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„Wenn Sie bitte auf der letzten Seite unterschreiben würden, Miss Palmer.“

James Halterton, Rechtsanwalt und Notar in der alteingesessenen Kanzlei Smythe & Halterton in Denver, Colorado, reichte Helen einen Füller über den Mahagonischreibtisch. In seiner bedächtigen Art war er mit der jungen Frau die Papiere durchgegangen und hatte alle Fragen geklärt. Helen nahm den Füller entgegen und starrte auf die Linie für die Unterschrift. Plötzlich überkam sie Unsicherheit.

Seit ihr Buch „Schattengold“ vor einigen Jahren zum Bestseller wurde, hatte sie eine Menge Geld verdient und dieses gewinnbringend angelegt. Dem ersten Bestseller waren weitere gefolgt, und nun, mit 31 Jahren auf dem Zenit ihres Erfolgs, hatte sie einen gewissen Wohlstand erreicht. Aber sie erinnerte sich an die harten Zeiten als erfolglose Schriftstellerin, in denen sie in einer verschimmelten, hellhörigen Bruchbude von Zimmer leben musste und sich manchmal über Tage keine richtige Mahlzeit leisten konnte.

Helen straffte die Schultern und verdrängte diesen Gedanken. Zum ersten Mal in ihrem Leben wollte sie sich etwas Teures kaufen - ein Haus, nur für sich allein. Aber nicht irgendein Haus, nein, sie war im Begriff den Kaufvertrag für die Jugendstilvilla der Margaret Brown, der berühmten „unsinkbaren Molly“, die das Titanic-Unglück überlebt hatte, zu unterschreiben. 

Das Haus hatte lange leergestanden, war heruntergekommen, es müsste saniert werden.

Dennoch würde sie diese Unterschrift ein kleines Vermögen kosten. Wegen der begehrten Lage der Villa, und weil einst eine Prominente darin gewohnt hatte.

Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als sie das Gebäude mit dem Türmchen, den Erkern und dem eleganten Treppenaufgang gesehen hatte.

Während sie beim Besichtigungstermin mit der Maklerin durch die leeren Räume über das Parkett schritt, hatte sie das Haus in Gedanken bereits eingerichtet und gewusst: Ich muss es haben! Nun war der große Moment da.

Unschlüssig schaute Helen auf zu Mr. Halterton, der sie nach wie vor freundlich abwartend über die Brillengläser hinweg ansah, seine Hände ruhten verschränkt auf dem Schreibtisch. Der Notar besaß genug Erfahrung, eine zögernde Klientin nicht zu drängen. Die junge Frau atmete tief durch und unterschrieb.



 *


Helen saß auf dem rosenfarbenen Sofa, vor sich eine Tasse Tee auf dem Tischchen. Neben ihr hatte sich Oscar, ihr Kater, zusammengerollt und schlief. Die Sitzecke im Turmfenster des großen Salons war schon jetzt ihr Lieblingsplatz.

Nach der Unterzeichnung des Kaufvertrags hatte sie sofort ihre Wohnung in Downtown gekündigt und noch am gleichen Tag Aufträge an verschiedene Handwerker vergeben. Wann immer möglich hatte sie selbst bei der Renovierung Hand angelegt und mit Argusaugen die Fortschritte im Haus überwacht. Auf Auktionen und aus Privatverkäufen hatte sie geschmackvolle Möbel und Dekorationsgegenstände aus der Jugendstilzeit erworben und jedes neue Stück, sei es ein Tisch, eine Skulptur, ein Servierwagen oder Bild, fand seinen Platz neben den wenigen Gegenständen, die sie mit der Villa übernommen hatte, wie das alte Klavier im ersten Stock. Die Einrichtung des neuen Heimes hatte sie mit Freude erfüllt.

Seitdem waren drei Monate vergangen und endlich war alles fertig.

„Genauso habe ich es mir vorgestellt“, dachte Helen. Zufrieden und mit einem gewissen Stolz schaute sie sich im Salon um, ihr Blick fiel in den goldgerahmten Spiegel gegenüber.

„Du hast es geschafft“, sprach sie zu sich selbst und ihr Spiegelbild lächelte zurück. Ihr blondes Haar, zu einem nachlässigen Knoten geschlungen, leuchtete in der Sonne und die grünen Augen blitzten mit der Kristallschale vor dem Spiegel um die Wette.

Aus dem einstigen Heimkind unbekannter Herkunft war die erfolgreiche Frau geworden, die Helen immer hatte sein wollen. Und jetzt besaß sie auch das perfekte Zuhause.

„Heute werde ich zum ersten Mal hier schlafen“, dachte sie voller Vorfreude.

Mitten in der Nacht schrak sie auf, weil Oscar fauchte.

Der Kater sprang mit einem Grollen vom Bett und verkroch sich darunter, während ihr Herz und ihre Lunge miteinander um Platz in der Brust kämpften. Dann war das Haus wieder still.

Mondlicht fiel durch das Giebelfenster des Schlafzimmers, hob die Vorhänge und Möbel blass hervor. Aber große Teile des Raumes lagen im Schatten. Was hatte der Kater wahrgenommen?

Sie drückte den Schalter der Nachttischlampe. Die Birne leuchtete auf, knackte und erlosch.

Na, toll. Sie schlug die Decke zurück und glitt aus dem Bett.

„Hey Oscar, hast du mies geträumt? Ich hole uns eine neue Glühbirne“, sagte sie mehr zu sich selbst, um sich zu beruhigen. Es wurde abrupt finsterer im Zimmer, als sich eine Wolke vor den Mond schob.

Auf einmal hatte sie den Eindruck, beobachtet zu werden. Sie fixierte die Schatten, konnte aber niemanden entdecken. Das komische Gefühl blieb.

Und dann roch sie etwas - den Rauch einer brennenden Zigarre. Er schien unter der Tür hereinzuziehen. Helen erstarrte. Jemand war im Haus! Ihr Puls beschleunigte sich wieder. Mist! Das Handy lag unten in der Küche.

Sie schaute sich nach einer Waffe um, griff nach der Skulptur eines Frauenaktes. So leise wie möglich schlich sie zur Tür. Horchte hinaus. Die Bronzefigur lag schwer in ihrer Hand. Der Zigarrengeruch wurde stärker. Helen zog die Tür auf und linste in den dunklen Flur. Nichts. Aber von rechts vernahm sie das Knarren der Bodendielen, als ginge dort jemand entlang.

Es stellte ihr die Nackenhärchen auf, sie hielt den Atem an. Vorsichtig bewegte sie sich auf den Korridor, umfasste mit beiden Händen die Statue. Auch unter ihren verstohlenen Schritten knackte das Holz.

Der Zigarrengeruch war jetzt so intensiv, als stünde die rauchende Person neben ihr und plötzlich streifte sie ein frostiger Luftzug. Helen unterdrückte einen Aufschrei, auf ihren Armen bildete sich eine Gänsehaut. Die Tür zur Bibliothek war nur angelehnt, klappte leicht gegen den Rahmen. War in diesem Zimmer ein Fenster offen?

Helen war sich sicher, vor dem Schlafengehen alle Türen und Fenster kontrolliert und verschlossen zu haben. Sie stieß die Tür auf. Kalt war es hier und der Zigarrengestank überwältigend. Helen fröstelte, ihr Körper verkrampfte sich. Was war das für ein seltsames Leuchten? Sie kniff die Augen zusammen, sog dann scharf den Atem ein.

 Am Klavier saß die hellflimmernde, durchscheinende Gestalt einer Frau, die ihr den Rücken zuwandte. Sie trug ein hochgeschlossenes langes Kleid, das dunkle Haar aufgesteckt. Auf dem Klavier stand ein Aschenbecher, in dem eine Zigarre qualmte.

Nun wandte sich die Gestalt langsam zu ihr um, schwarze Höhlen von Augen brannten aus einem weißen Gesicht. Sie deutete mit der Hand auf das Instrument. Helen stand wie gelähmt, die Angst rann ihr wie elektrischer Strom das Rückgrat entlang.

Die geisterhafte Frau erhob sich, glitt mit ausgestreckten Händen auf sie zu. Ihre Lippen bewegten sich, als ob sie spräche, aber kein Laut erreichte Helens Gehör.

Die löste sich aus der Erstarrung und stieß einen erstickten Schrei aus, warf die Skulptur nach der Frau, rannte aus dem Zimmer ins gegenüberliegende Bad, wo sie hektisch die Tür abschloss und auf den Lichtschalter schlug. Das aufflammende Licht schmerzte in den Augen.

Sie keuchte, ihre Hände zitterten. Die Uhr auf der Kommode zeigte 23.45 Uhr.

Was - um Himmels Willen - war das gewesen? Folgte ihr diese ... diese Geisterfrau? Schwebte sie gleich mit erhobenen Armen herein?

Helen starrte auf die Tür. Lauschte.

Alles war ruhig, bis auf das Ticken der alten Standuhr auf dem Flur. Hier, im hellen Badezimmer, beruhigte sie sich und das Erlebte kam ihr mit einem Mal unwirklich vor. Hatte sie überreagiert? War sie nur überreizt und müde, weil sie in letzter Zeit immer bis spät in die Nacht gearbeitet hatte?

Sie verließ das Bad, schaltete das Licht an, betrat erneut die Bibliothek und betätigte auch dort den Lichtschalter.

Keine Geisterfrau. Kein Zigarrengeruch. Die Kälte war fort, die Vorhänge hingen unbewegt vor dem geschlossenen Fenster. Und auf dem Klavier befand sich auch kein qualmender Aschenbecher. Nur die Bronzefigur lag auf dem Teppich.

Helen schüttelte den Kopf über sich selbst, hob die Skulptur auf und stellte sie auf ein Regal.

„Ich lebe eindeutig zu lange allein“, murmelte sie. „Ich werde paranoid.“

Sie begab sich in die Küche, bereitete sich ein Glas warme Milch zu, wobei sie versuchte, das mulmige Gefühl abzuschütteln, das sie immer noch umfangen hielt. Wenn sie ausgeschlafen hatte, würde sie sofort Cassandra anrufen und ihr alles erzählen. Außerdem wollte sie die Freundin endlich einladen, ihr das fertige Haus zeigen.

Diesen angenehmen Gedanken festhaltend legte sich ins Bett und schlief traumlos bis in den späten Morgen.

Cassandra hatte ihren Besuch für den Nachmittag angekündigt. Somit hatte Helen Zeit für ein ausgiebiges Frühstück an ihrem Lieblingsplatz im Salon.

Beim Anziehen fiel ihr der leere Platz auf der Kommode auf, von der sie in der Nacht die Skulptur genommen hatte. Also machte sie sich auf in die Bibliothek. Die Bronzefigur stand auf dem Klavier. Helen stutzte. Hatte sie diese nicht auf das Regal gestellt?

Nachdenklich trat sie an das Instrument heran – und hielt inne, denn auf dem Deckel entdeckte sie zwei in den Staub geschriebene Worte: Schau hinein.

„Ich werde verrückt.“ Die Angst kroch wieder aus ihrem Magen empor und die Zuversicht fiel in sich zusammen.

Hatte sie das geschrieben und erinnerte sich nur nicht?

Schau hinein, las sie wieder. Automatisch befolgte Helen die Anweisung, klappte den Deckel auf und spähte in die schwarzen Winkel des Instruments. Nichts Ungewöhnliches war zu sehen, nur das Innere eines Klaviers, Saiten und Hämmerchen. Helen war froh, dass Cassandra bald eintreffen würde.

 
„Wow, meine Liebe, was für eine Hütte!“, rief Cassandra, als sie das Haus betrat. Die hochgewachsene, schwere Frau presste Helen fest an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann fuhr sie sich durch die rote Lockenmähne und schaute sich  um.

„Nobel, nobel. Wir trinken jetzt einen Kaffee, und dann will ich alles sehen.“

Cassandra war schon immer die lautere und forschere der beiden Freundinnen gewesen. Und es war genau das, was Helen im Moment brauchte: Eine bodenständige Person mit Humor, die sie beruhigte und Rat wusste. Denn inzwischen war sich Helen nicht mehr sicher, ob die seltsamen Dinge, die in ihrem Haus passierten, nur Einbildung waren.

Bei einem Becher Kaffee berichtete sie der Freundin, was sich seit Oscars Fauchen in der Nacht zugetragen hatte. Cassandra lauschte aufmerksam, griff sich immer wieder einen der kleinen Kuchen.

„Na, das ist ja mal 'ne gruselige Geschichte“, sagte sie mit vollem Mund, als Helen geendet hatte. Sie zwinkerte ihr zu. „Du willst an mir den Plot von deinem nächsten Roman testen, stimmt’s?“
Helen antwortete nicht, sie war den Tränen nahe. Durch das Erzählen hatte sie die Angst und Hilflosigkeit erneut durchlebt.

„Das ist doch nicht dein Ernst, oder?“, hakte Cassandra nach.

Helen nickte nur und flüsterte: „Weißt du, beide Möglichkeiten sind schrecklich. Wenn alles nur in meiner Fantasie stattfindet, werde ich wahrscheinlich verrückt. Aber wenn hier wirklich …“

Sie verstummte.

„Aber, aber, Süße!“ Cassandra tätschelte ihr den Arm und überlegte, wie sie helfen konnte. Einerlei, ob alles nur in Helens Einbildung passierte oder nicht, ihre Freundin hatte Angst und brauchte Unterstützung.

„Also, das klingt ja erst mal unglaublich, aber ich lass mich gerne überzeugen. Ich werde heute hier schlafen. Gib mir Zahnbürste und Decke, und dann soll diese Geistertussi mal kommen!“ Cassandra guckte gespielt grimmig im Zimmer herum und schüttelte die Fäuste wie ein Boxer in alle Richtungen. Trotz ihrer Verwirrtheit und Angst musste Helen lachen.

Schön, dass Cassie bei mir ist!, dachte sie.

Der Nachmittag verging wie im Flug. Nachdem Helen ihrer Freundin das ganze Haus gezeigt hatte und die in jedem Zimmer in übertriebene Entzückensschreie ausgebrochen war, brachen sie auf zu einem Spaziergang durch das Wohnviertel. In einem kleinen italienischen Restaurant aßen sie zu Abend und lachten über aktuellen Klatsch und gemeinsame Erinnerungen.

Auf dem Rückweg hakte sich Helen bei Cassandra unter. Es tat so gut, mit ihr zusammen zu sein. Nach der aufreibenden letzten Nacht und dem reichhaltigen Abendessen fühlte sich Helen schläfrig und wollte gleich zu Bett gehen. Als Cassandra darauf bestand, nicht im Gästezimmer, sondern mit in Helens breitem Bett zu schlafen, war sie einverstanden und froh über die Nähe.

Sie schlüpfte unter die Decke, und noch während Cassandra im Bad hantierte und recht falsch eine Operette trällerte, schlief sie ein.

Wieder schreckte Helen mitten in der Nacht hoch. Klavierspiel hallte durch den Flur herüber. Sie erkannte das Stück, es war „Tristesse“ von Chopin.

„Cassie, hörst du das …?“ Doch die andere Bettseite war leer. Wann hatte Cassandra Klavierspielen gelernt? Und warum spielte sie – Helen blickte auf die Uhr – nachts um 23.40 Uhr?

„Es ist dieselbe Zeit wie gestern“, ging es ihr durch den Kopf, dann wallte Wut auf die Freundin in ihr hoch. Sie hatte ihre Scham überwunden und Cassie alles erzählt, von dem Zigarrengeruch, der Frau am Klavier, der Furcht, verrückt zu werden bis hin zu der Uhrzeit. Wenn die sich gerade einen Spaß daraus machte, sie zu erschrecken, würde sie ihr aber die Meinung sagen!

Sie sprang aus dem Bett, stapfte hinüber zur Bibliothek und riss die Tür auf. Cassandra saß am Klavier, wandte ihr den Rücken zu, spielte jedoch nicht, die Hände lagen im Schoß. Die letzten Töne verklangen.

„Cassie“, sagte Helen und schritt langsam auf die Freundin zu.

Die Angesprochene reagierte nicht, verharrte weiter reglos.

„Hey, Schluss jetzt mit dem Unfug!“ Helens Stimme klang schrill in ihren eigenen Ohren. Langsam wandte sich Cassie um. Beim Anblick ihres Gesichts blieb Helen so abrupt stehen, als wäre sie gegen eine Wand geknallt. Es glich einer Maske, die Augen blickten absolut leer.

„Schau hinein und suche!“, sprach Cassandra mit fremder Stimme.

Helen keuchte, wich einige Schritte zurück, presste sich die Hand auf den Mund, um nicht laut aufzuschreien.

Oh mein Gott, diese Frau ist in ihr!

In diesem Moment veränderte sich die Miene der Freundin, sie blinzelte, wirkte verwirrt, dann nahm sie Helen endlich wahr.

„Was machen wir hier? Shit, ich glaub', ich hab' einen Filmriss.“

Vor Erleichterung stiegen Helen Tränen in die Augen. Das war wieder die Cassie, die sie kannte. Mit knappen Worten weihte sie die Freundin in die Ereignisse der letzten Minuten ein. Das war das erste Mal, dass sie die engste Vertraute ein paar Sekunden lang sprachlos erlebte.

„Abgefahren. Ich kann mich an nichts, an rein gar nichts, erinnern! Ich soll Klavier gespielt haben? Hab ich doch nie gelernt!“

An Schlaf war jetzt nicht mehr zu denken. Cassie wuchtete ihren Körper vom Hocker und begann, am Klavierdeckel herumzufummeln.

„Da habe ich schon reingeschaut, da ist nichts“, stellte Helen fest.

Doch Cassandra ließ sich nicht beirren. „Irgendetwas muss hier sein, wenn diese Geisterfrau dich wiederholt darauf hinweist. Auch durch mich - brrr, wie spooky! Komm, hilf mir suchen!“

Ihre Neugier wirkte ansteckend. Helen holte eine kleine Taschenlampe und leuchtete in das Klavier. Aber sie konnten nichts entdecken. Da rutschte ihr die Lampe aus der Hand und schepperte an den Hämmerchen vorbei hinein.

„Mist“, fluchte sie und reckte den Arm, um die Taschenlampe wieder herauszufischen.  Ihre tastenden Finger streiften einen Gegenstand, er steckte in einer geheimen Nische neben der Mechanik des Klaviers. „Da ist was!"

Aufgeregt bekam Helen das Päckchen zu fassen und zog es hervor. Es war in Öltuch eingeschlagen.

Das sollten wir finden“, hauchte Cassandra.

Behutsam faltete Helen das Tuch auf und zum Vorschein kam ein kleines, in Leder gebundenes Buch – Tagebuch von Margaret Brown, 1912 - stand in Schnörkelschrift auf der Vorderseite.

„Das Tagebuch der unsinkbaren Molly! Es ist bestimmt ein Vermögen wert!“ Cassandra strich mit Ehrfurcht darüber.

„Hast du das Datum gesehen?“, flüsterte Helen. „1912 ist die Titanic gesunken! Vielleicht hat sie es mit an Bord gehabt!“

Vor Neugier fast platzend setzten sich die Freundinnen nebeneinander und Helen schlug die erste Seite auf.
 

 


9. März 1912 Orientexpress, Fahrt von Paris nach Konstantinopel

Paris war die letzte Station unserer Europareise. Seit heute Morgen sitzen wir im Orientexpress, Endstation Konstantinopel. Gestern habe ich dieses Buch in einem piekfeinen Schreibwarengeschäft erstanden, weil der Einband aus Kalbsleder so weich war. Wollte es Helen als Tagebuch schenken, aber meine Tochter hält sich mit ihren 23 Jahren wohl zu alt dafür und findet die Idee kindisch. Dann nutze ich es eben selbst.

Nun, Paris ist eine unglaubliche Stadt. Die vielen noblen Geschäfte auf den Champs Élysées, Helen und ich waren in fast allen! Haben einen Haufen Geld für Schmuck, Handschuhe und dergleichen ausgegeben. Und elegante Hüte haben wir gekauft, trés chic et extraordinaire, da werden die Society-Damen in Denver aber Augen machen!


11. März 1912 im Orientexpress kurz vor Belgrad/ Rumänien

Heute Nacht habe ich wieder von James geträumt. Habe die Trennung von ihm immer noch nicht verwunden. Er will die Scheidung, ich aber ich nicht!
„Unüberbrückbare Differenzen in Lebensauffassung und – haltung führten zur Trennung der prominenten Eheleute James und Margaret „Molly“ Brown, einem der wohlhabendsten Paare des Bundesstaates Colorado. Sie seien einfach zu verschieden, gab James Brown unserer Zeitung gegenüber an.“

Das hatte die Denver Republican vor einem Jahr geschrieben, wortwörtlich, und ich kann noch immer darüber lachen.

Es stimmt schon, dass wir uns auseinandergelebt haben und ihn meine bestimmte, vorlaute Art manchmal nervte. Aber dass er mich für eine 21-jährige Revuetänzerin verlassen hat, weiß kaum einer. Wenigstens hat er mir eine ordentliche Abfindung gezahlt, ich habe sein Imperium schließlich mit aufgebaut.

Dennoch - ich vermisse den Scheißkerl. Jawohl, SCHEIßKERL, ich schreibe es extra noch einmal GROß, falls die feinen englischen Ladys, die mich hier im Zugabteil die ganze Zeit über pikiert beäugen,  einen Blick auf mein Geschreibsel riskieren. Sollen sie doch ihre Nasen rümpfen.

„Neureiche ordinäre Amerikanerin,“ habe ich eine vorhin flüstern gehört. Und die ständigen Blicke, die sie getauscht haben! Weil sie ohnehin schlecht von mir denken, bin ich auf den Gang raus und habe am offenen Fenster eine Zigarre gepafft. Danach haben sie mich vollkommen ignoriert. Mir recht. Aber ich fürchte, Helen schämt sich immer ein wenig für ihre Mutter.

 


13. März 1912 im Grand Hotel Kroecker, Konstantinopel

Sind vor einer Stunde vom Bahnhof hierher zum Hotel kutschiert worden. Helen ist müde und hat sich hingelegt. Auch ich bin froh, wieder in einem richtigen Bett liegen zu können. Aber noch bin ich nicht müde.

Was für eine bunte Metropole diese Stadt ist! Ich sitze auf dem Balkon unseres Zimmers und rauche gleich eine schöne Zigarre. Wundervoller Ausblick! Vor dem Abendhimmel zeichnen sich die vielen Minarette der Moscheen ab und die Muezzin rufen mit ihrem klagenden Geschrei die Gläubigen.

Morgen werden Helen und ich mit einem Führer die Stadt erkunden.

21. März 1912 in Kairo / Ägypten

Warm ist es hier. Nein, heiß wie in einem Backofen. Schon morgens, wenn wir zum Frühstückssaal gehen. Ab Mittag muss ich fast jede Stunde ein neues Kleid anziehen und Minuten später klebt es wieder am Körper. Ohne Sonnenschirm gehen wir nirgendwo hin.

Würde auch gerne in so einem Kaftan wie die Ägypter herumlaufen, aber das schickt sich nicht. Wäre mir zwar egal, was die Leute denken, aber ich kann Helen auch nicht ständig in Verlegenheit bringen.

Wir haben heute Colonel Astor und seine junge Frau Madeleine kennengelernt. Sie befinden sich auf einer verlängerten Hochzeitsreise. Ziemliche Snobs, nicht mein Fall, aber Helen findet sie unterhaltsam und versteht sich gut mit ihnen. In drei Tagen werden wir gemeinsam die Nilkreuzfahrt antreten.


26. März 1912 auf dem Nil, bei Edfu

Abends stehe ich gerne an Deck, dann weht immer eine leichte Brise, wird die Hitze erträglich.

Der Ausblick auf die vorüberziehenden Ufer ist fantastisch, der ganze Horizont leuchtet in Rosa-Orange-Tönen. Konnte die ägyptischen Frauen in der Dämmerung singen hören.

Das Personal auf diesem Schiff ist flink und zuvorkommend, aber leider hat mich einer der Angestellten gestern bestohlen, als wir einen Landgang zu den Tempeln von Karnak unternahmen. Ist wohl beim Reinigen meiner Kabine in Versuchung geraten und hat zwei Ringe eingesteckt. Dachte scheinbar, bei den Mengen an Schmuck würde es nicht auffallen.

Er hat sich getäuscht. Ich weiß über ALLES, was mir gehört Bescheid. Habe ein Riesentheater veranstaltet, bis der Schuldige ausfindig gemacht wurde.

Der Kapitän brachte mir unter tausend Entschuldigungen die Ringe zurück. Ich konnte ihn überreden, den Boy nicht zu entlassen, er sollte seine Lektion gelernt haben. Weiß selber noch, wie es ist, arm zu sein.


30. März 1912 wieder zurück in Kairo

Erhielt heute ein Telegramm von Lawrence. Dachte, mein Herz bleibt stehen. Mein Sohn schrieb mir, dass unser kleiner Lawrence Jr., mein süßer Enkel, schwer erkrankt ist. Der Hausarzt befürchtet, er könne es nicht überleben. Wir müssen zu ihnen.

Habe deshalb heute die nächstmögliche Reisegelegenheit in die Staaten gebucht. Morgen reisen wir ab nach Cherbourg, Frankreich, und von dort weiter nach Southampton in England. Leider können wir erst am 10. April dort ablegen.

Helen bestand auf Erster Klasse, darum haben wir die Überfahrt auf diesem neuen Luxusliner, der RMS Titanic, gebucht. Die Astors werden uns begleiten. Hoffentlich wird Lawrence jr. wieder gesund. Bitte, Gott, ich bitte dich: lass meinen Enkel nicht sterben!


3. April 1912

Ich kann nur noch an meinen Enkel denken. Habe heute Nacht schlimme Albträume gehabt. Auch von Lawrence jr. Begräbnis, schrecklich! Und seit Langem quälte mich wieder ein Albtraum von meinem ersten Baby. Es rief nach mir. Das ist etwas, was niemand außer James und mir weiß: Ich hatte vor unserer Ehe ein Kind, musste es damals zur Adoption freigegeben, weil ich so jung und bitter arm war, den ganzen Tag schuftete. Nachdem wir Jahre später zu Wohlstand gelangten, machte ich mich auf die Suche nach dem kleinen Mädchen. Aber da der Name der Adoptiveltern unbekannt ist, war es bisher ein aussichtsloses Unterfangen.

Oh, ich mache mir so große Sorgen, weil ich nichts mehr von Zuhause höre. In zwei Tagen werden wir in Frankreich ankommen.


7. April 1912 Southampton, England

Helen wird doch nicht mit mir in die Staaten reisen. Sie will lieber eine Freundin in London besuchen.

Vermute, sie hat Angst, was sie zu Hause erwarten könnte. Nun, dann werde ich allein mit dem Colonel und seiner Frau auf der RMS Titanic einchecken. Bin trotz aller Sorge sehr gespannt auf den Dampfer, es soll das größte, sicherste und luxuriöseste Schiff der Welt sein.


10. April 1912, auf dem Weg in die Heimat

Um 12.00 Uhr haben wir abgelegt. Die Sonne strahlte vom Himmel und tausende Menschen standen am Kai und haben gewunken.

Ich weiß gar nicht, wohin die Massen von Passagieren in dem Liner verschwunden sind.

Der Anblick der RMS Titanic ist überwältigend. Das Schiff ist gigantisch, ausgestattet mit jedem erdenklichen Luxus. Es gibt sogar einen beheizten Pool, ein türkisches Bad, einen Squashplatz und einen Ballsaal mit Kronleuchtern.

Mittags hat ein Streicher-Quartett beim Essen gespielt. Das À la carte - Menue war ausgezeichnet, der Service vorzüglich.

Ich sitze mit den Astors an einem Tisch. Leider auch mit Walter Douglas, Besitzer und Gründer der Douglas Starchworks, und seiner Gattin Mahala, einer arroganten und dummen Person.

Als ich beim Dessert erzählte, dass ich in Denver eine Organisation gegründet habe, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt, hob sie nur verächtlich die gezupften Augenbrauen und spielte mit ihrer Perlenkette.

„Wozu brauchen wir Frauen mehr Rechte? Ich habe alles, was ich brauche.“ Dämliche Kuh.

Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Nach dem Essen habe ich im Vorbeigehen gehört, wie ihr Mann beim Steward einen anderen Tisch verlangte, was der leider wegen der Auslastung ablehnte. Schade.


12. April 1912

Immer noch keine Nachricht von zu Hause! Die Sorge frisst an mir, muss mich ablenken.

Eine interessante Liebschaft bahnt sich an unserem Tisch an. Habe den jungen Tennisspieler Karl Howell Behr näher unter die Lupe genommen. Hat bisher nicht viel gesprochen, aber die Blicke, die er seiner Tischnachbarin Karen Newsom zuwirft, verraten alles. Er ist bis über beide Ohren in sie verliebt. Karens Mutter gefällt das gar nicht. Sie ist eine vertrocknete, alte Pflaume und der junge Behr ist ihr wahrscheinlich nicht gut genug für eine standesgemäße Ehe. Karen ist aber auch ein ausgesprochen hübsches Ding, erst neunzehn. Sie scheint Karl auch zu mögen. Mal sehen, ob ich dem Paar ein bisschen Schützenhilfe geben kann.

Mr. und Mrs. Douglas schneiden mich, wo sie nur können und versuchen nicht mal zu verbergen, wie sehr sie mich verachten. Die Astors sind seitdem auch ein wenig auf Distanz gegangen.
Hab ja gewusst, dass sie Snobs sind.


14. April 1912 irgendwo im Nordatlantik

Habe heute die Engländerin Edith Bowerman Chibnall kennengelernt. Sie ist auch eine Frauenrechtlerin und Mitglied der Women’s Social and Political Union in Manchester. Wir haben uns angeregt unterhalten, aber rasch musste ich feststellen, dass sie leider eine sehr unsympathische und neidische Person ist. Von kleinlichem Charakter, das mag ich nicht.

Aber gute Nachrichten von Karl und Karen: Sie sind wirklich ein Paar! Hab die beiden gestern Abend zufällig auf dem Deck entdeckt, wo sie sich in der Kälte heimlich umarmten und küssten. Ich wünsche ihnen nur das Beste.

Freue mich auf meine Familie in Denver und hoffe und bete inbrünstig, dass es Lawrence jr. besser geht. In Gedanken bin ich oft bei ihm. Und bei meinem ersten Kind, das inzwischen dreißig Jahre alt sein muss, aber dessen Namen ich nicht einmal kenne. Werde die Suche nach ihm wieder aufnehmen, wenn ich daheim bin.

Möge Gott seine schützende Hand über meine Familie halten.

 


Helen blätterte die Seite um, gefangen von dem Tagebuch. Aber die nächsten Seiten waren leer. Enttäuschung machte sich in ihr breit.

„Die Titanic war am 14. April, nachts gegen zwölf mit dem Eisberg kollidiert“, erklärte Cassandra.

„Aber Molly muss das Tagebuch mit in das Rettungsboot genommen und dann irgendwann hier in dem Klavier versteckt haben.“ Helen sah nachdenklich aus. „Ich wünschte, wir würden erfahren, wie es weiterging.“

Cassandra nahm ihr behutsam das Buch aus der Hand und blätterte noch ein Mal darin.

„Da, mein Gott, schau! Sie hat einfach mittendrin weitergeschrieben!“

Beide Frauen beugten sich über das Buch und lasen gespannt den weiteren Eintrag in Mollys Tagebuch.

 

 

10. Mai 1912 Denver

Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, die Ereignisse dieser grauenhaften Nacht, diese furchtbare Tragödie aufzuschreiben. Aber ich muss es. Es soll alles aus meinem Kopf heraus und in diesem Buch verschlossen werden. Dann wird es mir hoffentlich besser gehen und die Albträume, die mich immer wieder heimsuchen, aufhören.

Nachdem ich am Abend des 14. April mit meinen Tischgenossen diniert hatte, zog ich mich in den Rauchersalon zurück, um eine Zigarre zu rauchen. Ich war dort nicht gern gesehen, denn in diesem Clubzimmer hielten sich nur Männer auf. Doch das war mir egal. Es hat mir immer schon Spaß gemacht, an den Grundfesten der Männerdomänen zu rütteln.

Etwas später setzte ich mich zum Spielen an einen der Tische. Ich verlor einiges Geld, aber die Summe tat nicht weh. Um meinen Kopf klar zu bekommen, unternahm ich vor dem Schlafengehen noch einen Spaziergang über das nächtliche Deck; die Luft war eisig, der Atem bildete Wölkchen vor dem Mund, der Himmel war wolkenlos und sternenklar. 

Kurz vor 23 Uhr begab ich mich in meine Kabine und legte mich zu Bett.

Später, etwa um 23.30 Uhr, sei erst der Dunst aufgezogen, sagte mir jemand vor kurzem. Gegen 23.40 Uhr - ich las gerade in einem Buch - kollidierte die Titanic mit dem Eisberg. Wir Passagiere haben davon kaum etwas mitbekommen, höchstens ein leichtes Erzittern des Rumpfes und das kaum merkliche Beidrehen des Dampfers. Aber die Besatzung hatte es natürlich bemerkt.
Irgendwo in der Ferne hörte ich eine Glocke drei Mal schlagen, konnte dieses Läuten aber nicht als einen Alarm einordnen, dachte mir nichts dabei.

Um kurz nach zwölf kam ein Steward gelaufen, klopfte an alle Türen und bat darum, dass wir sofort an Deck kommen und uns dort Rettungswesten anziehen sollten. Näheres sagte er nicht, weil er weiter von Tür zu Tür lief, um die Menschen zu wecken. Ich war sofort aus dem Bett und kleidete mich an.

Andere jedoch, die aus den Türen der Erste-Klasse-Kabinen auf unseren Gang guckten, schlossen diese einfach wieder oder begannen, wütend mit dem völlig überforderten Steward zu diskutieren. Es waren dieselben Leute, die es später oben an Deck ablehnten, die Rettungswesten anzulegen.

Rasch packte ich die für mich wichtigsten Dinge ein. Dieses Buch lag zufälligerweise schon in meiner Handtasche, sonst wäre es wohl mit der Titanic versunken.

Es war furchtbar. Zuerst noch schlenderten viele kopfschüttelnd und verärgert hinaus auf Deck, auf dem sich nach und nach alle versammelten, aber als sich das Schiff dann immer mehr zur Seite zu senken begann und die lauten, drohenden Geräusche brechenden Stahls aus dem Schiffsrumpf nach oben drangen, breitete sich Angst aus. Ich sah eine Gruppe junger Mädchen in Panik ausbrechen, sie rannten völlig aufgelöst und kopflos wieder in das Schiff hinein. So rasch ich vermochte, eilte ich hinter ihnen her und führte sie zurück auf das Deck, wo man ihnen Rettungswesten anlegte.

Die Offiziere versuchten, uns Regeln und Richtlinien für die Evakuierung zu erklären, doch einige von ihnen wussten selbst nicht so recht, was sie sprachen, und die meisten Menschen hörten ihnen auch gar nicht zu. Ich trieb die Leute an, endlich in die Rettungsboote zu steigen und den Anweisungen des Offiziers Folge zu leisten, doch kaum einer hörte auf ihn oder mich.

Sie diskutierten darüber, was sie noch aus ihren Kabinen holen wollten und wer nun mit wem in ein Boot steigen solle. Oberste Anweisung war: Frauen und Kinder zuerst in die Rettungsboote.

Der zweite Offizier, Charles Lightoller, legte den Befehl wohl noch etwas schärfer aus: „Männer auf keinen Fall“ schien sein Motto zu sein, selbst wenn dadurch ein nicht einmal halb besetztes Boot zu Wasser gelassen wurde, weil keine weitere Frau bereit war, die Titanic zu verlassen.

Eine Mutter hatte sogar Mühe, ihren 13-jährigen Sohn zu sich in ein Rettungsboot zu nehmen, da der Offizier diesen bereits als Mann ansah. Ich diskutierte so lange mit ihm - drohte sogar mit meinen Beziehungen - bis er den Jungen endlich zu seiner Mutter in das Boot steigen ließ.

Viele Frauen kreischten vor Angst oder hatten ihre Kinder im Gedränge auf Deck verloren.

Immer wieder wollte der zweite Offizier mich in ein Rettungsboot zwingen, doch jedes Mal sah ich eine neue Situation, in der ich helfen oder eingreifen musste.

Erst gegen 1 Uhr stieg ich mit 22 anderen Frauen aus der Ersten Klasse in ein Rettungsboot. Eines der letzten.

Catherine Candee, die Tochter von Fifth Avenue-Gründer Andrew Saks, lag weinend in meinem Arm, als unser Boot auf den eiskalten Wellen schaukelte. Wir froren erbärmlich. 

Nun blieb uns nur noch übrig, von unserer „Nussschale“ aus mit anzusehen, wie Hunderte von Menschen, die noch an Bord der Titanic standen, lärmten und um Hilfe schrien. Aber kein einziges Rettungsboot war mehr für sie da.

Als der riesige Dampfer endgültig in der Tiefe versank und diese armen Menschen mit sich riss, hörten die Schreie aber noch lange nicht auf.

Ich forderte den Zweiten Offizier auf, umgehend zur Unglücksstelle zurückzurudern und noch Menschen aufzunehmen, denn wir hatten noch Platz im Boot.

Doch er beharrte darauf, dies nicht zu tun. Er hatte Angst, das Boot könne durch den Ansturm der Ertrinkenden kentern. Auch wenn meine Vernunft mir sagte, dass er Recht hatte, legte ich mich mit ihm an, konnte mich jedoch nicht durchsetzen. Ja, seine Anweisung war die Richtige, aber ich werde mir Zeit meines Lebens Vorwürfe machen, dass ich ihn nicht überzeugen und wenigstens noch ein paar Menschen retten konnte.

Nie werde ich sie vergessen, diese verzweifelten, qualvollen Rufe, die mit dem Verstreichen der Zeit immer schwächer und hilfloser wurden. Das unsägliche Leid und meine Verurteilung zur Hilf- und Tatenlosigkeit haben sich schwarz in meine Seele gebrannt.

Das Klagen dieser bedauernswerten Männer, Frauen und Kinder, die im Eiswasser trieben und irgendwann vor Kälte gelähmt darin versanken.

Auch ich weinte nun gemeinsam mit der in meinen Armen zitternden Catherine Candee um die armen Seelen, die der Tod da draußen zu Hunderten in die kalte Tiefe hinabzog.

Als endlich die vom Notruf alarmierte RMS Carpathia auftauchte, wurde der Himmel bereits hell.

Die durchgefrorenen Leute aus den Rettungsbooten wurden der Reihe nach aufgenommen, in Decken gehüllt und bekamen heiße Getränke. Der Schiffsarzt kümmerte sich um uns.
Die Hilfe und das Engagement der Crew waren vorbildlich. Sie konnten nichts dafür, für die vielen Ertrunkenen zu spät gekommen zu sein. Sie waren ganze vier Fahrtstunden von der RMS Titanic entfernt gewesen, als der Notruf sie erreicht hatte.

Doch der Anblick dieser vielen, ach so vielen Leichen auf dem Wasser … nie werde ich den vergessen können. Später habe ich gehört, dass beim Titanic-Unglück mehr als die Hälfte der 2200 an Bord befindlichen Personen ums Leben kamen. Ein trauriger Verlust. Gott sei ihren Seelen gnädig.

Am 29. Mai werde ich dem Kapitän der RMS Carpathia, Arthur Henry Rostron, eine Erinnerungstrophäe überreichen, die ich zusammen mit Richter Frederic Kimber Seward, ebenfalls ein Überlebender, in Auftrag gegeben habe. Mr. Roston und seiner Crew haben wir unser Leben zu verdanken.

Froh bin ich, dass meine Tochter Helen nicht mit auf dem Schiff war. Allein die Vorstellung, sie wäre vermisst oder vor meinen Augen ertrunken, treibt mir Tränen in die Augen.

Dankbar bin ich auch, dass Lawrence jr. wieder gesund ist. Ihn nach meiner Heimkehr in die Arme schließen zu können, war das größte Geschenk. Und vielleicht werde ich, wenn Gott will, endlich auch mein erstes Kind wiederfinden, dass ich wegen der damaligen Not fortgab, was ich zutiefst bereue.

Ich habe mein Leben von nun ab dem Guten, dem wirklich Wichtigem gewidmet. Dem, was uns Menschen eigentlich ausmachen sollte. Ich werde mich am Bau von Schulen für benachteiligte Kinder beteiligen und andere soziale Projekte finanziell unterstützen.

Und mich weiterhin für die Rechte der Frauen einsetzen, und dies stärker als je zuvor.

Denn mir ist noch bildhaft in Erinnerung, wie hilflos, zögerlich und ängstlich die meisten Frauen gewesen waren, wie hysterisch und wenig klug sich viele bei dieser Tragödie benahmen. Das soll sich ändern.

Ich werde aus diesem Unglück alle Kraft ziehen, die noch in mir steckt und sie in den Dienst für die gute Sache stellen, so wahr ich Molly Brown heiße.

Möge Gott mich und die meinen auf diesem Weg behüten.

Eine Weile saßen Helen und Cassandra stumm nebeneinander und betrachteten das vergilbte Foto, das Molly aus einer Zeitung ausgeschnitten und eingeklebt hatte. Es zeigte, wie sie dem Kapitän der RMS Carpathia einen Pokal überreichte.

Beide Frauen hingen ihren eigenen Gedanken nach.

Helen brach das Schweigen. „Was für eine mutige und starke Frau sie war“, sagte sie. „Heutzutage denkt man gar nicht mehr daran, was Frauen damals alles verboten oder versagt war und wie sehr sie sich den Männern unterordnen mussten.“

Cassandra nickte. „Ich werde über sie recherchieren, ihr Leben interessiert mich. Was mich ebenfalls interessiert, ist, ob sie jetzt wohl noch weiter in deinem Haus herumspukt. Das war unglaublich!“

„Wer weiß?" Helen schaute versonnen auf das Klavier. Mit ihm hatte alles begonnen.

„Ob sie wohl auch ihr erstes Baby wiedergefunden hat?", riss Cassie sie aus den Grübeleien. „Wie traurig, dass sie es wegen der Armut zur Adoption freigab. Das ist wohl eine Information, die außer uns niemand besitzt."

In diesem Moment streifte ein leichter Hauch Helens Gesicht, wie ein warmer Atem. Sie hob die Hand an die Wange. Und ein seltsamer Gedanke stieg in ihr auf. Könnte es sein, dass ich ...

Nein, das war unrealistisch. Oder ...? Sie wusste kaum etwas ihre Herkunft, ihre Vorfahren. Dann hatte sie dieses Haus entdeckt, als hätte es sie gerufen ...

Molly, dachte sie. Ich habe keine Angst mehr vor dir. Ich verspreche, ich werde dein Vermächtnis in Ehren halten. Du bist in diesem Haus immer willkommen ...

 

Impressum

Texte: Rechte allein bei Ursula Kollasch
Bildmaterialien: pixabay
Tag der Veröffentlichung: 15.04.2012

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Mein Beitrag zum "Titanic" - Wettbewerb 2012 Platz 3

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