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Newhaven, East Sussex, 11. November 1989

 

Jack Harlow warf dem Mann einen prüfenden Blick zu und polierte weiter die Gläser.

„He, Kitty, ich glaub, du hast genug für heute.“

Der Gast am Tresen hatte inzwischen mächtig zu schwanken begonnen. Hinter Jacks Rücken, in der oberen Ecke der Bar, flimmerte ein stumm geschalteter Fernseher. Seit vorgestern Nacht liefen auf allen Kanälen die gleichen Bilder über die Mattscheibe: Jubelnde Menschen, die auf der Berliner Mauer tanzten, sich in die Arme fielen oder Interviews gaben. Wir sind ein Volk!

Jack konnte es schon nicht mehr hören. Er mochte die Deutschen nicht und jetzt durften noch mehr von ihnen in der Welt herumreisen.

Der Barkeeper begann, die Gläser in das Regal über der Theke zu stellen. Erneut fiel sein Blick auf Captain Kitty. Gleich fällt er vom Hocker.

Immer wieder rutschte dem Alten der Ellenbogen vom Tresen, versunken in glasige Erinnerungen, die nur er allein kannte. Wenigstens quatschte er nicht so viel wie manch andere Trinker, die Jacks Pub „The Anchor Alehouse“ am Hafen von Newhaven regelmäßig besuchten.

Eigentlich redet er gar nicht, dachte Jack, abgesehen von einem leisen „Guten Abend, Sir“, wenn er an die Theke trat oder einem „Whisky Soda, bitte.“

Auch wurde er nie aggressiv oder brüllte und flennte herum wie die anderen Säufer, die Jack zuweilen vor die Tür setzen musste. Keiner von ihnen wagte es ein zweites Mal im „Anchor Alehouse“ ausfallend zu werden, denn Jack war nicht zimperlich. Er hatte früher in der Army gedient und stemmte immer noch mühelos Gewichte von über 200 Pfund.

Ein „No fan colours“- Schild am Eingang zeigte jedem Besucher deutlich, dass im Pub keine Gäste in Fußballtrikots geduldet waren. Streitigkeiten zwischen rivalisierenden Anhängerschaften waren nicht erwünscht.

Der heutige Abend war ruhig verlaufen und außer dem Captain waren nur noch die Stammgäste Bill und Tony anwesend. Sie saßen in einer Nische, hatten ihre Jacken bereits angezogen und leerten ihr letztes Glas Ale.

Jack sah auf die große Messinguhr über dem Ausgang. Kurz nach elf. Eigentlich wollte er heute Nacht einmal früher Feierabend machen. Aber den alten Trinker musste er wohl zur Sperrstunde als letzten hinauskomplimentieren.

Die Stammgäste standen auf und kamen zum Tresen, Bill klopfte aufs Holz und hob die Hand.

„Bis die Tage, Jack“, sagte er und ging mit seinem Kumpel hinaus.

Nicht schon wieder ... Jack grunzte genervt.

Captain Kittys Kopf ruhte auf der Theke, er war eingeschlafen, doch seine Finger umschlossen noch immer das Whiskyglas.

Fast jeden Abend ging das so. Irgendwann kam der silberhaarige Mann hereingetappt, vorsichtig, als ob er erwartete, der Tür verwiesen zu werden, rutschte auf einen Hocker an der Bar und fing an, sich zu betrinken. Schüttete einen Whisky nach dem anderen in sich hinein. Keiner wusste, wie er wirklich hieß oder woher er stammte.

Das Einzige, was Jack über ihn wusste, war, dass er seit etwa vier Monaten regelmäßig kam und im Somerset Inn wohnte, einer heruntergekommenen Pension am Ende des Hafens. Dorthin mussten die Taxis den Alten fahren, wenn er nicht mehr stehen konnte. 

Stets trug er seine Kapitänsmütze, die wie ihr Besitzer schon bessere Tage gesehen hatte. Und als er einmal die Ärmel seines Troyers hochgekrempelt hatte, war das Kätzchen zum Vorschein gekommen, ein Tattoo in der Größe einer Männerfaust auf seinem rechten Unterarm. An diesem Abend hatten Jack und die Stammgäste begonnen, den verschlossenen, alten Kauz Captain Kitty zu nennen.

Gerade wollte der Barkeeper mit der flachen Hand auf den Tresen schlagen, um ihn zu wecken, da bemerkte er Tränenspuren auf dessen Wangen. Etwas im Gesicht des alten Mannes berührte Jack, der als ehemaliger Soldat nicht für sein Mitleid bekannt war. Und so stapfte er, statt den Säufer unsanft aufzuschrecken, zum Telefon an der Wand, rief ein Taxi und reinigte weiter die Zapfhähne. Als der Fahrer nach wenigen Minuten eintraf, fassten sie Captain Kitty unter die Achseln und schleppten ihn zum Wagen.

 

Am nächsten Abend tauchte der alte Mann wieder im vollbesetzten Pub auf und ergatterte einen Hocker an der Theke.

„Heute geschlossene Gesellschaft“, knurrte Jack, der Ale zapfte. Er hatte viel zu tun, ein Stammgast feierte den 50. Geburtstag und das Ale und Spirituosen flossen in Strömen.

„Ach, lass Kitty ruhig sitzen, der erste Whisky geht auf meine Rechnung!“, lallte der Gastgeber, der gerade mit ein paar Kumpels an der Theke Zigarren paffte. Er schlug dem Captain auf die Schulter, bevor er sich wieder abwandte.

„Danke“, murmelte dieser, auch wenn er sich wie unangenehm berührt die Schulter rieb.

Während Jack weitere Gläser volllaufen ließ, musterte er den Seemann. Irgendwie sah der heute anders aus als sonst. Dann fiel es ihm auf. Der Captain hatte sich rasiert, trug ein sauberes Hemd und das silbrige Haar, das unter der Kapitänsmütze hervorlugte, sah gestutzt aus.

„Guten Abend, Sir“, begrüßte ihn der Mann leise, wie stets.

„N'Abend, Captain. Achte auf deinen Pegel, verstanden? Hab' keine Lust, dich wieder rauszutragen.“ Jack meinte es längst nicht so grimmig, wie es klang, aber der Alte bat trotzdem um Verzeihung und bestellte seinen ersten Whisky.

An Abenden wie diesen verfluchte sich Jack jedes Mal, dass er zu geizig war, eine Aushilfe einzustellen. Doch den Tag sollte es erst noch geben, an dem irgendeiner seiner Gäste zu lange auf ein Getränk warten musste!

 

Gegen halb zwölf bezahlte der sturzbetrunkene Gastgeber die Rechnung und torkelte mit seinen letzten Gästen aus dem Pub. Draußen hörte Jack sie die Nationalhymne anstimmen. Das Grölen entfernte sich mit den Männern die Straße hinunter. Ruhe kehrte in die rauchgeschwängerte Gaststätte ein.

Der Barkeeper begann, die leeren Gläser abzuräumen, wischte die Tische ab und legte eine vergessene Jacke hinter den Tresen. Zufrieden über das hohe Trinkgeld nahm Jack die Scheine aus der Kasse. Da fiel ihm auf, dass der Captain nicht an seinem Platz saß.

Ist er etwa ohne zu zahlen abgehauen? Ich glaub's nicht! Jacks Gesicht verfinsterte sich.

In diesem Moment öffnete sich die Schwingtür zu den Toiletten und der Alte kehrte unsicheren Schrittes zur Theke zurück. Drei Anläufe brauchte er, bis er wieder auf seinem Hocker saß.

„Gibt nix mehr. Sperrstunde“, knurrte Jack und stützte seine Pranken auf den Tresen.

„Ich weiß“, antwortete der Captain und fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht. Er sah aus, als wenn er nächtelang nicht richtig geschlafen hatte.

„Macht achtundzwanzig Pfund.“ 

Der letzte Gast kramte umständlich seine Börse hervor und legte eine 50 – Pfund – Note auf die Theke.

„Passt so.“

Erstaunen flackerte über Jacks Gesicht, doch der Mann nickte ihm zu. Der Barkeeper griff nach dem Schein, klemmte ihn in die Kasse und schloss sie ab.

„Soll ich dir ein Taxi rufen?“, fragte er über die Schulter, während er ins Hinterzimmer ging und seine Jacke vom Haken zog. Der Alte antwortete nicht. Als Jack in den Schankraum zurückkehrte, saß er noch immer an der Theke. Starrte auf seine gefalteten Hände und machte keine Anstalten aufzustehen.

„Was ist jetzt mit dem Taxi?“, blaffte Jack. Er war müde und gereizt.

„Ich werde für eine Weile fortgehen und wollte Sie fragen, ob Sie dies für mich aufbewahren würden.“

Er zog einen großen braunen Umschlag hervor, legte ihn auf den Tresen.

„Was ist das?“, fragte der Barkeeper.

„Das ist unwichtig. Aber ich kann es nicht mitnehmen.“ Der Captain hob die Augen. Sein Blick war plötzlich von einem intensiven Blau und klar.

„Nun, Sir, würden Sie das für mich tun … bitte? “

Jack war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, aber er wusste, dass er nach Hause wollte und nicht mit einem Betrunkenen diskutieren. Wortlos griff er nach dem Umschlag und schob ihn hinter die Kasse.

„Nacht, Captain“, sagte er und nickte mit dem Kopf Richtung Ausgang.

Der Alte ließ sich vom Hocker gleiten und verließ den Pub.

 
Die Nachricht war zwei Tage später im „Eastbourne Herald“ zu lesen und abends war sie das Gespräch im „Anchor Alehouse“. Dicht gedrängt umstanden die Gäste den Tresen, auf dem die Titelseite des Blatts ausgebreitet lag. Jack und seine Stammgäste hatten den Toten auf dem Foto sofort erkannt: Es war Captain Kitty. Sie diskutierten über den Artikel.

„So`n Spaziergänger hat den Captain im Hafenbecken treiben sehen und die Bullen gerufen. Die ham' sofort gesehen, dass er sich erschossen hat.“

„Vielleicht auch nicht. Was, wenn ihn einer umgelegt hat?“

„Wie ist es überhaupt passiert?“

„Ein Schuss in den Mund , steht doch da!“

„Er hatte keine Brieftasche dabei und auch keine Papiere. Hört sich nach Raubmord an.“

„Hört mal! Die Stelle finde ich am besten: Die Polizei bittet die Newhavener Bevölkerung um Hilfe bei der Identifizierung des Unbekannten. Zeugen des Geschehens sollen sich auf der Wache melden. Ha! Da können die lang warten. Da geht doch keiner hin, selbst wenn er was geseh`n hat.“

„Das Foto von der Leiche ham' die bestimmt auf so 'ner Bahre im Leichenschauhaus aufgenommen. Gruselig, das weiße Gesicht, die linke Wange total zerfetzt! Scheißtod, so was. Arme Sau.“

Während die Männer weiter redeten und spekulierten, musste Jack die ganze Zeit an den braunen Umschlag denken, den der Alte ihm anvertraut hatte.

 

Als der Schankraum nach Feierabend wieder in Ordnung gebracht war, setzte sich Jack an den Tresen. Bis auf das Licht der Hängelampen, die ihre sanften Kreise auf die Theke warfen, war es dunkel im Pub. Er zog den Umschlag hervor und legte ihn vor sich. Zögerte.

Ein Stapel Papier oder Fotos schien darin zu sein.

Wollte oder durfte er wirklich wissen, was er für den Captain hatte aufbewahren sollen?

Jack mischte sich nicht gerne in fremde Angelegenheiten, aber hier ging es vielleicht um einen Mord. Wenn er zur Aufklärung des Todes von dem Alten beitragen konnte, wollte er es tun. Eigentlich sollte er den Umschlag der Polizei übergeben. Aber was, wenn nur peinliche Sachen wie schmutzige Fotos darin waren?

Entschlossen griff Jack nach dem Kuvert und riss es auf. Papiere rutschten heraus, bedeckt mit einer ordentlichen Handschrift. Und ein altes Schwarzweißfoto. Es zeigte eine schöne, junge Frau. Jack begann zu lesen.

 

Jack (ich hoffe, ich darf Sie so nennen)

Wenn Sie dies lesen, bin ich wahrscheinlich schon tot. Vielleicht öffnen Sie den Umschlag auch gar nicht, denn ich weiß, dass sie gedient haben und halte sie für einen integren Mann.

Aber ich hoffe, dass Sie meine Zeilen lesen werden, wenn mein Ableben bekannt wird.

Ich möchte mit der Gewissheit sterben, dass zumindest ein Mensch in England weiß, wer ich war, bevor ich zu dem wurde, was ich bin. Vorab: Ich nehme es Ihnen und Ihren Gästen nicht übel, dass Sie mich Captain Kitty nennen und mich mehr oder weniger offen verspotten und verachten. Vielleicht würde ich es an Ihrer Stelle auch tun, wenn ich mich sähe. Aber ich war nicht immer der armselige Trinker. Auch bin ich nie zur See gefahren.

Mein Name ist James Edward Cumberland, meine Familie und Freunde nannten mich Eddie.

Ich wurde am 7. Mai 1917 in Brighton als zweiter Sohn von William und Louise Cumberland geboren. Mein einziger Bruder, George, wurde 1941 vom Himmel geschossen, als er Angriffe auf die deutsche Stadt Bremen flog.

Mein Vater war ein hochrangiger Offizier des MI 5, genauer gesagt einer der Leiter der Marine-Sektion des Geheimdienstes. Er war ein ehrgeiziger und strenger Mann und ein „aufrechter Patriot“, wie er immer betonte. Für ihn war klar, dass George und ich nach einer ausgezeichneten Schullaufbahn in seine Fußstapfen treten sollten und ebenfalls den Dienst im MI 5 aufnehmen würden.

Doch mein älterer Bruder wollte lieber Kampfflieger werden und so heuerte George nach der Schule bei der Luftwaffe an. Schon bald machte er sich einen Namen als begnadeter aber waghalsiger Pilot, was unseren Vater mit Stolz erfüllte. Bereits 1934 war ein Krieg gegen Deutschland absehbar, zu dieser Zeit war George 19 Jahre alt.

Die britische Regierung formulierte einen auf fünf Jahre angelegten Plan zur Erweiterung der britischen Luftstreitkräfte. Er sah sowohl die Aufstellung einer starken Streitmacht von Bombern zum Angriff auf Deutschland, als auch die Schaffung eines Luftverteidigungssystems zur Abwehr deutscher Bombenangriffe vor. George wollte dabei sein. Er war schon immer viel furchtloser und rebellischer gewesen als ich, der sich stets fügte.

1937 trat ich, wie gewünscht, dem MI 5 bei, obwohl ich lieber die Laufbahn eines Künstlers eingeschlagen hätte, denn ich war recht talentiert im Zeichnen und Malen.

Meine Aufgabe beim MI 5 bestand nach einer Grundausbildung darin, Seekarten zu zeichnen und stets auf dem neuesten Stand zu halten.

Als 1940 Winston Churchill Premierminister wurde, war eine seiner ersten Amtshandlungen das gesamte MI 5 umzustrukturieren. Mehr Personal für die Spionageabwehr sollte ausgebildet und eingesetzt werden. Ich gehörte zu diesen Männern und Frauen und war, was mich selbst erstaunte, in den psychologischen Schulungen und Fortbildungen äußerst erfolgreich.

Meine Aufgabe war es von nun an, feindliche Spione und Doppelagenten aufzuspüren und zu enttarnen, nicht aber, sie vor das Kriegsgericht zu bringen. Nein, ich sollte sie „umdrehen“, sie davon überzeugen, für uns zu arbeiten und den feindlichen Geheimdiensten falsche, aber glaubhafte Informationen zukommen zu lassen.

Den meisten war das lieber als die Gerichtsverhandlung und die drohende Todesstrafe. Von den fünfzehn Spionen, die ich enttarnte, gelang es mir bei drei Frauen und acht Männern, sie zu überzeugen. Die anderen vier Agenten begingen in der Untersuchungshaft Selbstmord, was mich damals sehr mitnahm.

Aber dieses System des Umdrehens war ein sehr erfolgreiches Mittel der Täuschung im Zweiten Weltkrieg. Die Feinde taten es schließlich auch.

Dann kam der Tag, an dem ich Lily-Rose kennenlernte. Es war der 19. September 1941 und ich war vierundzwanzig Jahre alt.

Eine Woche zuvor erst hatte meine Familie die Nachricht erhalten, dass George gefallen war und wir trauerten. Da er über feindlichem Gebiet abgeschossen und sein Flugzeug in tausend Teile zerfetzt worden war, mussten wir einen leeren Sarg beerdigen. Doch wir hatten eine bewegende Trauerfeier für meinen Bruder abgehalten.

Ich saß mit den anderen Agenten in einer Besprechung, als sich die Tür öffnete. Der Leiter der Sektion Spionageabwehr, Carl Bennet, trat mit einer jungen Frau herein. Sie trug ein strenges Kostüm und ihr braunes Haar aufgesteckt. Ich konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Bennet stellte sie als neues Mitglied unserer Abteilung vor, doch ich hörte ihm kaum zu.

Lily-Rose Wagner war nicht sehr groß, aber ihr zierlicher Körper zeigte Haltung und Selbstbewusstsein und ihre Bewegungen waren elegant. Sie ähnelte mit ihren ebenmäßigen Zügen und den jadefarbenen Katzenaugen stark der amerikanischen Schauspielerin Gene Tierney. Sie war mit Abstand die schönste und anziehendste Frau, die ich je gesehen hatte und ich war ihr vom ersten Augenblick an verfallen.

Der Zufall wollte es, dass wir zu zweit in einem Team arbeiten sollten. Zuerst war ich kaum in der Lage, mich auf unsere Projekte und Gespräche zu konzentrieren. Ich geriet ins Schwitzen, wenn sie dicht bei mir saß und sich über die Fallakten beugte. Sie verströmte ein betörendes blumiges Parfüm und wenn sie mich anlächelte, bildeten sich bezaubernde Grübchen in ihren Wangen.

„Was ist los mit Ihnen, Agent Cumberland?“, fragte sie mich in ihrem fast akzentfreien Englisch. Ihre Stimme klang warm und heiser. Sie musterte mich aus den grünen Augen und zog ironisch die linke Augenbraue hoch. Als ob sie alles über meine verwirrten Gefühle für sie wusste.

„Nichts, was soll denn sein?“, fragte ich zurück und fühlte, dass ich errötete. Ich benahm mich wie ein Idiot!

Sie lächelte ein feines Lächeln und sagte leichthin: „Dann konzentrieren Sie sich bitte auf unseren Fall, ich möchte ihn in den nächsten Tagen abschließen.“

Das war ein weiteres Charakteristikum für Lily-Rose: Sie war ehrgeizig und arbeitete engagierter und länger als jeder Mann in unserer Abteilung. Ich gewöhnte mir an, die Überstunden mit ihr gemeinsam zu verbringen und war fasziniert von ihrer Raffinesse und ihrem psychologischen Geschick. Sie war eine Meisterin in Mimik und Sprache und vermochte es, ihr Gegenüber sofort einzuschätzen.

In den Verhören stellte sie immer die richtigen Fragen und gab den Spionen letztendlich das Gefühl, auf deren Seite zu sein, ihnen nur helfen zu wollen. Von großem Vorteil war dabei, dass Deutsch ihre Muttersprache war. Deutsche Spione wurden bald nur noch von ihr verhört. Kein Wunder, ihre Eltern waren 1938 mit ihr aus Hamburg nach England eingewandert. Ihre Mutter Elsa war Jüdin, was die Wagners in Deutschland eine Zeit lang hatten verheimlichen können. Trotzdem sahen sie bei den jüdischen Nachbarn hautnah die Schikane und Verfolgung. Aber erst nach den aufflammenden Pogromen gegen jüdische Bürger konnte der Vater sich durchringen, Deutschland mit der Familie zu verlassen.

Dr. Alexander Wagner war früher ein bekannter Hamburger Arzt und Psychologe gewesen, ein gebildeter Mann, der vier Sprachen fließend sprach. Er bot der britischen Regierung seine Dienste als Übersetzer an, die sie - natürlich nach einer genauen Überprüfung des Doktors - in Anspruch nahm. Bald schon wurde das MI 5 auf den Deutschen aufmerksam und stellte ihn ein.

Seine Tochter, die ihren Namen in England von Rosalinde in Lily-Rose geändert hatte, besaß die gleichen Talente.

Lily-Rose und ich kamen uns näher. Wir begannen uns zu verabreden, und jedes Mal, wenn ich sie zum Tanzen abholte, war ich aufgeregt wie ein Schuljunge vor seinem ersten Kuss. Wenn sie über die Treppe ihrer Wohnung auf mich zu schritt, stockte mir der Atem.

Ich hatte ihr den Spitznamen „Kätzchen“ gegeben, wegen ihrer Augen und der Vorliebe für Sahne. Im Gegenzug neckte sie mich mit dem Namen „Captain“, in Anspielung auf meine zukünftige „glorreiche“ Karriere beim MI 5. Sie schenkte mir die dunkelblaue Kapitänsmütze, die ich aber nicht trug, sondern neben meinem Bett aufhängte.

Ich ließ mir aus einer übermütigen und verliebten Laune heraus ein Kätzchen auf den Unterarm tätowieren, auch wenn ich auf der Arbeit seitdem immer langärmelig herumlaufen musste.

Im Dezember 1941 wurden wir ein richtiges Paar. Mein Vater war anfangs alles andere als begeistert über meine Beziehung zu einer Deutschen. Meine Beteuerungen, Lily-Rose sei englischer als alle englischen Mädchen zusammen, ließen ihn kalt. Doch Lily schaffte es, meine Eltern, vor allem meine Mutter, von sich zu überzeugen. Sie wich keiner noch so unangenehmen Frage meines Vaters nach ihrer Gesinnung und Herkunft aus und beantwortete sie ehrlich. Ich schämte mich richtig für diese Inquisition durch meinen Vater, aber wenigstens ließ sein Misstrauen meinem Mädchen gegenüber etwas nach.

Ich war der glücklichste Mann Englands, obwohl die deutschen Luftangriffe über Südengland tobten und wir viele Nächte in unseren Kellern verbringen mussten. Ich spielte gar mit dem Gedanken, Lily-Rose um ihre Hand zu bitten. Bei einem Juwelier kaufte ich einen Verlobungsring, der mich fast ein Monatsgehalt kostete.

So saß ich eines Abends in ihrer kleinen, femininen Wohnung. Immer wieder betastete ich das Schmuckkästchen in der Tasche meines Jacketts und wartete. Sie war im Badezimmer. Durch die geschlossene Tür konnte ich sie unter der Dusche summen hören.

Ich weiß nicht, was mich ritt oder welcher Eingebung ich folgte - vielleicht war es auch nur Langeweile - aber ich stand auf und schlenderte zu dem aufgeklappten Sekretär, der an der Wand neben dem Fenster stand. (Machen das nicht alle Liebenden, ich meine, wollen sie nicht alles über den geliebten Menschen und sein Denken und Fühlen erfahren?) Jedenfalls überflog ich die Papiere, die neben der Schreibmaschine auf dem Schreibtisch lagen. Es waren größtenteils Verhörprotokolle, die sie noch fertigstellen musste.

Plötzlich fiel mein Blick auf den unteren Teil eines handgeschriebenen Briefes, der unter den Protokollen hervorlugte. Es war eindeutig eine männliche Handschrift und die Unterschrift lautete „Paul“.

Ein Stich der Eifersucht durchzuckte mich und ich zog den Brief hervor. Er war auf Deutsch verfasst, ich verstand kaum ein Wort. Mit klopfendem Herzen durchwühlte ich die Papiere, auf der Suche nach dem Umschlag, der mir den Absender verraten sollte. Aber ich konnte keinen entdecken.

Der Brief würde Lily-Rose auch kaum auf dem Postweg erreicht haben, dachte ich. Briefe aus dem feindlichen Deutschland wurden abgefangen und kontrolliert.

Wer war dieser Paul? Woher kam er? Vor allem: Was hatte er mit Lily-Rose zu tun? Ich musste in Erfahrung bringen, was in diesem Brief stand.

Mein Blick fiel auf ihre Kamera auf der Fensterbank. Ohne nachzudenken griff ich danach und schoss von dem Schreiben mehrere Fotos. Ich spähte zur Badezimmertür, denn das Blitzlicht war sehr laut gewesen. Aber die Dusche plätscherte immer noch. Dann spulte ich den Film bis zum Ende, entnahm ihn der Kamera und ließ ihn zum Schmuckkästchen in meine Tasche gleiten. Ich nahm einen neuen Film aus dem Sekretär, spannte ihn ein und legte die Kamera zurück auf die Fensterbank. Zuletzt schob ich den verdächtigen Brief wieder unter die Protokolle.

„Was tust du da, Eddie?“

Erschrocken fuhr ich herum, mein Herz raste. Lily-Rose lehnte in einem Bademantel am Türrahmen, ihre Katzenaugen blitzten. Die Dusche lief noch immer, deshalb hatte ich die Tür nicht gehört.

„Ich habe nur deine Protokolle gelesen und warte auf die schönste Frau Englands. Bist du bald fertig?“

Sie blickte mich mit einem seltsamen Gesichtsausdruck an. Ich ging auf sie zu, nahm ihre Hand und lächelte sie an. Nach kurzem Zögern lächelte sie zurück, küsste mich und ging zurück ins Bad.

Die Sache mit dem Brief nagte an mir. Ich entwickelte die Fotos selbst und lief mit den besten Abzügen zu einem Übersetzer in unserer Abteilung.

Ich war froh, keine Angaben zur Herkunft des Briefes machen zu müssen. Kurz las der Mann das Schreiben, dann diktierte er mir die Übersetzung, die ich mitschrieb. Ich dankte ihm mit maskenhaftem Gesicht und ging beunruhigt in mein Büro. Zutiefst beunruhigt.

Lily-Rose hatte gelogen! Aus dem Brief war klar zu entnehmen, dass der Absender ihr Bruder war und er redete neben den verheerenden Bombenangriffen auf deutsche Städte von einem Treffen, das er mit ihr wünschte. Von einem Bruder hörte ich heute zum ersten Mal! Die Wagners waren zu dritt eingereist und hatten keine weiteren Verwandten außer einer Großmutter in Hamburg angegeben. Warum hatte die Familie diesen Bruder verschwiegen?

Ich liebte Lily-Rose, liebte sie wahnsinnig, und hoffte auf eine harmlose oder nachvollziehbare Erklärung für diese Lüge. Aber Misstrauen grub sich in mein Herz und immer wieder ging mir ein Gedanke durch den Kopf: Wenn sie und ihre Familie das eine Mal etwas verheimlicht hatten, wie oft wohl noch? Und was war das für ein Treffen mit dem mysteriösen Bruder?

Ich musste dem nachgehen.

In meiner Position und mit meiner Erfahrung war es nicht schwer, Spuren zurückzuverfolgen und durch unsere Spitzel herauszufinden, wer Paul Wagner war und wo er lebte.

Die Mitarbeiter des MI 5, die die Wagners damals überprüft hatten, waren schlampig vorgegangen. Auch wenn ich zugeben musste, dass die Familie ihre Spuren recht geschickt verwischt hatte.

Der Bruder war vier Jahre älter als Lily, nannte sich inzwischen Paul Wegener und gehörte zu einem Stab im Oberkommando der Wehrmacht. Die Abteilung nannte sich „Amt Ausland/Abwehr“.

Das Netz zog sich immer weiter zu. Nun wusste ich, warum die Familie seine Existenz verschwiegen hatte. Es war höchstwahrscheinlich ein beiderseitiges Abkommen gewesen. Paul hatte seine Familie mit dem jüdischen Makel ausreisen lassen, um sie zu schützen, dafür schwieg sie über seine neue Identität als „Arier Paul Wegener“, um wiederum ihn nicht auffliegen zu lassen. Offiziell war seine Familie bei einem Schiffsunglück ums Leben gekommen.

Ich betrachtete Pauls Foto, das auf der ersten Seite der Akte prangte. Er war ein gutaussehender Mann und hatte große Ähnlichkeit mit seiner Schwester, wenngleich sein Gesicht wesentlich härter war als ihres. Ich klappte die Mappe zu und dachte nach.

Warum hielten die Geschwister Briefkontakt und verabredeten ein Treffen, obwohl sie doch inzwischen in feindlichen Lagern standen und arbeiteten? Ein schrecklicher Verdacht stieg in mir auf. Er schnürte mir die Kehle zu und meine Hoffnung auf eine harmlose Erklärung starb.

Nachdem Lily-Rose wieder erfolgreich einen deutschen Spion umgedreht hatte, wurde er nach dem letzten Verhör entlassen. Der Mann griff sich seine Jacke und verließ das Gebäude. Ich heftete mich an seine Fersen und nahm die Beschattung auf. Der Spion hieß Gerhard Witte und war vor einigen Jahren offiziell als jüdischer Flüchtling nach England gekommen, wo er unauffällig lebte. Bis er vor einigen Wochen von mir enttarnt wurde. Trotzdem hatte ich Lily-Rose Wittes Verhör überlassen, denn ich wollte ihr eine Falle stellen.

Nun folgte ich dem Spion durch die verschneiten, kalten Straßen und sah ihn auf ein schäbiges Backsteinhaus zutreten. Er schloss die Haustür auf und betrat den Flur, doch bevor er die Tür zudrücken konnte, stellte ich meinen Fuß hinein. Erschrocken blickte er mich an. Erkennen und ein Hauch von Panik flammte in seinen Augen auf. Ich schob ihn in die Wohnung und schloss die Tür.

„Gerhard Witte, ich will mit Ihnen reden. Setzen wir uns.“

Er war total überrumpelt und führte mich in ein kleines Wohnzimmer. Ich konnte den Angstschweiß riechen, der ihm aus den Poren strömte. Auf zwei gegenüberstehenden Sesseln nahmen wir Platz. Sein Gesicht war sehr bleich und seine Finger nestelten ununterbrochen an seinen Manschettenknöpfen. Ich musste ihn nicht lange bearbeiten, bis ich die gewünschten Informationen erhielt. Der Spion hatte Angst und zu viel zu verlieren.

Leider wurden meine Befürchtungen bestätigt. Ich behielt meine Gesichtszüge unter Kontrolle, während mein Innerstes schrie und tobte vor Wut und Trauer, als er mir einen kleinen Zettel aushändigte. In der Handschrift meiner Liebsten stand darauf: „Müssen Pause einlegen. Stehe vielleicht unter Verdacht.“

Witte berichtete weiter, dass Lily-Rose ihn nicht mit falschen Informationen zurück nach Deutschland sandte, sondern mit Nachrichten über echte Operationen und geplante Angriffe der britischen Streitmacht. Ohnmächtig lauschte ich seinen gestammelten Worten, während ich ihn düster anstarrte und fühlte, wie mein Herz hart wurde.

„Wir haben seit Anfang des Jahres Kontakt. Ich war einer ihrer Verbindungsmänner.“

Die Farce seiner Vernehmung hatte ihr wahrscheinlich noch Spaß gemacht, dachte ich grimmig. Und er war wahrscheinlich nicht der einzige gewesen, den sie mit Informationen versorgt hatte.

„Wer sind die anderen?“, blaffte ich ihn an.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen, Sir, weil ich es nicht weiß. Glauben Sie mir! Wir kennen die Identitäten der anderen nicht, um uns im Fall einer Gefangennahme nicht zu verraten. Mein Kontakt hier war nur Miss Wagner. Vor einigen Wochen übergab sie mir eine Liste mit den Namen britischer Spione in Norddeutschland, die ich weiterleitete.“

Ein eisiger Klumpen bildete sich in meinem Magen. Seit etwa zwei Wochen hatten wir keinen Kontakt mehr zu vier unserer Agenten, die im Norden Deutschlands eingesetzt waren. Wahrscheinlich hatte man sie wegen Lilys Verrat geschnappt, gefoltert und getötet.

„Sie hat mir geraten, nicht nach England zurückzukehren.“

Witte verstummte und blickte mich ängstlich an. Er hoffte, dass ich Wort hielt und ihn, als Gegenleistung für seine umfassenden Auskünfte, laufen ließ.

Lily-Rose hatte die englischen Agenten verraten. Sie hatte England verraten.

Vor allem hatte sie mich verraten.

Ich musste jetzt alleine sein. Einen Moment spielte ich mit dem Gedanken, Witte festzunehmen, trotz meines gegenteiligen Versprechens für seine Kooperation. Doch er hatte keine neuen Informationen von Lily erhalten, die er dem Feind zuspielen konnte und ich war ein Mann, der sein Wort hielt.

„Versuchen Sie nicht, Miss Wagner zu warnen, sonst sind Sie ein toter Mann. Verlassen Sie England, noch heute, und kehren Sie nie zurück.

Mit diesen Worten stand ich auf, nahm nur am Rande seine Erleichterung wahr und verließ die Wohnung. Nicht nur die winterliche Kälte ließ mich frösteln. Ich musste die Angaben über den bevorstehenden feindlichen Einsatz, die ich von dem Spion erhalten hatte, umgehend weiterleiten. Die Deutschen planten für den nächsten Monat, Spitzel an der südenglischen Küste mit Fallschirmen abzusetzen. Es war Teil ihrer „Operation Seelöwe“.

Doch wir würden die Männer nun bereits erwarten und alle erschießen.

Auf dem Rückweg haderte ich mit mir. Mein Herz schlug für mein Heimatland, so war ich aufgewachsen und erzogen worden. Ja, ich liebte England und meine Aufgabe war, es zu beschützen. Aber ich liebte auch Lily-Rose. Immer noch, trotz ihres schrecklichen Verrats. Ich musste mit ihr reden.

Konnte ich vielleicht auch sie „umdrehen“?

Hatte England sie und ihre Familie nicht mit offenen Armen aufgenommen und ihnen die Chance gegeben, Bürger dieses wunderbaren Königreiches zu werden?

Ich machte mich auf den Weg zu ihrer Wohnung und läutete. Sie öffnete mir, ihr Haar floss in braunen Wellen um das schöne Gesicht und ihre Augen strahlten, als sie mich vor der Haustür sah.

„Eddie! Komm rein!“ Sie legte ihre Arme um meinen Nacken und gab mir einen leidenschaftlichen Kuss. Judaskuss, dachte ich, auch wenn mein Körper stark auf sie reagierte.

Wir gingen hinein und setzten uns. Sie zog die Beine auf das Sofa, lächelte mich an. Ich kam gleich zur Sache.

„Ich habe mit Gerhard Witte gesprochen.“ Ihr Lächeln erstarb.

„Ich weiß über alles Bescheid. Wie konntest du das nur tun?“

Etwas in mir hoffte immer noch auf eine sie entlastende Erklärung, doch Lily-Rose schwieg. Sie blickte mich aus ihren Katzenaugen an, unergründlich ihr Blick.

„Sprich, oder ich bringe dich jetzt gleich in unsere Abteilung. Dann kannst du es auf die harte Tour haben.“

Sie beugte sich zu mir herüber, wollte meine Hand ergreifen, doch ich wich vor ihrer Berührung zurück. Plötzlich traten Tränen in ihre Augen.

„Ach, Eddie“, schluchzte sie. „Vor diesem Moment habe ich mich die ganze Zeit gefürchtet. Seit wir uns kennen und ich mich in dich verliebte.“

Sie presste eine Hand auf den Mund, um das Schluchzen zu unterdrücken.

Ich war hin und her gerissen. Ein Teil von mir wollte sie fest in den Arm nehmen und ihr das Versprechen ins Haar flüstern, dass alles gut werden würde.

Doch der Agent und Patriot in mir blieb sitzen und schaute sie aus gefühllosen Augen an.

„Erspar uns dieses Rührstück, Kätzchen“, sagte ich und spie ihren Kosenamen regelrecht hervor.  „Ich weiß, was du verbrochen hast. Bist du stolz darauf, dass wegen dir vier mutige Männer sterben mussten und du Deutschland einen großen Dienst erwiesen hast?“

Meine Stimme wurde immer lauter. „Hat dieses Land, das dich und deine Eltern aufnahm und versorgte, euch vor der Verfolgung schützte, diesen Verrat verdient?“

Ich sprang auf. Ganz dicht brachte ich mein Gesicht vor ihres und sah Angst in ihren Augen aufflackern.

„Sag mir nur eins: Warum?“

Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und begann haltlos zu weinen. Ihr Körper zuckte und zitterte, ich hörte eine tiefe Qual aus ihrem Schluchzen, die sie unmöglich vorspielen konnte. Oder? Denn ich wusste nur zu gut, welch begnadete Mimin sie war.

„Oh, Eddie!", jammerte sie. „Ich habe all diese schrecklichen Dinge getan. Es ist wahr. Aber bitte, – Liebling! Bitte hör mir zu.“

Sie schniefte, wischte sich über die Augen und ich setzte mich wieder hin.

„Ich habe es nicht für Deutschland oder wegen Geld getan. Ich werde nicht von den Deutschen bezahlt. Ich musste es tun. Paul, mein Bruder, hat mich erpresst. Er gehört zum Oberkommando …“

„Ich weiß, wer Paul ist und was er tut“, fiel ich ihr hart ins Wort. „Ich habe seine Akte gelesen. Weiter!“

Lily-Rose musste sich kurz sammeln, dann fuhr sie fort. „Meine Eltern wissen nichts davon und sie sollen auch nie erfahren, wie niederträchtig er ist. Und zu was er mich gezwungen hat. Beides, was Paul, aber auch was ich getan habe, würde meiner Mutter und meinem Vater das Herz brechen. Bitte, Eddie, versprich mir, dass meine Eltern es nicht erfahren. Sie sind gute Menschen.“

Sie blickte mich flehend an, aber ich ging nicht auf ihre Bitte ein.

„Womit erpresst dich dein Bruder?“

„Wir haben noch mehr Verwandte in Deutschland, nicht nur meine Großmutter und Paul. Die Familie meiner Mutter ist groß, ich habe Onkel und Tanten, Cousinen und Cousins und die wiederum haben Kinder. Sie sind alle Juden, aber sie weigerten sich Deutschland zu verlassen. Paul fürchtete um seinen Aufstieg und Mutter bekniete ihn, ihrer Familie eine arische Identität zu verschaffen. Das tat er, wenn auch widerwillig. Er hatte sich so verändert. Er war nicht mehr der Bruder, den ich kannte, er war ein Raubtier für die deutsche Sache geworden. Ihm ging es nur darum, seine jüdischen Wurzeln zu verheimlichen und vielleicht hatte er schon damals im Hinterkopf, wie er mich damit erpressen konnte.“ 

Sie riss sich zusammen und schaute mich an. Der Ausdruck ihrer Verzweiflung und Schuld stach mir ins Herz.

„Ich ließ ihm die Nachricht zukommen, dass ich nicht für ihn spionieren wollte, glaub' mir bitte, ich wollte es nicht. Als Antwort wurde mir ein Foto überbracht. Auf dem war eine fremde Familie zu sehen. Judensterne waren auf ihre Kleidung genäht. Sie lagen in ihrem Blut auf der Straße, übereinander, von Kugeln durchsiebt. Männer, Frauen und Kinder, abgeschossen wie Vieh. Diese Drohung brachte mich dazu, zu tun, was mein Bruder verlangte. Denn ich bin mir sicher, er würde unsere eigene Familie opfern. Es tut mir so leid. Aber ich hatte doch keine Wahl.“

Wieder begann Lily-Rose zu weinen. Auch mir tat es unglaublich leid. Ich stand auf und ging zu ihr hinüber. Sofort sprang sie auf, warf sich in meine Arme, klammerte sich an mich und weinte an meinen Hals. Ich strich ihr über das Haar.

„Das wusste ich nicht. Ich glaube dir. Aber was sollen wir jetzt tun?“

Fieberhaft überlegte ich, aber mir fiel nichts ein.

„Lass uns verschwinden“, flüsterte Lily-Rose. „Ich werde meinen Verwandten eine Nachricht senden, dass sie untertauchen müssen. Und wir tun es auch. Lass uns in die Staaten ausreisen. Bitte, Liebling, lass uns fortgehen, bevor ich von jemandem enttarnt werde.“ Ich presste die Lippen zusammen. Der Gedanke an eine Flucht gefiel mir nicht. Ich wollte meine Heimat nicht verlassen, schon gar nicht abtauchen, als wäre ich ein mieser Verräter. Aber Lily hatte recht: Es bestand die große Gefahr, dass ihr Tun aufflog.

Ich wiegte sie in meinen Armen, sog tief den reinen Duft ihres Haars ein.

„Vertrau mir, Kätzchen. Mir wird etwas einfallen. Wir sehen uns morgen im Büro. Jetzt muss ich nachdenken.“

Ich küsste sie zärtlich auf den Mund und griff nach meinem Hut.

An der Tür wandte ich mich noch ein Mal um. Liebe und Dankbarkeit standen in ihrem Gesicht. Ich ging.

Das war ein Fehler, wie ich am nächsten Morgen erkennen musste.

Lily-Rose erschien nicht zum Dienst, hatte sich aber nicht wegen Krankheit entschuldigt.

Ich fuhr zu ihrer Wohnung und schloss mit meinem Schlüssel auf. Wie sehr ich doch hoffte, sie läge krank im Bett oder hätte verschlafen. Doch die Wohnung war verlassen, der braune Koffer auf dem Schrank im Schlafzimmer war fort. Sie war geflohen. Was war ich für ein Narr! Wie ein ausgemachter Dummkopf war ich ihr auf den Leim gegangen. Wahrscheinlich war die ganze Geschichte von der jüdischen Großfamilie und Pauls Erpressung erstunken und erlogen. Und wieder hatte sie mich verraten.

Doch ich würde sie aufspüren, das schwor ich mir. Sie würde für alles büßen.

Ich setzte alle Hebel in Bewegung. Fahndungslisten mit ihrem Foto wurden ausgegeben und ganze Heerscharen von Agenten und Polizisten machten sich auf die Suche nach Lily-Rose Wagner.

Die schlaue Katze zeigte sich dieses Mal nicht klug. Statt im Landesinneren unterzutauchen, war sie an die Ostküste gefahren. Man fasste sie am nächsten Nachmittag im Hafen von Hull. Dort wartete sie auf ein Schiff, das noch am selben Abend nach Rotterdam abgelegt hätte. Nur, weil ich sofort nach ihrem Verschwinden Alarm geschlagen hatte, war sie gefasst worden, sonst wäre sie den Agenten entwischt.

Ich war bei ihrer Verhaftung nicht dabei. Auch wollte ich sie nicht sehen, als man sie verhörte, obwohl sie nach mir fragen ließ. In mir war nur noch Leere. Ich hatte alle Beweise und einen schriftlichen Bericht an die Behörde übergeben.

Man lud mich zur Gerichtsverhandlung als Zeuge, doch ich ließ mich wegen Krankheit entschuldigen. Der Prozess fand mit meiner schriftlichen beglaubigten Aussage statt.

Wie ich erwartet hatte, verurteilte man Lily-Rose wegen Hochverrats zum Tod durch Erschießen.

Die Nachricht verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Abteilung.

Am Tag ihrer Hinrichtung, es war der 4. Februar 1942, brachte man mir morgens einen Umschlag. Mein Name stand darauf und ich erkannte sofort die schwungvolle Handschrift von Lily-Rose.

Mit zitternden Fingern zog ich einen kleinen weißen Zettel hervor:

„Geliebter Eddie, es ist nicht so wie Du denkst. Ich habe einen großen Fehler gemacht. Ich hätte Dir vertrauen sollen. Ich vergebe Dir. Ich liebe Dich.“

Der Zettel war nicht unterschrieben. Ich schluckte und steckte ihn in meine Jackettasche, in der noch immer das Kästchen mit dem Verlobungsring lag. Schmerz fuhr mit scharfen Klingen durch meine Eingeweide, Tränen liefen aus meinen Augen.

Selbst jetzt noch konnte die Verräterin mich berühren. Ärgerlich wischte ich mir die Beweise meiner Schwäche aus dem Gesicht.

Gleich würde man sie in den Hof führen und an die Wand stellen. Vom Flurfenster im Zweiten Stock aus konnte ich direkt in den Hof hinabblicken. Ich starrte hinaus und wartete.

Ich musste sie einfach noch einmal sehen. Mein Herz setzte aus, als die Soldaten sie aus dem Gebäude führten. Klein und zierlich wie ein Mädchen wirkte sie zwischen den uniformierten Männern, das Haar zu einem straffen Zopf zurückgekämmt. Sie stellten sie an die Wand, wollten ihr die Augen verbinden, doch sie schüttelte den Kopf und wies die Augenbinde zurück. Die Soldaten entfernten sich auf die gegenüberliegende Seite und warteten auf den Befehl ihres Vorgesetzten, die Gewehre anzulegen. In diesem Moment schaute Lily-Rose hoch zu meinem Fenster. Ich erschrak.

Bis heute bilde ich mir ein, dass ihre Lippen meinen Namen formten, als die Schüsse knallten und in ihre Brust schlugen.

Dieser Moment sollte mich bis heute verfolgen und sich in meinen Albträumen wiederholen und wiederholen.

Sie war tot. England wurde von einer Spionin weniger bedroht.

Ich fühlte mich mehr als schlecht, konnte nicht mehr essen und nicht mehr schlafen.

Schlich herum wie ein Geist.

Trotz der Belobigungen, die ich erhielt, wurden meine Zweifel an der Richtigkeit meiner Tat immer größer. Ihr Brief ließ mich nicht zur Ruhe kommen. Immer wieder las ich ihn. Er war schon ganz dünn und zerknittert - auch heute noch trage ich ihn bei mir, unleserlich vergilbt ist die Tinte. Doch jedes einzelne Wort hat sich in mein Herz gebrannt. Der Zweifel musste behoben werden und so stellte ich Nachforschungen an. Heimlich. Erst nebenbei, dann intensiver.

Die Ergebnisse erschütterten mich. Die jüdische Großfamilie mütterlicherseits gab es wirklich, sie hatte unter falschem Namen in der Nähe Hamburgs gewohnt. Hatte. Ihre Verwandten waren, wie Lily-Rose es befürchtet hatte, in einem Massaker hingerichtet worden. Kurz nach Lilys Tod. Wahrscheinlich, weil Paul keine Antwort mehr von seiner Schwester erhalten hatte.

Warum nur war Lily-Rose geflohen?

Ich hätte alles getan, um ihr und ihrer Familie zu helfen.

Ich hätte Dir vertrauen sollen, hatte sie geschrieben. Aber ich hatte ihr genauso wenig vertraut wie sie mir.

Oh, was hatte ich ihr angetan? Sie in den Tod geschickt. Was hatte ich - indirekt - ihrer Familie in Deutschland angetan? Warum hatte ich Lily-Rose nicht gesucht, ich allein? Ich hatte gewusst, dass sie in die Staaten fliehen wollte, hätte die Häfen, von denen Schiffe in die USA ausliefen, abklappern können. Es hätte wahrscheinlich keine weiteren Agenten gebraucht, um sie aufzuspüren.
Nein, ich hätte mit ihr fliehen sollen, wie sie es gewünscht hatte. Vielleicht wären wir glücklich geworden.

Mit dieser Schuld musste ich von nun an leben und schaffte es nicht. 

Ich verfiel dem Alkohol und wurde nach mehreren Abmahnungen beim MI 5 entlassen. Hielt mich mit Jobs über Wasser. Von dort an ging es immer weiter bergab mit mir.

Mein enttäuschter Vater wünschte keinen Kontakt mehr. Meine Eltern starben, ohne dass ich sie noch einmal wiedergesehen hatte.

Dies ist die Geschichte, die mich zu dem Elend werden ließ, das sich jeden Abend in Ihrem Pub betrank.

Jack. Verzeihen Sie mir, dass ich Sie ausgesucht habe, um all dies ans Licht zu bringen und mit meinem Selbstmitleid zu belästigen. Vorhin habe ich noch ein Päckchen für Sie aufgegeben, es ist an Ihren Pub adressiert. Wenn Sie den Inhalt nicht gebrauchen können, schmeißen Sie ihn ohne Reue weg.

Ich werde mich nun auf den Weg zum Pier machen und gut zielen müssen, denn ich habe nur einen Schuss. Ich fürchte mich ein wenig vor dem Tod, aber nicht vor dem Ende meines Lebens. Angst habe ich nur davor, vielleicht Lily-Rose gegenübertreten zu müssen. Aber auch Sehnsucht, und Hoffnung, vielleicht hat sie mir wirklich verziehen. Gott vergebe mir meine Fehler. 

Ich wünsche Ihnen nur das Beste. 

Hochachtungsvoll und ergebenst Ihr

James Edward Cumberland

 

Jack ließ die letzte Seite sinken und dachte an den alten Mann. Die Gräuel und Schattenseiten des Krieges.

Dann nahm er das Foto und blickte in das Gesicht von Lily-Rose Wagner. Was für eine schöne Frau sie gewesen war. Was für eine traurige Geschichte. 

Jack war ganz durcheinander. Das alles hätte er dem alten Mann nicht zugetraut. Eigentlich hatte er gar nicht über ihn nachgedacht. Auf jeden Fall musste er morgen mit dem Brief zur Polizei gehen, um aufzuzeigen, dass Cumberlands Tod ein Selbstmord gewesen war.

Cumberland, so nannte er ihn jetzt. Nie wieder würde er jemandem in seinem Pub erlauben, von ihm als Captain Kitty oder in anderer verächtlicher Weise zu sprechen. Jack dachte an das Päckchen, das im Brief erwähnt wurde. Ihm fiel ein, dass er die heutige Post noch nicht durchgeschaut hatte. Der Briefträger legte sie immer hinter den Tresen beim Eingang, wenn er sah, dass der Barkeeper viel zu tun hatte.

Jack schaute nach. Da waren einige Briefe und – ein Päckchen, er erkannte die ordentliche Handschrift. Hob es auf und öffnete das braune Packpapier. Zum Vorschein kam die dunkelblaue Kapitänsmütze.

Ach, Cumberland, was soll ich denn damit?

Er seufzte, stand auf und blickte sich in seinem Pub um. Eigentlich passte sie ganz gut in das „Anchor Alehouse“.

Jack nahm ein kleines Bild von der Wand und hängte die Mütze an den Nagel.

Good bye, Eddie. Mögest du in Frieden ruhen.

 

Impressum

Texte: Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay / skeeze
Tag der Veröffentlichung: 21.05.2012

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