East River aufgefunden hatte? Er hatte keinerlei ausweisende Papiere bei sich getragen. Niemand schien ihn zu vermissen. Ob er überhaupt wieder aus dem Koma erwachen würde? Und wenn, in welchem Zustand würde er dann weiterleben müssen?

Die Krankenpflegeschülerin seufzte erneut.

»Alles Gute, Mr. Unbekannt«, sagte sie, bevor auch sie den Raum verließ.

 

3 Tage zuvor

 

Frank Sheeran lenkte seinen Wagen über den Highway. Den ganzen Nachmittag hatte er im Garten seines Hauses im New Yorker Stadtteil Bay Ridge gesessen, tief in Gedanken versunken.

Abends hatte er zugesehen, wie sich die Sonne am rosigen Horizont langsam hinter den Fassaden verkroch. Jetzt, drei Stunden später, hatte sich die Nacht über New York gelegt und Angie hatte ihn fest umarmt, bevor er zu seinem letzten Auftrag aufgebrochen war.

Wie immer hielt er sich an die vorgegebene Geschwindigkeitsbegrenzung. Nicht auffallen. Mit dieser Devise arbeitete er seit mehr als zwanzig Jahren äußerst erfolgreich. Einmal noch. Dann würde er sich mit seiner Familie in Kalifornien zur Ruhe setzen. Nichts wünschte sich Angelina mehr.

Frank hatte genug Geld beiseitegelegt, um seiner Familie ein sorgenfreies Leben zu bieten. Alle drei Kinder konnten später das College besuchen, die Berufe ergreifen, die ihnen hoffentlich Erfüllung bringen würden.

Seine Gedanken kehrten zum anstehenden Auftrag zurück. Kein Routine-Job. Er sollte den Capo, Antonio „Tony“ Galliano, die rechte Hand des Paten Rosario Bufalino, umlegen. Dieser hatte ihm damals wegen seiner irischen Vorfahren den Spitznamen „Irishman“ gegeben, da außer Frank nur Italiener, bevorzugt Sizilianer, für ihn arbeiteten.

Morgens hatte Bufalino Frank rufen lassen. Der Ire hatte im Vorzimmer des Manhattaner Büros gewartet, bis ihn Estelle, die attraktive Sekretärin, zum Boss geleitete. Der Pate hatte aufgeblickt und ihn mit einer Handbewegung angewiesen, sich zu setzen. Der alte Mann war von kleinem Wuchs. Dennoch umgab ihn stets eine Aura des Gefährlichen, eine raubtierhafte Kälte, die Vorsicht und sichere Instinkte gebot.

Lange hatte er die schwarzen Augen auf Frank ruhen lassen, ehe er sprach.

»Tony zweigt Gelder aus den Geschäften ab, schon seit Längerem. Jetzt will er meinen Platz einnehmen – dieser Stronzo

Mit der Faust hatte er auf den Tisch geschlagen, weitere italienische Flüche ausgestoßen. Der Verrat hatte ihm zugesetzt. Aber er wäre nicht der eiserne Pate, wenn er sich mit Sentimentalitäten aufhielte.

»Erledige das für mich, Irishman. Dann kannst du mit deiner Familie fortgehen.«

Er hatte sich mit seinem Ledersessel zur Glasfront gedreht, auf die Stadt gestarrt. Wortlos war Frank aufgestanden und gegangen.

 

Nun war er unterwegs zu Tonys Luxusvilla, einem 12-Zimmer-Domizil in der Upper Eastside, mit fantastischem Blick auf den East River. Wie oft hatte er dort in vergangenen Sommern mit dem Capo gesessen, mit ihm getrunken und gelacht. Diese Zeiten waren nun vorbei. Bufalinos Wort war Gesetz.

Dass gerade der alte Weggefährte ihn verraten hatte … Wozu?
Hatte Tony Galliano in den mehr als dreißig Jahren nicht alles in der Familia erreicht? Etwas Hinterhältiges hatte ihm schon immer angehaftet. Frank hasste Verräter. Er selbst wurde in der Familia als l'uomo d'onore, ein Mann der Ehre, bezeichnet. Alle respektierten ihn. Auch seinen Grundsatz, keine Frauen und Kinder zu töten.

Vom Highway abbiegend dachte er an seine eigene Familie. Seit er Angelina vor acht Jahren geheiratet und ihr erstes Kind das Licht der Welt erblickt hatte, war er ein anderer geworden. Das Morden ließ ihn nicht mehr kalt. In ruhigen Stunden schlichen sich Schuldgefühle, Gedanken an die Opfer und ihre Hinterbliebenen ein. Auch hatte ihn eine immer größer werdende Furcht ergriffen, eines Tages selbst getötet zu werden, seine Familie schutzlos und allein zurückzulassen.

Deshalb hatte er Vorsorge getroffen, Angelina immer wieder eingebläut: »Verlasse mit den Kindern sofort die Stadt, falls ich von einem Auftrag nicht zurückkehre und du keine anderweitige Nachricht von mir erhältst. Nimm die neue Identität an! Sag niemandem, wo ihr seid.«

Stets hatte Angie unter Tränen genickt. Doch die ständige Sorge in ihren Augen hatte Frank letztendlich dazu bewegt, den Boss aufzusuchen und um seinen Ausstieg zu bitten.

Nach diesem letzten Auftrag würde es endlich so weit sein.

 

Lange bevor er die Villa erreichte, schaltete Frank Scheinwerfer und Motor aus, ließ den Wagen die Straße hinabrollen. Geschickt überwand er die Mauer, bewegte sich in den Schatten über das weitläufige Grundstück aufs Haus zu. War auf der Hut, denn er wusste von den scharfen Dobermännern, die Tony des Nachts häufig über das Gelände patrouillieren ließ. Doch heute schienen sie in ihrem Zwinger zu sein. Unbehelligt erreichte er den Dienstboteneingang. Mit einem Lämpchen beleuchtete er das Türschloss, die Schwachstelle des Hauses. Darauf hatte er den Capo mehrmals hingewiesen. Abgesehen von diesem Seiteneingang war die Villa gesichert wie eine Festung. Er grinste, als er sah, dass das Schloss noch nicht ausgetauscht worden war. Er benötigte weniger als eine Minute, bis sich die Tür einem verhaltenen Klicken öffnete. Nur ein einziges Mal hatte er die Kombination der Alarmanlage gesehen.

»Hoffentlich hat Tony auch die nicht geändert. Sonst habe ich gleich ein Problem«, dachte Frank, zeitgleich die Knöpfe auf dem Zahlenfeld drückend. Sein Herz klopfte. Doch das rote Lämpchen erlosch mit einem Piepsen und das grüne sprang an. Glück gehabt.

Auf leisen Sohlen durchquerte Frank die angrenzende Küche, in der noch schwach der Geruch von Brathähnchen hing, und erreichte die Eingangshalle. Das Haus war dunkel und still.

War der Capo überhaupt da? Er hatte Licht im ersten Stock gesehen, musste ihn nachts und allein überraschen. Tagsüber war Tony immer von seinen Männern umgeben. Lautlos bewegte sich Frank mit gezogener Waffe die Marmortreppe hinauf, schlich den schummerig beleuchteten Flur entlang und blieb vor dem Arbeitszimmer stehen. Horchte. Alles ruhig. Mit der rechten Hand hob er die entsicherte Beretta, mit der linken griff er nach der Klinke und riss die Tür auf.

»Hallo, Frankie«, begrüßte ihn Tony. Zurückgelehnt saß er in seinem Drehstuhl, die Beine lässig auf dem Schreibtisch verschränkt. Der Raum wurde allein von einer abgeblendeten Tischlampe erhellt, der größte Teil lag im Dunkeln. Frank konnte die spitz zulaufenden Sohlen der italienischen Designerschuhe sehen. Er richtete die Beretta auf den Capo, versuchte, in die Schatten zu spähen.

»Ach Frankie, was soll der Unsinn?«

Noch immer lächelte ihn der alternde Dandy an. Frank war verunsichert. Was war hier los? Tony hätte bei seinem bewaffneten Eindringen erschrecken, um sein Leben feilschen müssen. Es war bekannt, dass der Irishman keine Späße über das Töten machte. In diesem Moment traten zwei der bulligen Leibwächter mit gezückten Waffen hervor. Einer bezog wie ein Wachhund neben dem Capo Posten, der andere stellte sich vor der Tür.

»Hat's dir die Sprache verschlagen?« Tonys Augen glitzerten amüsiert – und kalt.

»Du hast mich erwartet«, stellte Frank fest.

»In der Tat, Frankie-Boy.« Frank hasste es, wenn ihn jemand so nannte. »Wer hat dir gesagt, dass ich komme?«

Tonys Grinsen wurde breiter, seine Haifischaugen fixierten einen Punkt hinter Franks Schulter. Der wirbelte herum, den Finger am Abzug.

»Ich.« Estelle, wie immer in ein knappes elegantes Kostüm gekleidet, lehnte im Türrahmen zum Nebenzimmer. Bufalinos Sekretärin steckte sich eine Zigarette an. Frank zuckte leicht zusammen, als er den Lauf einer Waffe im Rücken spürte. Tony nahm die Füße vom Tisch, erhob sich und tätschelte im Vorbeigehen Estelles Hintern.

»Braves Mädchen.« Im Schlenderschritt näherte er sich Frank, blieb dicht vor ihm stehen. Er musste zu dem Iren aufschauen. Mit der Schnelligkeit einer angreifenden Kobra entwand er ihm die Beretta. »Estelle, mi amore«, sagte Tony, in Franks Gesicht feixend. »sag Frankie-Boy leb wohl.« Er kicherte. »Ich werd' ihn gleich mit seiner eigenen Wumme abknallen, was für ein Spaß!«

Wie ein Kind zielte er auf Kopf des Iren, tat so, als ob er abdrückte. »Bamm! Bamm! Aber nicht hier - auf meinem teuren Persianer.«

Estelle blies Rauch durch ihren Kirschmund. »Bye, bye, Frankie!« Mit gespielt mitleidigem Blick warf sie ihm eine Kusshand zu, als Tony ihn vorwärts stieß. Die vier Männer schritten durch den Flur, die Treppe hinab.

»Tony, du musst das nicht tun. Denk an Angie und die Kinder.« Ein schwacher Versuch. Er machte sich keine Illusionen über den Erfolg.

»Was kümmert mich deine armselige Familie, dreckiger Ire?« Frank hatte eine Antwort wie diese erwartet, trotzdem verkrampfte sich sein Magen. Während sie die Halle durchquerten, lotete er seine Fluchtchancen aus. Was, wenn Angie nicht mit den Kindern floh, wie verabredet? Wenn sie zu Hause auf ihn wartete oder ihn suchte? Der Gedanke ließ ihn schwitzen und sein Herz rasen. Er durfte nicht zulassen, dass Tonys Schergen seine Familie auslöschten. Egal, wie aussichtslos seine Lage war.

Inzwischen hatten sie die Terrasse erreicht und traten hinaus in die Sommernacht. Die Sterne funkelten am Himmel, der Garten war in fahles Mondlicht getaucht. Die Leibwächter blickten sich um, obwohl die Grenzen des Grundstücks von außen nicht einsehbar waren. »Sehr aufmerksam, dass du deinen Schalldämpfer mitgebracht hast«, spottete Tony. »Wir wollen doch die Nachbarn nicht wecken.« Mordlust glänzte in seinen Augen, als er die Waffe auf Franks Kopf richtete. Im nächsten Moment hatte er drei Messerstiche im Bauch. Mit einem Ausdruck ungläubigen Entsetzens entglitt ihm die Pistole, blickte er auf das Messer in Franks Hand. Presste er seine auf die Wunden, bevor er zusammenbrach. All dies war in Sekundenschnelle passiert.

Frank ließ sich fallen und fasste, während er sich abrollte, nach seiner Beretta. Die Kugeln der Leibwächter pfiffen über ihn hinweg. Auch ihre Waffen trugen Schalldämpfer, sodass nur ploppende Geräusche ertönten.

Blitzschnell zielte Frank vom Boden aus und drückte ab. Der eine Riese sank zusammen. Der andere traf eine Entscheidung, die ihm das Leben rettete: Wie in Zeitlupe legte er die Pistole auf den Boden und hob seine Hände. Frank behielt ihn im Visier, während er sich erhob. Ohne den schweren Mann aus den Augen zu lassen, beförderte er die Waffen der Leibwächter mit Tritten in die Büsche. »Idioten! Habt mich nicht mal gefilzt!«, höhnte er, als ein Schlag auf seinen Hinterkopf niederfuhr, der ihn die Beretta verlieren und auf die Knie sacken ließ. Graues Flimmern trübte seinen Blick. Sein Kopf strahlte höllische Schmerzen aus. Er hatte einen dummen Anfängerfehler gemacht: Lass nie einen der Beteiligten aus den Augen!

Estelles Lackpumps traten in sein Blickfeld. Ein Golfschläger baumelte in ihrer Hand. »Verdammtes Irenschwein, du hast Tony umgebracht!«, kreischte die Sekretärin und rammte ihm die Spitze ihres Schuhs in die Seite. Frank stöhnte hinter zusammengebissenen Zähnen. »Los, Paolo, beende es. Dann müssen wir die anderen benachrichtigen.«

Estelles Aufschluchzen war voller Wut. Ihre verheißungsvolle Zukunft lag tot auf der Terrasse. Frank ahnte durch den Schleier seiner Benommenheit, dass Paolo jetzt auf ihn zielte, und mobilisierte seine letzten Kräfte. Der Gedanke an seine Familie verlieh ihm die nötige Stärke. Nutze das Überraschungsmoment.

Er sprang auf. Riss Paolo die Waffe aus der Hand. Sprintete los. Einer Ohnmacht nahe bewegte er sich auf das Ende der Terrasse zu. Noch wenige Meter, dann würde er sich mit einem Hechtsprung in den East River retten. Was er nicht ahnte: der Leibwächter war langjähriger Footballer, konnte begnadete Pässe werfen. Er packte einen Stein in der Größe einer Honigmelone und schleuderte ihn dem Flüchtenden hinterher. Genau vor dem Absprung traf ihn das wuchtige Geschoss am Hinterkopf. Frank taumelte vorwärts, stürzte über das steinerne Geländer die Böschung hinunter. Und noch bevor sein Körper auf dem Wasser aufklatschte, um von der Strömung fortgetragen zu werden, versank er in Dunkelheit.

 

»Frank.«

Dumpfe Schwärze. »Frank!«

Die körperlose Stimme wurde etwas lauter.

Ein leichtes Ziehen verspürte er in der Magengegend, als ob er sich rasch abwärts bewegte. Langsam öffnete er seine Augen, versuchte sich zu orientieren. Er stand auf einem festen Untergrund, doch er konnte nichts sehen, es war zu hell. Das Gleißen, das ihn umgab, blendete, dennoch war es ein warmes, angenehmes Licht. Gut und erfrischt fühlte er sich, wie schon lange nicht mehr. Bis die Erinnerung an die Geschehnisse in Tonys Haus ihn einholte, nach seinem Hinterkopf tasten ließ. Keine Beule, keine Wunde. Er verspürte keinerlei Schmerz.

»Ah, ich sehe, Sie erinnern sich. Sehr gut.«

Ihm gegenüber stand ein Mann, weiß gekleidet wie ein Doktor. Das strahlende Licht umschwirrte einen blondgelockten Kopf wie ein Heiligenschein. Er lächelte Frank an und enthüllte eine Reihe spitzer Reißzähne. Frank wich mit einem Schreckenslaut zurück, während der Arzt in gespielter Verlegenheit eine Hand vor seinen Mund legte.

»Oh, Pardon. Das ist mir schon länger nicht mehr passiert. Besser so?« Er nahm die Hand fort und grinste, offenbarte nun ein ebenmäßiges menschliches Gebiss.

»Wer sind Sie … wo sind wir hier?«, stammelte Frank, dem der Mann mehr als unheimlich war. Der blendende Untergrund, auf dem sie standen, schien sich mit einem Mal in die entgegengesetzte Richtung zu bewegen. Er streckte seine Finger in die Strahlen aus, griff ins Leere. Werde ich verrückt?

»Nein, Frank. Sie sind nicht verrückt. Aber lassen Sie uns bitte erst einmal den … wie sagen Sie noch? - den Fahrstuhl verlassen. Dann stelle ich mich Ihnen gerne vor.«

Im selben Augenblick stoppte die Aufwärtsbewegung, das Licht teilte sich wie eine Schiebetür. Der Mann ergriff Franks Ellenbogen und führte ihn in eine riesige, bläulich schimmernde Halle, die von sphärischen Klängen erfüllt war. Frank blickte sich staunend um. Die Wände sowie auch der Boden schienen komplett aus Glas zu bestehen, die Einrichtung erinnerte entfernt an einen supermodernen Firmenkomplex. Unter ihren Füßen und vor den durchsichtigen Wänden züngelten bläuliche Flammen, als ob sie in einem quadratischen Hexenkessel stünden.

Aber es war nicht heiß in der Halle, die Temperatur war angenehm. Frank blickte nach oben, kniff die Augen zusammen. Eine Decke war nicht auszumachen, sein Blick verlor sich in endloser Dunkelheit.

»Folgen Sie mir bitte.« Der Mann ging voraus. Die Absätze seiner Schuhe klackten über den Glasboden. In der Spanne eines Wimpernschlages hatte er sein Äußeres verändert. Nun trug er die typische Kluft eines Psychologen: Schwarze Hose, schwarzer Rollkragenpullover, schwarzes Brillengestell, schwarz glänzte auch sein Haar. Frank blieb mit offenem Mund stehen und blickte ihm hinterher. Der „Psychologe“ wandte sich mit einem aufmunternden Lächeln um. Einen Moment lang glaubte Frank, die Augen hinter den Brillengläsern rot aufblitzen zu sehen.

»So kommen Sie doch. Ich werde Ihnen gleich alles erklären.« Mit unsicheren Schritten folgte er dem Mann. Das ist alles nur ein Traum.

Sie passierten gläserne Séparées, die sich in der gesamten Halle aneinanderreihten. Menschen verschiedenen Alters und unterschiedlicher Herkunft saßen darin. Manche trugen Kleidung längst vergangener Jahrhunderte. Wer sind diese Leute? Einige befanden sich im Zweiergespräch, andere saßen zu mehreren zusammen auf Stühlen, die in Kreisen angeordnet waren.

Weiter schritten sie an der Reihe der Glaszimmer entlang. Frank konnte die Anzahl der Menschen schon nicht mehr schätzen. Viele starrten schweigend vor sich hin, andere redeten, gestikulierten, manche weinten. Kein Laut drang zu ihnen heraus. Das alles erinnerte Frank an Gruppensitzungen oder Therapien.

»Gut erkannt«, lobte der „Psychologe“ ohne sich umzuwenden. Warum kann er meine Gedanken lesen?

In einem Traum ist alles möglich, versuchte Frank sich zu beruhigen. Sie erreichten eine Felswand, die sich im Zentrum der Halle aus dem Boden erhob. In dem Gestein war eine Tür eingelassen, die Frank mit Grauen erfüllte. Sie glich einem pumpenden Herz, das in regelmäßigem Takt rötlich in der dunklen Wand aufleuchtete. Ihm stockte der Atem. Der seltsame Mann blieb vor dem Eingang stehen, der sich von selbst nach allen Seiten hin öffnete. Mit einer galanten Geste bat er Frank einzutreten. Der zögerte, spürte Panik in sich aufsteigen. Theatralisch aufseufzend schob der "Psychologe" ihn in den von einem Leuchten erfüllten Raum.

Die Tür schloss sich hinter ihnen. Frank hatte das Gefühl, gleich durchzudrehen und unterdrückte den Impuls aufzuschreien. Er zitterte. Schweiß perlte von seiner Stirn.

»Es tut mir leid, wenn all dies Sie in Angst versetzt. Ich vergesse immer, dass es für jeden, der zu uns stößt, verwirrend und beängstigend sein muss«, sagte der Mann mit der teilnahmsvollen Miene eines Bestatters, während sich Frank in dem vollkommen leeren Raum umsah. »Vielleicht wird Ihnen das helfen.«

Der Fremde schloss die Augen hinter der Brille. Frank fühlte plötzlich ein schwaches Ziehen in seinem Kopf, das anschwoll, ehe es verebbte. Seine Augen weiteten sich, er atmete zischend ein. Sie standen in seinem Wohnzimmer in Bay Ridge! Alles glich seinem Zuhause bis auf das kleinste Detail. Durch das Terrassenfenster konnte er erneut den beeindruckenden Sonnenuntergang sehen.

»Schön haben Sie's. Sehr geschmackvoll«, lobte der Mann und ließ sich auf die Couch fallen. Er klopfte auf den gegenüberliegenden Sessel, beugte sich Frank entgegen und flüsterte verschwörerisch: »Habe schon ganz andere Einrichtungen ertragen müssen.« Er zwinkerte Frank zu, der sich völlig perplex auf den Sessel sinken ließ.

„Wie machen Sie das … das alles? Es ist ... unfassbar.«

Der Mann lächelte und im Bruchteil einer Sekunde hatte er schon wieder sein Äußeres verändert. Nun trug er ein langes, weißes Gewand sowie römische Sandalen an den Füßen, langes Haar umrahmte in Wellen sein bärtiges Gesicht. Er streckte sich mit erhobenen Armen. Einen Augenblick lang konnte Frank weiße, lederartige Flügel sehen, die sich aufspannten und wieder hinter dem Rücken verschwanden, als der Mann seine Arme senkte.

»Lassen Sie das«, entfuhr es Frank. »Jesus« guckte ihn überrascht an. »Ihre Wandlungen machen mich nervös.«

Er war selbst ein wenig über seine Kühnheit erschrocken, aber der Mann brach in Gelächter aus und schlug sich mit den Händen auf die Schenkel.

»Sie sind einfach köstlich! Ich werde Ihrer Bitte Folge leisten. Sie müssen wissen, dass es hier auf Dauer sehr langweilig sein kann. Da muss man sich seine Abwechslung schon suchen. Aber diese Gestalt bringt mir sowieso nur Ärger. Wenn Sie gestatten, wandele ich mich noch ein letztes Mal.«

Frank nickte und - vor ihm saß ein dicklicher Herr im Karohemd mit Hornbrille, der ihn stark an einen Lehrer seines ältesten Sohnes erinnerte.

»Mir ist nichts Harmloseres eingefallen. Wenn Ihnen mein Äußeres so genehm ist, würde ich nun gerne beginnen. Und, ach - wenn's Ihnen Recht ist, würde ich Sie gerne duzen. Sie gefallen mir!« Wieder nickte Frank. Inzwischen hatte ihn eine Art ergebene Abgeklärtheit ergriffen. Der korpulente Mann versuchte ein würdevolles Gesicht aufzusetzen.

»Mein Name ist Samael und du befindest dich an dem Ort, den die Menschen das Fegefeuer nennen.« Frank blickte ungläubig drein. »Es sieht hier nicht so aus, findest du? Nun, die Bilder der schreienden, gequälten Sünder in den sengenden Flammen, die dir beim Begriff Fegefeuer sofort in den Kopf kommen, sind Erfindungen der Menschen, der Kirchenvertreter. Diese Darstellung soll euch Angst machen, so dass ihr nicht zu viele Sünden begeht. Auch wenn das heute nicht mehr so zieht wie früher. Aber glaub' mir: Es ist in der Ewigkeit seiner Existenz auch nie vorgekommen, dass jemand bewusst im Fegefeuer gequält wurde.«

»Wer oder was bist du?«

Samael blies seine Backen auf, ließ die Luft mit einem Zischen entweichen. »Ich will's kurz machen, obwohl ich eigentlich weit ausholen müsste. Im Folgenden werde ich Begriffe von euch Menschen verwenden, wie zum Beispiel Fegefeuer, Engel oder Himmel, damit du mich besser verstehst.« Er rückte die Hornbrille zurecht. »Einst war ich einer der oberen Engel im Himmelreich. Gemeinsam mit Michael, Gabriel, Raphael und Satanel war ich einer der Lieblinge von Gott. Du als Katholik weißt doch bestimmt, wofür die Silbe -el in unseren Namen steht?«

Frank schüttelte den Kopf. »Sie bedeutet 'Gott' und ist eine Würde. Nachdem Satanel mit einigen der niederen Engel den Aufstand probte – ist schon lange her, aber davon hast du bestimmt gehört – wurde ihm seine göttliche Silbe genommen und er als Satan in die unteren Gefilde verbannt. Ich durfte meinen göttlichen Namen weiter tragen, obgleich auch ich eine Art gefallener Engel bin. Aber ich habe mich nicht ganz so schändlich benommen. Ich bin vergleichbar mit dem Zwischenreich des Fegefeuers, in dem wir uns hier befinden: Über uns erstreckt sich das Himmelreich und unter uns die Hölle. Gott verwandelte mich für meinen Aufenthalt hier in ein Zwitterwesen zwischen Engel und Dämon.« Samael seufzte. »Eigentlich hat man mir versprochen, jemand würde mich hier ablösen, wenn ich meine Schuld gesühnt hätte. Aber anscheinend bin ich so erfolgreich, dass man keinen ebenbürtigen Nachfolger für mich findet.«

Nun blickte er ein wenig selbstgefällig drein. »Es ist ebenfalls ein Irrglaube der Menschheit, dass alle Dämonen böse sind ...«

Frank schwirrte der Kopf, und bevor Samael noch weiter abschweifen konnte, fragte er: »Was passiert im Fegefeuer mit den Menschen?«

Vor seinem inneren Auge sah er wieder die Leute in den Glasabteilungen sitzen, dachte an ihre Kleidung. Musste er davon ausgehen, dass einige schon seit Jahrhunderten hier waren?

»Richtig, Frank«, antwortete sein Gegenüber, der erneut seine Gedanken gelesen hatte. »Manche brauchen länger, bis sie zu Einsicht, Sühne und Erlösung kommen und in das Himmelreich aufsteigen. Zeit spielt hier keine Rolle. Aber einige zeigen sich sehr widerspenstig, das kannst du mir glauben! Stell dir jede Sünde als einen Stein der Mauer vor, welche ihn vom Einzug ins Paradies trennt. Je sündiger das Leben, desto schwerer die Steine und höher die Mauer. Diese Barriere soll hier, im Fegefeuer, abgetragen werden. Doch - «

»Samael!«, unterbrach Frank die Erläuterungen. »Sag mir eins: Warum bin ich hier? Ich habe viele Männer getötet. Wenn ich auch nicht sehr viel weiß, aber das genau: Schon ein einziger Mord ist eine Todsünde. Also, warum bin ich nicht in der Hölle?« Franks Stimme war immer lauter geworden und Samael musste sich erst einen Moment sammeln, bevor er antwortete.

»Du hast recht, Mord ist eine Todsünde. Und du hast in deinem Leben viel Schuld auf dich geladen. Aber lass dir anhand eines Beispiels die tiefere Bedeutung des Fegefeuers erläutern. Du kennst Mutter Teresa?« Frank stutzte. Warum erwähnte er die seliggesprochene Frau?

»Ja. Sie war eine katholische Nonne, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Ärmsten der Armen zu helfen, eine Heilige. Warum also nennst du sie?«

Er merkte, dass er zornig wurde. Was sollte dieses Gerede? Doch Samael lächelte hintergründig. »Ist immer alles so, wie man denkt? Ja, Mutter Teresa sah genau das als ihre Lebensaufgabe an und die meisten Menschen verehren sie. Doch wusstest du, dass sie seit ihrem Tod hier bei uns ist? Weil sie leicht heilbare Patienten im Sterbehaus behalten und viele von ihnen durch Verwendung nicht sterilisierter oder mehrfach verwendeter Spritzen getötet hat. Viele unter primitivsten Bedingungen bis zu ihrem Tod in den Lagern vor sich hin vegetierten und sie in vielen Fällen die Schmerzmittelvergabe verbot, da die Kranken und Sterbenden durch ihr Leid Nähe zu Jesus Christus erfahren sollten.«

Nun hatte sich auch Samael in Rage geredet. »Zweifellos, sie hat es gut gemeint, aber mindestens so viele Menschen getötet wie du! Und ich könnte dir Hunderte Beispiele unbewusster menschlicher oder aus Verblendung erwachsener Verfehlungen aufzählen!«

Frank war sprachlos und sichtlich geschockt. Samael bereute, aus der Rolle gefallen zu sein. In sanfterem Ton fuhr er fort: »Du hast vorhin gedacht, das alles hier erinnert dich an eine Therapie. In gewisser Weise hast du recht. Nicht nur die Schuld, die man sich Zeit seines Lebens durch Taten auf die Schultern lädt, ist entscheidend für die Dauer des Aufenthalts. Nein, auch alles Schlechte, was einem selbst widerfuhr, was einen vielleicht zum Sünder machte. Betrachtet wird auch alles Gute, das ein Mensch in seinem Leben vollbracht hat.«

»Ich habe nicht viel Gutes getan«, warf Frank mutlos ein.

»Doch, sonst wärst du nicht hier, vergiss das nicht. Und auch nicht, welch schlechten Start ins Leben zu hattest. Erinnere dich an deine Kindheit. Wie dein Vater dich prügelte, demütigte und in illegalen Kinderkämpfen antreten ließ, oft gegen um Jahre ältere Gegner. Wie er dich, wenn du verloren hattest und verletzt am Boden lagst, getreten hat, weil ihm sein Freibier entgangen war. Und das war nicht das Schlimmste, was dir widerfahren ist. Denk daran, was er deiner Mutter antat, dass er sie dir genommen hat.«

Franks Herz wurde plötzlich furchtbar schwer, als die Erinnerungen, all die verdrängten Gefühle, in ihm aufstiegen. Er schluckte und merkte, dass Tränen aus seinen Augen quollen. Jahrzehnte hatte er nicht geweint, doch jetzt brach alles aus ihm heraus. Samael legte eine kalte Hand auf seine.

»Weine ruhig,. Weinen hilft, mein Lieber. Dies ist ein Ort der Reinigung. Du trägst unter der Maske des harten Kerls ein wunderbares Herz in dir. Du warst deiner Mutter ein guter Sohn, bist ein liebevoller Ehemann und Vater. Ich habe die Ahnung, dass du uns schnell wieder verlassen wirst, denn du bist schon lange voller Reue und Schuldgefühl. Glaube mir: Entscheidend sind auch alle Gedanken, die man hegt, vor allem die Letzten, vor dem Tod.«

Frank schrak aus seiner Trauer auf. »Bin ich etwa tot?«

Samael sah in das bleiche, schockierte Gesicht und hätte sich auf die Zunge beißen können. Sein neuer Schützling war noch nicht bereit gewesen für diese Information.

»Nein, noch nicht. Aber dein Körper liegt in einem tiefen Koma. Nur dein spirituelles Ich ist hier.«

»Ich darf noch nicht sterben! Was wird aus Angie, den Kindern?« Er packte Samaels eisige Hand. »Kannst du mich nicht zurückschicken? Ich will alles dafür tun.«

Der Engel entzog ihm die Hand. Traurig sein Gesicht. »Man kann hier nicht feilschen. Du stehst vor dem Tod, sonst wärst du nicht hier. Nur ein Wunder kann dich ins Leben zurückbringen, ich vermag es leider nicht.«

Frank vergrub sein Gesicht in den Händen, schluchzte voll tiefer Verzweiflung. Er würde seine Familie nicht wiedersehen.

»Doch, das wirst du. Du hast gut für sie vorgesorgt, sie sind in Sicherheit, wenn auch der Wohlstand dich nicht ersetzen kann. Aber wie ich schon sagte: Zeit ist relativ, das wirst du hier erkennen. Ein ganzes Leben ist nur ein Atemzug in der Ewigkeit. Bestimmt gibt es andere dir nahestehende Verstorbene, die du wiedersehen willst.«

Samael erhob sich, bedachte Frank mit einem freundlichen Blick.

»Weißt du was? Ich mach dich jetzt mit deiner Gruppe bekannt. Ich hab' so eine Idee, in welcher du am besten aufgehoben bist.«

Er streckte ihm seine Hand entgegen. »Komm, vertrau mir! Von hier aus geht's nur ins Himmelreich. Ich weiß, was in dir steckt!«

Der Engel ergriff die schlaffe Hand, um dem gebrochenen Mann aufzuhelfen. Dann legte er ihm einen Arm um die Schulter und geleitete ihn zur Tür, die sich wieder von selbst öffnete. Sie traten in die Blaue Halle hinaus und schlenderten an den gläsernen Abteilungen vorbei, während Samael unaufhörlich weiter plapperte. Frank schien ihm sehr am Herzen zu liegen.

»Frag mich alles, was du wissen willst. Bald wirst du in das ewige Licht einziehen. Frank! Wie ich dich beneide, es ist so unbeschreiblich wundervoll dort, ich weiß, wovon ich rede …«

 
Krankenpflegeschülerin Susan eilte über den Flur zum Zimmer des unbekannten Komapatienten. Schwester Meredith hatte sie sofort losgeschickt, als im Schwesternzimmer ein Vitalfunktions-Alarm ausgelöst wurde. Meredith selbst war ebenfalls losgerannt und suchte nach Dr. Haley.

Das Piepsen, das die Herzfrequenz anzeigte, war viel zu schnell, das hörte Susan bereits beim Eintreten. Sie beugte sich über den Patienten, untersuchte den Tubus. Sein Atem ging hektisch, die Lider zuckten. Susan wusste nicht, was sie tun sollte. Wo blieben nur Schwester Meredith und Dr. Haley?

In diesem Moment schlug der Unbekannte die Augen auf. Sie waren von einem strahlenden Blau und blickten seltsam entrückt in die Ferne. Susan schlug sich die Hand vor den Mund.

„Mom“, krächzte der Mann, gleichzeitig erhellte ein seliges Lächeln sein Gesicht, bevor seine Züge wieder erschlafften.

Das Piepsen verwandelte sich in einen Dauerton. Auf dem Monitor war der Parameter nur noch ein laufender Strich. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Er war tot.

„Dr. Haley! Dr. Haley!“, schrie Susan und rannte aus dem Zimmer.

 

Impressum

Texte: alle Rechte liegen bei Ursula Kollasch, Urheberrecht notariell geschützt!
Bildmaterialien: Canva
Tag der Veröffentlichung: 06.06.2012

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