Cover

Widmung

 

 

 

 

Für alle, die vom Leben auf die Probe gestellt werden und
    trotzdem nie aufgeben … 

PROLOG

In ihrem Zimmer brannte Licht. Schwach drang es nach aussen, zerstreute sich im Nebel und streckte seine goldenen Finger nach ihm aus. Ein Schimmer huschte durch seine schwarzen Haare. Darian tauchte hinter einer Fichte ab, bevor die Wärme ihn für sich gewinnen konnte – bevor er etwas Dummes tat. Seine Hand ballte sich zur Faust.

Er hatte sich geschworen, nicht mehr herzukommen, Ellen nicht länger zu folgen. Doch jede Minute ohne sie war eine Minute voller Angst und Beklemmung. Er fand keine Ruhe, solange er nicht wusste, dass sie alleine war.

Das Licht ging aus. Die plötzliche Dunkelheit riss ein altbekanntes Loch in seinen Magen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er die Luft angehalten hatte. Beim Ausatmen formte die Kälte sie zu flüchtigen Wolken.

Er verschwand im Wald. Seine Schritte beschleunigten sich, je tiefer er in das Unterholz vordrang. Der Waldabschnitt gehörte zu den gefährlichsten Plätzen in der Umgebung, jedenfalls behauptete das ein entsprechender Reiseführer. Er wusste es besser. Jeder, der länger als ein Jahr hier lebte, tat das.

Mit einem Mal sah er sich wieder auf der Wiese neben der Burgruine stehen. Ein Jahr war das her. Er spürte die laue Sommerbrise auf seiner Haut und Ellens Hand, die übermütig nach seiner fasste. Die untergehende Sonne verwandelte ihre Augen in Gold, und der Wind zerrte an ihrem Sommerkleid, als wollte er sie von etwas abhalten. Mit dem Kopf im Nacken beobachtete sie den Flug des roten Drachens. Sein Blick hing an ihrem Gesicht, das porzellanhaft und perfekt war. Er hätte alles dafür gegeben, um es noch einmal aus der Nähe zu sehen und all die Dinge, die er ihr seither angetan hatte, ungeschehen zu machen – die Trennung vor einem Jahr, die Explosion vor zwei Monaten, sein Verhalten im Hier und Jetzt. Aber Ellen durfte nichts über seine Beweggründe erfahren.

Niemand durfte das.

EINS

Im Oktober

 

Der Zug kam ins Rollen. Benjamin Peters drehte seinen Kopf zum See. Die Gleise schmiegten sich mit jedem Meter näher an das Ufer. Auf der Höhe des Dorfes Richterswil würden sie direkt am Wasser liegen. Ben wusste das, weil Tante Claudia ständig davon schwärmte.

»Ihr müsst mich endlich einmal in der Schweiz besuchen. Allein die Hinfahrt lohnt sich!«

Ben hatte ihren Worten nichts entgegenzusetzen. Im Schein der herbstlichen Morgensonne glänzte der Zürichsee wie ein Meer aus Gold. Trotzdem wünschte er sich gerade überall zu sein, nur nicht hier. Doch seine Mutter hatte die Spielregeln klar definiert: Verbringe einige Zeit bei Tante Claudia, und ich komme für deinen Führerschein auf. Ben war siebzehn und knapper bei Kasse als Neueltern zu Weihnachten. Vor vier Wochen hatte er seine Ausbildung als Kfz-Mechaniker abgebrochen, auf die Unterstützung seiner Mutter war er folglich mehr als angewiesen. Davon abgesehen würde sich Claudia bestimmt über seinen Besuch freuen. Andererseits war Stress bereits vorprogrammiert: Die harmoniebedürftige Tante und der scharfzüngige Neffe gerieten sich ständig in die Haare.

Seufzend sank er in den Sitz hinein und schloss die Augen. Am Vorabend hatte er noch zusammen mit seinen Freunden am Kleinhesseloher See in München Fussball gespielt. Kurz darauf war er im Fernbus Richtung Schweiz gesessen. Jetzt fuhr er mit der Bahn noch tiefer in die Pampa hinein. »Der Zürichsee ist eine Perle«, hörte er Claudia flöten. Spass klang anders.

 

Claudia holte ihn am Bahnhof ab. Es gab nur zwei Gleise, dahinter lag der See. Das Laub tanzte spiralförmig auf das Wasser hinaus. Der Wind ging so heftig, dass Ben beim Aussteigen fast vornüber fiel. Missmutig zog er seine Daunenjacke enger um die Schultern. Das Wetter ruinierte seine Frisur, und wahrscheinlich sah er jetzt aus wie frisch vom Blitz getroffen.

Auch in Claudias toupierten blondierten Haaren hatte sich ein Eichenblatt verfangen. Sie entfernte es mit einem verlegenen Lächeln und rückte die Sonnenbrille auf dem Kopf wieder zurecht. An ihrer rechten Hand blitzte ein Goldring auf. Sie trägt ihn immer noch. Ben versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er auf seine Tante zuging und sie in eine Umarmung schloss. Wie immer hatte er Angst, ihr die Knochen zu brechen. Die vierzigjährige Claudia war klein und dünn wie ein Streichholz, was mütterlicherseits in der Familie lag. Ben war froh, mehr nach seinem Vater zu kommen. Von seinen erbärmlich dünnen Beinen einmal abgesehen, ging er beinahe als sportlich durch, auch seine ein Meter vierundsiebzig muteten neben Claudia riesenhaft an. Einzig die braunen Rehaugen entlarvten ihre Verwandtschaft auf Anhieb.

Sie entfernten sich in Claudias rotem Mini Cooper S vom Bahnhof am See. Der Strassensteigung begegnete das Auto mit einem zufriedenen Schnurren.

Claudia lehnte sich mit dem Ellbogen gegen das Seitenfenster und steuerte den Wagen lässig mit einer Hand. »Nelly hat ihr Kind gekriegt, eine Frühgeburt – und eine absolute Katastrophe. Wegen ihr musste ich meine Ferien absagen.« Sie arbeitete im Verkaufsinnendienst eines Kosmetikunternehmens.

Ben rümpfte die Nase, als hätte er ihr aufdringliches Parfüm inhaliert. »Heisst das, du musst in den kommenden Tagen arbeiten?«

»Ich habe wie eine Irre um die Ferien gebettelt, aber keine Chance. Ohne Nelly sind wir nur noch zu zweit in der Abteilung, und einer allein kann die Aufträge nicht abwickeln. Den Stress der kommenden Wochen will ich mir gar nicht ausmalen.« Sie berührte sich theatralisch an der Stirn. Dann suchte sie seinen Blick. »Du bist doch nicht sauer, oder?« Sie klang besorgt, also bemühte er sich um ein Lächeln.

»Natürlich nicht. Ich bin mir sicher, dass ich mir hier eine schöne Zeit machen kann.«

»Bestimmt! Ich wohne schliesslich nicht am Arsch der Welt. Mit der Bahn bist du in zehn Minuten wieder am See. Wie schnell du von dort aus in Zürich bist, hast du bei der Anreise gesehen.«

Ben schwieg die Sache aus. Der Preis für das Bahnticket lag ihm immer noch schwer im Magen, und er bezweifelte, dass Claudia ihm solche Ausflüge spendieren würde. Selbst wenn seine Tante gern etwas anderes vermittelte: Sie war alles andere als reich. Zwar trug sie ständig High Heels mit verdächtig roter Sohle und Sonnenbrillen, die mehr Logo als Glas aufwiesen, doch Ben wusste von seiner Mutter, dass sie jeweils monatelang für diese Anschaffungen sparte. Es war eine Eigenart, die sie sich nach Onkel Kevins Tod angewöhnt hatte. Wenigstens versank sie so nicht in Selbstmitleid.

Er wandte sich von ihr ab und schaute aus dem Autofenster. Die Häuser wurden weniger, die Wiesen satter. Sie entfernten sich immer weiter vom See. Auf seine Stirn traten Furchen. »Ich dachte, du wohnst in Richterswil?«

»Nicht mehr. Ich bin umgezogen. Die alte Wohnung war zu gross für mich allein, und ...« Ihre Stimme brach. Ben wusste, dass sie jetzt an Onkel Kevin dachte. »Jedenfalls wohne ich jetzt oben auf dem Hügel, ganz in der Nähe des Hüttnersees.«

Sie erreichten die besagte Ebene. Eine lang gezogene Landstrasse und eine Kuhweide später kamen fünf lachsfarbene Wohnblöcke in Sicht. Die Geschwindigkeit war auf sechzig Stundenkilometer beschränkt, Claudia bretterte mit siebzig weiter.

            In einer Rechtskurve schoss ein Schatten über die Strasse. Er tauchte so plötzlich auf, dass Claudia aufschrie und bei vollem Tempo auf die Klötze ging. Der Mini quietschte und schüttelte seine Insassen durch. Bens Herz blieb vor Schreck fast stehen.

            »Himmel noch mal!« Claudia strich sich fluchend die nach vorn gefallenen Haare aus der Stirn. Sie liess das Seitenfenster herunter und fuchtelte nach einem Jungen, der Sekunden zuvor auf die Strasse hinausgesprungen war. »Ich sollte dich anzeigen!«, schrie sie ihm nach. Der Angesprochene reagierte nicht und verschwand im Wald.

Ben hielt sich immer noch die Brust. Er hatte nicht viel von dem Jungen gesehen, nur dass er dunkelhaarig und gross gewesen war – sehr gross.

Beim Weiterfahren blitzten Claudias Augen zornig, aber da war noch eine andere Regung. Ben schrumpfte in sich zusammen. »Kanntest du ihn?«, flüsterte er.

Das ängstliche Flackern in Claudias Pupillen intensivierte sich. »Nein. Also doch, ja.« In ihrem Kinn zuckte ein Muskel. »Das war Darian Capriati. Er ist kriminell und besessen von der Tochter meiner Ex-Nachbarn. Keine Ahnung, was er hier oben will.« Sie knirschte mit den Zähnen.

Zaghaft löste Ben seine Hand von der Brust. Sein Herz hämmerte immer noch wild dagegen. »Die Tochter deiner Ex-Nachbarn scheint hübsch zu sein«, frotzelte er, um die Stimmung aufzuheitern.

Aber Claudia schielte ihn vorwurfsvoll von der Seite an. »Schlag dir das gleich wieder aus dem Kopf, Benji. Deine Mutter bringt mich um, wenn sie noch jemanden an die Schweiz verliert.«

 

Zehn Minuten später erreichten sie Claudias ebenerdige Dreieinhalbzimmerwohnung. Bens Mund öffnete sich speerangelweit. Es sah aus wie in einer Möbelausstellung für angehende Prinzessinnen. Alles war in zarten Pastelltönen gehalten, verschnörkelt und mädchenhaft süss. Auf jeder freien Fläche standen Chrysanthemen in den saisonalen Farben Rot, Orange und Gelb. Im Garten vor der breiten Fensterfront entdeckte Ben ein Meer aus Kürbissen. Sogar eine lachende Vogelscheuche steckte in der Wiese.

Der Pastelltraum setzte sich im Gästezimmer fort, wo ein aufblasbares Bett für Ben bereitstand. Auf der Decke lagen eine Pralinenschachtel und eine Karte mit farbigem Willkommensaufdruck. Es passte ins Bild, dass Claudia Cupcakes gebacken hatte. Sie lud ihren Neffen dazu ein, mit ihr zu essen, sobald er seinen Koffer ausgepackt und sich frischgemacht hatte. Mit den gesäuselten Worten: »Ich freue mich, dass du hier bist«, liess sie ihn allein. Ihr fröhliches Summen hallte durch den Gang. Es klang unheimlich und weltfremd.

Ben setzte sich auf das Bett. Die Luftfüllung schaukelte ihn durch. Sein Blick wanderte zu den sechs Fotografien, die an der Wand über dem Arbeitstisch hingen. Ihr Anblick verpasste ihm einen Stich; es waren Kevins Werke.

Auf den Schwarz-Weiss-Bildern waren verschiedene Ansichten einer Burgruine zu sehen, einmal in der Totalen und dann immer tiefer ins Detail gehend, bis hin zum Abbild eines Mauersteins. Die Serie mutete karg, fast öde an. »Die Oberfläche eines Objekts ist bloss der Putz, der von der Zeit zerfressen wird. Der wahre Zauber liegt in der Geschichte«, hatte Kevin einmal gesagt.

Ben öffnete die Pralinenschachtel und pulte eine Schokoladenkugel mit Kürbisaufdruck heraus. Der erste Biss glich einer Geschmacksexplosion in seinem Gaumen. Während er sich die Karamellfüllung auf der Zunge zergehen liess, griff er nach der Willkommenskarte und klappte sie auf. Zu seiner Überraschung flatterte ein Fünfzig-Franken-Geldschein heraus – das waren an die fünfundvierzig Euro. Die Karte selber war von oben bis unten vollgeschrieben.

 

Lieber Benjamin

 

Es ist mir bewusst, dass du nicht freiwillig hier bist. Ein Junge in deinem Alter hat bestimmt Besseres zu tun, als seine Freizeit bei seiner verwitweten Tante zu verbringen. Vermutlich hat dir Wiebke etwas dafür in Aussicht gestellt. Lass mich raten: Den Führerschein? :) Egal, wie die Sterne stehen: Ich freue mich sehr über deinen Besuch. Seit Kevins Tod bin ich auf eine oberflächliche Art wortkarg geworden. Ich versuche, nicht über ihn zu sprechen, denn auch ein Jahr nach seinem Unfall sind die Schatten grösser als das Licht. Mit diesem Schreiben möchte ich dir jedoch versichern, dass du dich nicht um mich zu kümmern brauchst. Geniesse deine Ferien in der Schweiz! Erkunde die Umgebung und lass es dir gut gehen. Aber mach dir keine Sorgen um mich.

 

In Liebe, deine Claudia.

 

Mit der Daumenkuppe strich er die Rillen ihrer kalligrafischen Kugelschreiberschrift nach. Seine Mutter hatte ihn tatsächlich darum gebeten, auf Claudia aufzupassen: »Seit Kevin tot ist, ist sie total aufgedreht, rennt ständig ins Fitnessstudio oder in das nächste Warenhaus, um irgendetwas zu verschönern.« Bens geschiedene Mutter konnte das Verhalten ihrer Schwester nicht nachvollziehen, Ben irgendwie schon. War es nicht normal, dass ein Mensch umso mehr in seine Fassade investierte, je zerrütteter das Innenleben war? Davon abgesehen hatte Claudia auf etwas Wichtiges hingewiesen: Kevin war erst ein Jahr tot. Es war viel zu früh, um ihr Vorschriften zu machen, wie sie mit ihrer Trauer umgehen sollte.

 

Nach dem Auspacken ging er zu Claudia in die Küche. »Das sind schöne Bilder im Gästezimmer. Weisst du, wo Kevin sie aufgenommen hat?«

Seine Tante stand an der Spüle und reinigte ein Porzellanset. Auf Bens Frage hin zuckte sie zusammen. »Sie stammen von der Burgruine Alt-Wädenswil. Es ... ist seine letzte Serie. Darum habe ich sie behalten.«

Ein unangenehmes Kältegefühl huschte über seinen Nacken. »Ist das die Ruine?«

Claudia nickte und widmete sich abrupt wieder dem Abwasch. Eine Zeit lang war ihr hektisches Schrubben das einzige Geräusch in der Küche.

Ben setzte sich an den Eisengusstisch und rieb sich den Nacken. »Tut mir leid«, murmelte er geknickt.

Sie wandte sich zu ihm um. Auf ihrem Gesicht lag jetzt ein Lächeln. Es sah aus wie eine Faschingsmaske. »Es muss dir nicht leidtun. Kevin ist vor einem Jahr beim Fotografieren in die Tiefe gestürzt. Dinge passieren. Es ist niemand schuld.«

»Trotzdem hätte ich dich nicht darauf ansprechen sollen. Ich habe deinen Brief gelesen. Danke auch für die Pralinen und das Geld.« Er druckste das gerade noch so hervor, doch es reichte aus, um die Wärme in Claudias Züge zurückzubringen.

»Es würde mich freuen, wenn wir den einen oder anderen Tag gemeinsam verbringen. Morgen zum Beispiel«, sagte sie. Morgen war Sonntag.

»Das wäre schön«, erwiderte er, und zu seiner eigenen Überraschung meinte er das auch so.

 

ZWEI

Zwei Monate früher: Auf der Kirmes

 

»Ellen? Ellen!« Aufgeregt zupfte Lara an Ellens Schal herum. Ellen reagierte nicht. Fassungslos schaute sie zu der Stelle bei den Imbissbuden, wo sie ihn gesehen hatte. Ihre Augen hatten sich geweitet, ihr Herz war auf Knopfgrösse zusammengeschrumpft.

Es war Anfang August, und es hatte gerade geregnet. Die Restwolken hingen tief über dem Horn, einer kleinen Parkanlage, die als Halbinsel in den Zürichsee hinausragte. Im Sommer war die Wiese ein beliebter Badeplatz, am zweiten Wochenende im August mutierte sie zum Austragungsort der alljährlichen Kirmes. Diese war ein Muss für jeden, der seine Wurzeln in der Umgebung hatte.

Ellen Schmid war vor siebzehn Jahren im Krankenhaus von Richterswil zur Welt gekommen und wohnte seither an der Waldgrenze zum Nachbarort. Sie hatte die Grund- und Oberstufenschulen im Dorf besucht und half in ihrer Freizeit im elterlichen Café Tröimli im Zentrum aus. Auch ihre drei besten Freunde, Lara, Chris und Marin, wohnten in der Umgebung, Lara sogar in derselben Siedlung. Dass Ellen an diesem Wochenende die Kirmes besuchte, war folglich so klar wie das Amen in der Kirche gewesen.

Gerade deshalb hätte sie zu Hause bleiben sollen.

Darian war ihr gefolgt, schon wieder. Wahrscheinlich stand er immer noch bei den Imbissbuden, verborgen in deren Schatten, wie ein Raubtier auf der Lauer. Sie fühlte seinen Blick auf sich, so kalt, dass sie eine Gänsehaut bekam. Ein Jahr zuvor hatte sie Darian Capriatis eisblauen Augen noch eine gewisse Wärme abgewonnen; sie sah das Gute im Menschen, wenn andere bereits schreiend davonrannten.

»Ellen«, wiederholte Lara so energisch, dass Ellen aus ihrer Starre erwachte. Eine senkrechte Falte hatte sich auf Laras Stirn gebildet. Wie immer wurde sie zur Hälfte von einem kastanienbraunen Pony verborgen. »Ist es Darian? Hast du ihn gesehen?«

Ellen schüttelte den Kopf und legte ihn dann schräg. »Ich dachte, ich hätte ihn gesehen. Wahrscheinlich war es eine Einbildung.« Sie presste die Lippen aufeinander, um die in ihr aufkeimende Panik abzuwimmeln. Um sich abzulenken, zeigte sie auf das Autodrom mit der Clubbeleuchtung. Der Elektrobass hämmerte wie eine Warnung gegen ihre Bauchwand. »Also, was ist? Gehen wir zum Autodrom?«, fragte sie ungeduldig.

 

***

 

Im Oktober

 

Darians Finger vergruben sich tief in ihrer Haut. Die Angst stand ihr in das Gesicht geschrieben, trotzdem schlug sie ihm gegen die Brust und verlangte laut, dass er sie losliess. Er ging nicht darauf ein, schleifte sie mit sich – weg vom Autodrom, weg von den anderen. Als wäre sie nichts als eine Puppe.

Dann kam die Explosion.

 

Ellen erwachte mit einem scharfen Atemzug. Ihr Herz raste, ihre goldbraunen Augen waren verquollen. Sie hatte kaum geschlafen, und was sie an Schlaf bekommen hatte, war von fürchterlichen Albträumen durchzogen gewesen – wie immer.

Die Anzeige ihres Handys verriet, dass es der zweite Sonntag im Oktober war, sechs Uhr früh, fünf Grad Celsius, zwei Monate nach der Explosion, die sie fast das Leben gekostet hatte. Mit einem Seufzen liess sie sich in das Daunenkissen zurückfallen. Ihre blonden Haare legten sich wie ein Fächer um ihr Gesicht. Sie fragte sich, wann sie endlich aufhörte, von jenem Abend auf der Kirmes zu träumen. Zwei verdammte Monate waren schliesslich vergangen, und nichts deutete darauf hin, dass Darian ihr noch einmal zu nahe kam. Bis zu jenem Abend hatte er sie überallhin verfolgt, und zwar seit dem Sommer vor einem Jahr, als er aus dem Nichts mit ihr Schluss gemacht hatte.

Nach der Autodrom-Explosion war Darian untergetaucht. Ellen hatte ihn nicht mehr gesehen. Auch jetzt, in den Herbstferien, fehlte jede Spur von ihm. Trotzdem fühlte sie sich von ihm beobachtet.

Sie kannte die Gerüchte, die man sich über die Explosion und Darians Schuld erzählte.

Sie schwang ihre Beine über die Bettkante und setzte ihre schwarze Brille auf. Die Welt um sie herum wurde klar; jene in ihrem Kopf blieb verschwommen.

Im Badezimmer ging sie ihrem Spiegelbild mit Bedacht aus dem Weg. Obwohl sie den ganzen Sommer über draussen Tennis gespielt hatte, war ihr Teint matt und blass. Was sie als »käsig« empfand, umschrieben Optimisten mit »Alabasterteint«. Ellen wusste, dass sie daneben noch eine Reihe anderer Attribute vereinte, die ihre Mitmenschen für beneidenswert hielten: Ihre langen blonden Haare zum Beispiel, oder die warmen Bernsteinaugen, die jede Lüge verrieten. Sie selber hätte alles hergegeben, um im Gegenzug eine Nacht ohne Albtraum zu verbringen.

 

»Du hast schon wieder schlecht geschlafen.« Louisa Schmid stellte ihre Tasse so energisch auf die Küchenablage, dass der Kaffee überschwappte. Mit verschränkten Armen fuhr sie zu ihrer Tochter herum. Optisch hätte sie Ellens grosse Schwester sein können: mittelgross, blond, mit weit auseinanderstehenden goldenen Augen. Im Gegensatz zu Ellen besass sie auch eine beneidenswerte Sanduhrfigur. Ihre androgyne Pilzkopffrisur lenkte jedoch auf unschöne Weise davon ab. Der Schnitt betonte die Zornesfalte zwischen ihren Augen. »Wann hört das endlich auf, Ellen?« Eine schleichende Verzweiflung machte sich in ihrer Stimme bemerkbar.

Ellen setzte sich an den Esstisch. Sie griff nach einer Schale und den Cornflakes, die Louisa für sie bereitgestellt hatte, und kombinierte das Ganze mit einem Schuss Vollmilch. Sie wusste, dass sie ihrer Mutter keine befriedigende Antwort geben könnte. Darum schob sie den Löffel in den Mund und schwieg die Sache aus.

»Vielleicht solltest du wieder einmal zu Dr. Diethelm gehen«, sagte Louisa.

»Ich muss nicht zum Psychiater, Mom. Es geht mir gut.«

»Tatsächlich? Du hast eine Nahtoderfahrung hinter dir. So etwas verarbeitet man nicht in ein paar Wochen. Ganz zu schweigen von einem irren Ex-Freund, der dich seit über einem Jahr verfolgt!«

Ellen knallte den Löffel auf den Tisch. »Ich sagte, es geht mir gut. Ich schlafe nur schlecht.«

»Schlechter Schlaf deutet auf verdrängte Ängste hin!«

»Ist Papa schon im Café?«

»Lenk nicht vom Thema ab«, wetterte Louisa. »Und ja, ist er.«

»Darf ich heute eher aufhören? Ich will mit Lara, Chris und Marin nach Rapperswil Eis essen gehen.«

»Eis essen? Wir haben Herbst.«

»Die Sonne scheint.«

»Und Marin ist tatsächlich auch dabei?«

»Mama.« Ellens Wangen fingen Feuer. Auf einmal wünschte sie sich, ihre Mutter würde zu ihrer Besorgnis zurückkehren.

Louisa kicherte. »Ich frag ja nur. Der Junge ist ein echter Hingucker geworden. Hast du schon mal die tiefen Grübchen bemerkt, wenn er lächelt? Ihr würdet ein tolles Paar abgeben.«

»Das sagst du erst seit der Sache mit Darian.«

»Falsch: Das sage ich, seit ihr zusammen eingeschult wurdet.«

Ellen verdrehte die Augen. Sie mochte Marin, aber nicht auf die Art, die Louisa sich wünschte. Er war nur ein Freund – genau wie Lara und Chris. Sie stand auf und stellte ihre Schale in die Spüle. »Ich mache mich fertig. Wollen wir nachher los?«

Ihre Mutter nickte. »Nur eines noch.« Befangen nagte sie an ihrer Unterlippe. »Darian verfolgt dich doch nicht wieder, oder?«

»Nein.« Nur in meinen Träumen.

Louisa lächelte beruhigt.

Beim Verlassen der Küche schaute Ellen aus dem Fenster, als erwartete sie, dort von zwei kalten Augen zu Tode gestarrt zu werden. Niemand war da. Vielleicht verfolgt er mich wirklich nicht mehr, dachte sie. Der Gedanke erleichterte ihr Herz. Summend verschwand sie im Badezimmer.

Eisige Augen folgten ihr.

 

***

 

Das Café Tröimli befand sich in der Nähe zum Bahnhof in verkehrsbefreiter Zone. Obwohl das Lokal an Sonntagen erst um zehn öffnete, war Ellens Vater Steven bereits seit dem frühen Morgen zugange. Das Tröimli war seine grosse Leidenschaft. Vor zwei Jahren hatte er dafür einen gut bezahlten Job in der Elektronikbranche an den Nagel gehängt. Mittlerweile beschäftigte er wochentags zwei Angestellte. Am Wochenende half seine Familie mit.

Aus der Backstube duftete es herrlich, als Ellen und Louisa das Café durch die üppig beleuchtete Glastür betraten. Die Lichter im Hauptraum waren gelöscht, was die helle Backstube in ein verheissungsvolles Schimmern tauchte.

Auf der Stereoanlage lief ein Album von Luke Bryan. Ellen entdeckte den schlaksigen Körper ihres Vaters, der sich zur Musik bewegte. Seine blondgefärbten Surferhaare wippten, als er vor dem Backofen eine Pirouette drehte und ein Blech mit frisch gebackenen Brötchen herausnahm. Sein Hüftschwung war legendär, seine Gesangsstimme weniger.

»Kill the lights, kill the lights. You can take me la-la-la-la«, trällerte er in einer völlig falschen Tonlage. Ellen unterdrückte ein Prusten, und Louisa verdrehte die Augen. Sie schälten sich aus ihren Jacken und machten auf sich aufmerksam.

Stevens Gesicht erhellte sich. Er gab Louisa einen Kuss auf den Mund und zwinkerte Ellen zu. »Na, meine Hübschen? Wie geht es uns?«

»Prima«, antwortete Ellen.

»Sie hat schlecht geschlafen«, widersprach Louisa.

»Schon wieder?« Stevens Augenbraue hob sich in Ellens Richtung. Diese wandte sich ertappt von ihm ab.

Sie griff nach einer dunkelblauen Schürze neben dem Backofen und zog sie an. Mit einem Griff in den Rücken schaltete sie die LED-Lichter auf der Vorderseite an, im nächsten Moment leuchtete sie wie ein Weihnachtsengel.

Sie hob den Kopf zu ihren Eltern. »Es war nicht so schlimm. Mom macht wie immer ein Drama draus.«

Louisas Augen fingen Feuer. »Jetzt fängst du wieder damit an! Ich kann nicht fassen, dass du die Sache mit Darian immer noch herunterspielst. Wir hätten diese Beziehung nie erlauben dürfen. Er war schon immer kriminell. Ich hatte von Anfang an ein schlechtes Gefühl.«

»Ich auch«, sagte Steven. Ellen bestrafte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. Ihr Vater hatte Darian gemocht, das wusste jeder. Denn Darian hatte das Beste aus Ellen herausgeholt. Auch das wusste insgeheim jeder.

Im Gegensatz zu ihren Freunden war sie eher ängstlich und bedacht. Das hing mit einer hochallergischen Reaktion auf einen Bienenstich zusammen, der sie vor zehn Jahren ins Krankenhaus gebracht hatte. Seither wurde sie von allen mit Samthandschuhen angefasst – ausser von Darian. Er war ebenfalls Allergiker und ganz anders. »Du kannst Angst haben oder leben«, hatte er ihr gesagt und ihr ganzes Leben umgekrempelt. Louisa war überhaupt nicht begeistert gewesen, aber Steven hatte in Darian das perfekte Vorbild für seine Tochter gesehen. In Gedanken hatte er bereits an ihrer Hochzeitstorte herumstudiert.

Louisa griff nach dem Brotkorb für die Auslage. Der Bast knirschte unter ihren angespannten Fingern. »Ich verstehe einfach nicht, warum Darian frei herumläuft, wenn doch jeder weiss, dass er das Autodrom in die Luft gesprengt hat. Er hat Ellen willentlich in Gefahr gebracht!« Aufgeregt warf sie die Brötchen eins nach dem anderen in den Korb.

Steven beobachtete ihr Tun besorgt. Er stellte sich neben sie und nahm ihr den Korb weg. »Das sind nur Gerüchte, die Polizei konnte ihm nichts nachweisen. Und selbst wenn er etwas in die Luft sprengen wollte: Er hat Ellen aus der Gefahrenzone herausgeholt. Das dürfen wir nicht vergessen, zumal uns das zeigt, dass er ihr eigentlich nichts Böses will.«

»Er hat sie wie ein Tier aus der Gefahrenzone geschleift! Wir sollten noch einmal versuchen, ihn anzuzeigen.«

»Wofür denn? Dass er Ellen Albträume bereitet? Schatz, er lässt sie seit Monaten in Ruhe. Auch vor der Explosion wussten wir nicht, ob er sie tatsächlich verfolgte oder nur zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war. Oder sehe ich das falsch, Elli?« Er fuhr so unvermittelt zu Ellen herum, dass sie zusammenzuckte.

»Nein, das tust du nicht.« Sie senkte schnell den Blick, damit er ihre Augen nicht sehen konnte. Ansonsten hätte er die Lüge erkannt.

»Wir müssen versuchen, das Positive zu sehen«, beharrte Steven. »Darian hat dir auf der Kirmes das Leben gerettet und lässt dich seither in Frieden, Punkt. Und was sein restliches Verhalten betrifft ... nun ja, dafür finden wir eine Lösung, wenn es uns zu stören beginnt. Also macht euch bitte keine Sorgen.«

»Ich wünschte, das wäre so leicht«, murmelte Louisa und schaute Ellen traurig an.

 

***

 

»Das ist ja wie Retro-›Star Wars‹. Oder Science-Fiction-Weihnachten. Oder ... ich weiss auch nicht.« Überfordert pustete Ben die Wangen auf.

Claudia kicherte. »Der Besitzer ist mein Ex-Nachbar. Er arbeitete früher als Elektroniker.« Mit einer ausladenden Geste gab sie ihrem Neffen den Vortritt in das Café Tröimli.

Bens Mund stand halb ungläubig, halb schockiert offen. Das Tröimli war das auffälligste Etwas, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte – und er war schon zweimal in Las Vegas. Von den Schaufenstern bis hin zu Boden und Decke war alles verkabelt und vernetzt und glitzerte in den schrillsten Farben. Sogar die Stühle hatte Besitzer Steven mit LEDs versehen. Diese blinkten, sobald sich jemand daraufsetzte. Beim Betreten des Lokals spielte zudem die »Star Wars«-Fanfare. Die Möbel passten dazu: Tische in Planetenform, eine halbmondförmige Verkaufstheke und ein glitzernder Sternenhimmel als Decke.

Claudia bemerkte seine Befangenheit und zitierte ihn mit einem nachsichtigen Nicken an den freien Fenstertisch, auf dem ein »Reserviert«-Schild stand. Sie selber stellte sich in die Schlange vor der Theke. Ben setzte sich hin und studierte kopfschüttelnd seine blau gestrichene, blinkende Sitzunterlage.

Claudia kam nach fünf Minuten an die Reihe. Sie begrüsste den Ladenbesitzer mit einem lauten »Stevie!« und der Tollpatschigkeit eines Zirkusclowns: Mit dem Ellbogen stiess sie einen Tellerberg vom Tresen. Dieser ging klirrend zu Boden und lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich.

Und da fiel sie Ben ins Auge.

Die Fremde war in dem Moment zum Vorschein gekommen, als Claudia die Teller von der Theke gefegt hatte. Sie war in seinem Alter und von einer unaufdringlichen Schönheit. Ihre Haare waren blond und leicht gewellt, das Gesicht porzellanhaft, der Körper sportlich und schlank. Ihre Nase war ein bisschen zu dünn und zu lang, was ihre klobige schwarze Brille unnötig betonte. Davon abgesehen hätte ihr Foto unter »perfekt« im Duden kleben können.

Ihre grossen goldbraunen Augen wanderten durch das Lokal. Sie streiften Ben. Er schaute ertappt weg und spielte mit dem Serviettenhalter auf dem Tisch herum. Dieser hatte die Form eines Planeten. Genauso kam die Fremde ihm vor, wie nicht von dieser Welt.

Noch einmal hob er den Blick in ihre Richtung. Sie räumte zwei leere Kaffeetassen vom Nachbarstisch. Der herausgewachsene Pony fiel ihr nach vorn, genervt klemmte sie ihn hinter das Ohr zurück. Ben betrachtete sie verzückt.

»Wie ich bereits sagte: Denk nicht im Traum an sie.« Claudia stellte ein Tablett auf den Tisch und setzte sich neben ihn. Ihre Wangen waren gerötet; offenbar schämte sie sich immer noch für die zerstörten Teller.

Die schöne Fremde verschwand gerade hinter dem Tresen. Ben musterte Claudias Tablett. Es gab Croissants, eine herbstliche Obstplatte, einen Matcha-Tee für Claudia und einen frisch gepressten Orangensaft für ihn.

Er griff nach dem Saft. »Ich nehme an, das war die berühmte Tochter deines Ex-Nachbarn«, sagte er zwischen zwei Schlucken. Seine Haut kribbelte, als hätte er sich in einen Ameisenhaufen gelegt.

Claudias Mundwinkel bogen sich nach oben. »Sie heisst Ellen, und ich dachte mir schon, dass sie dir gefällt. Sie sieht aus wie deine Ex, nicht wahr?« Sie kicherte. »Deine Mutter bringt mich um!«

»Ich habe doch gar nichts gesagt«, protestierte er und verschluckte sich an seiner eigenen Spucke, als Ellen plötzlich wieder auftauchte und auf ihren Tisch zusteuerte.

»Hallo zusammen!« Die Hälfte ihrer Begrüssung ging in Bens Hustenanfall unter. Dieser verstärkte sich, als sie ihm hilfsbereit auf den Rücken klopfte, während ihr Blick an Claudia hing. »Es freut mich so, dich zu sehen! Wie lange ist es her, ein halbes Jahr?« Claudia musste ihre Stimme heben, um gegen Bens Husten anzukommen.

Ben spülte hektisch mit Orangensaft. Als das nicht half, kippte er Claudias Matcha-Tee hinterher. Das Brennen in seiner Kehle wurde milder, doch gerade als er aufatmen wollte, fuhr Ellen zu ihm herum. Diesmal konnte er das Unglück mit einem beherzten Biss auf die Zunge abwenden. Seine Augen füllten sich vor Schmerz mit Tränen.

Ellen schien das nicht zu bemerken. Sie lächelte. »Hi, ich bin Ellen. Du musst Benjamin sein, deine Tante hat schon viel von dir erzählt.« Sie reichte ihm ihre Hand, die drei feine Goldringe und ein Armband mit klimpernden Anhängern schmückten.

»Bitte, nenn mich Ben«, quäkte Ben. Seine Handinnenfläche war schweissgebadet.

Ellen lächelte unvermindert weiter. »Habt ihr schon die Käse-Muffins meines Vaters probiert? Er ist mächtig stolz darauf!«

»Er hat mir zwei ›to go‹ gegeben. Nach dem Frühstück hier sind wir wohl vorläufig satt«, erwiderte Claudia und tätschelte lachend ihren Bauch, wo keiner war. Ellen lachte freundlich mit und verabschiedete sich wieder. Wie eine Sternschnuppe zog sie davon.

Ben schaute ihr wehmütig nach. »Hat sie einen Freund?«

Claudias Lächeln verlor an Stärke. »Nur einen kriminellen Ex-Freund. Aber das ist im Prinzip dasselbe. Darum wiederhole ich: Denk nicht im Traum an sie.«

 

***

 

Der Scheisskerl glotzte ihr nach, ein Wunder, dass er keine Sabberspur hinter sich herzog. Darians Zähne knirschten. Die Eifersucht brannte ein tiefes Loch in seine Brust. Er hasste es, Ellen mit anderen reden zu sehen, erst recht, weil er es nicht mehr tun konnte.

Er stand gegenüber vom Tröimli, versteckt hinter einem Container für die Grünabfuhr. Er hatte gesehen, wie der Junge mit der schwarzen Gelfrisur den Laden betreten und am Fenstertisch Platz genommen hatte. Er hatte seinen bayerischen Akzent mit dem rollenden »R« gehört und mitverfolgt, wie er gierig seinen Orangensaft trank.

Und er hatte gesehen, wie er Ellen ansah.

Das Brennen in seiner Brust dehnte sich aus.

Natürlich wusste er, dass er kein Anrecht auf sie hatte, nicht mehr. Die Sache zwischen ihnen war gelaufen, und er war selbst schuld daran. Trotzdem hatte er nie aufgehört, sie zu lieben. Darum stand er jetzt hier, darum beobachtete er sie durch das Fenster – und mit ihr alle, die sich auf irgendeine Weise auffällig verhielten.

Der Fremde verhielt sich überauffällig.

Er kniff die Augen zusammen, um ihn einzuschätzen. Könnte er ihn ausschalten, wenn es darauf ankäme? Sein Urteil fiel binnen Sekunden: mit dem kleinen Finger. Neben Claudia Karbacher sah er aus wie ein Riese, Darian schätzte ihn trotzdem auf mindestens zehn Zentimeter kleiner als sich selbst. Die spannungslose Haltung liess ausserdem den Schluss zu, dass er seinen Körper nicht im Geringsten einzusetzen wüsste. Auch hinsichtlich seiner übrigen Optik war der Fremde absoluter Durchschnitt, weder potthässlich noch beneidenswert gut aussehend. Am auffälligsten waren sein Kinn – zweigeteilt und nach oben verlaufend – und die grossen Augen, die er leicht zusammenkniff. Darian vermutete eine unbehandelte Sehschwäche.

Reflexartig fuhr er sich über das eigene Gesicht. Seine kalten eisblauen Augen verschwanden hinter seinen Händen. Ellen war eine der wenigen gewesen, die sich nicht davon hatte einschüchtern lassen. Mittlerweile begegnete sie ihm mit derselben Furcht wie der Rest der Welt. Dabei hatte er ihr nie eine solche Angst einjagen wollen, geschweige denn sie verletzen. Aus diesem Grund musste er jetzt auch mehr über den sabbernden Jungen erfahren. Niemand durfte seiner Ex-Freundin zu nahe kommen.

Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass genügend Zeit blieb: Ellen arbeitete noch mindestens zwei Stunden. Auch Claudia samt Begleitung erweckte nicht den Eindruck, schnell wieder nach Hause fahren zu wollen. Er zog die Kapuze über den Kopf und tauchte zwischen den Häusern ab.

 

Claudias lachsfarbene Wohnsiedlung erreichte er komplett durchgefroren. Es war ein Tag der trügerischen Sorte: Die Sonne schien, doch es ging ein beissender Wind, der sich durch jede Ritze seiner dünnen Baumwolljacke stahl.

Er stellte seinen Roller zwei Blocks vor seinem eigentlichen Zielort ab, zog die Kapuze noch etwas tiefer ins Gesicht und huschte im Schutz der Schatten zu Claudias Wohnung. Sie wohnte im Erdgeschoss des ersten Blocks. Er wusste das, weil er sie seit Längerem beobachtete. Nach einem kurzen Kontrollblick kämpfte er sich durch die Eibenhecke hindurch in den Garten.

Er watete durch ein Meer aus Kürbissen zur Fenstertür. Vor dieser ging er in die Hocke. Es war ein veraltetes Modell mit Türknopf. Ein Kinderspiel. Er nahm zwei stabile Büroklammern hervor und führte sie nacheinander in das Schloss hinein. Die Stifte im Schlüsselloch hoben sich mit leisen Klicks, kurz darauf stand die Tür offen. Die Aufregung prickelte in seinem Nacken. Das Verbotene zog ihn an, das konnte er nicht verleugnen.

Claudias Wohnzimmer war kitschig und roch nach Rosen. Er widerstand dem Drang, sich die Nase zuzuhalten, und verliess den Raum auf dem schnellsten Weg. Er betrat ein kleines Zimmer neben dem Haupteingang und sah sich um. Ein Schreibtisch mit Computer, ein einfacher Schrank, ein aufblasbares Bett. Sein Herz machte einen Satz. Dies musste das Gästezimmer des sabbernden Gaffers sein.

Der Schrank stand offen und war leer, unter dem Arbeitstisch lugte dafür ein proppenvoller Koffer hervor. Ein abgewetztes Schild verriet den Namen des Besitzers: »Benjamin Elias Peters«. Darian kniete sich hin und zog den Koffer hervor. Es war zu seinem Vorteil, dass der Durchsuchte wenig Wert auf Ordnung legte. Unvorsichtig durchwühlte er einen Berg von Kleidern, rümpfte die Nase angesichts einer »Werner – Volles Rooäää«-Boxershorts und hielt schliesslich eine Karte mit Willkommensaufdruck in den Händen. Er überflog die Zeilen, die Claudia ihrem Gast geschrieben hatte. Danach fasste er in Gedanken zusammen, was er über den sabbernden deutschen Jungen herausgefunden hatte: Er hiess Benjamin Peters, war Claudias Neffe und offenbar in der Schweiz, weil eine Frau namens Wiebke wollte, dass er sich um seine trauernde Tante kümmerte – weil diese nicht über den Tod ihres Ehemanns Kevin hinwegkam.

Wie ferngesteuert wanderte sein Blick zu den Fotografien über dem Arbeitstisch. Der Blitz des Wiedererkennens traf ihn hart und tief. Er hörte menschliche Knochen krachen, sah tote Augen in aufgerissenen Höhlen.

Ich erkenne dich nicht wieder.

Erschrocken warf er Claudias Karte von sich. Er kickte den Koffer unter den Tisch zurück und kam taumelnd auf die Beine. Sein Kopf drehte sich, als er die Wohnung verliess.

Du bist ein Arschloch, hörte er Ellen sagen, und alles in ihm verknotete sich. – Ich wünschte, ich wäre nur das, dachte er bitter.

 

DREI

»Ellen kommt wirklich auch?« Marin liess seine langen Beine über dem Wasser kreiseln. Ein roter Hauch lag auf seinen Wangen, und er spürte, wie sein Herz dort immer mehr Blut hineinpumpte. Er wurde stets rot, wenn er nervös war – oder wütend, traurig, verlegen oder einfach nur wach. Die meisten Mädchen fanden das süss, besonders in Kombination mit seinem Lächeln mit den tiefen Grübchen. Das hatte zur Konsequenz, dass er gleich noch röter anlief.

Er sass zusammen mit seinem pummeligen Kumpel Chris an der Hafenpromenade von Rapperswil, der nächstgrösseren Stadt in ihrer Umgebung. Die Bäume am Ufer hatten ihre Blätter verloren, der Wind und die Spaziergänger wirbelten sie zu Minitornados auf.

Marin rief sich das Bild seiner Kindergartenfreundin Ellen in Erinnerung. Sie war hübsch, das konnte er nicht bestreiten. Dennoch beschlich ihn ein beklemmendes Gefühl, wenn er an sie dachte.

»Ellen kommt. Lara hat versprochen, sie notfalls zu fesseln und herzuschleifen«, antwortete Chris und biss herzhaft in seinen Cheeseburger. Dem Ketchup liess er freien Lauf über seine Finger und seine Jeans. Er war wie seine Freunde siebzehn, essenstechnisch hätte er aber auch drei sein können. Marin war nicht nur darum die Lust am Essen vergangen.

»Denkst du, er wird auch hier sein?«, fragte er.

Chris reckte den Kopf. »Wer, Darian? Ich dachte, er lässt Ellen seit der Sache beim Autodrom in Ruhe.«

»Ellen sagt ja, Lara nein.«

»Also ich habe ihn seither nicht mehr gesehen. Vielleicht hat er deine Kraftexplosion bei deiner letzten Regatta gesehen und getraut sich jetzt nicht mehr in unsere Nähe. Wann lädt Mr. Bizeps uns eigentlich zum Siegeressen ein?«

»Wenn du richtig essen gelernt hast.«

Chris lachte, die Krümel flogen nur so aus seinem Mund. Mit einem entschuldigenden Grinsen rubbelte er über die kurzen braunen Stoppelhaare. »Wie gesagt: Ellen kommt. Und wegen Darian mach dir mal keine ... – Sieh an, wenn man vom Teufel spricht!« Er sprang auf und winkte mit dem Burger zwei Mädchen zu. Marins Herz arbeitete sofort schneller.

Chris, Lara, Ellen und er kannten sich seit ihrer Kindheit, und schon genauso lange waren sie befreundet. Dabei verband sie reichlich wenig: Lara war der »Teenage Dream« mit brauner Ponyfrisur und verboten langen Beinen. Sie trainierte seit zehn Jahren Wing Chun Kung Fu und war der schlagfertigste Mensch, den Marin kannte. Wie gut sie war, wusste er aus eigener Erfahrung: Auf YouTube kursierte ein Clip, in welchem sie ihn aufs Kreuz legte. Das sah insofern lächerlich aus, als dass er sie um einen Kopf überragte und mindestens dreimal so kräftig gebaut war wie sie. In der Schule nannte man ihn seither Wing Chun Panda. Chris bevorzugte das Kürzel WC-Krieger.

Ellen war Laras unauffälliges Gegenstück. Wie Marin war sie eher ruhig und mit diesem einen Lächeln gesegnet, das dem anderen Geschlecht so viel Herzklopfen bereitete - jenes mit den tiefen Grübchen und der spöttischen Note, wenn der eine Mundwinkel etwas höherging als der andere. Marin lächelte Ellen in ebendiesem Moment so an, und sie erwiderte das Lächeln auf die gleiche Weise, und vermutlich machten ihre Herzen im selben Atemzug einen Satz. Doch schon eine Sekunde später war der Spuk vorbei, und sie kehrten in die Freundeszone zurück. Denn Ellens Herz war zerstört, und kaputte Dinge verschenkt man nicht.

Sie setzten sich nebeneinander an das geteerte Ufer. Lara nahm einen Flyer hervor und wedelte damit herum. »Ratet mal, wer morgen im Jungle Club spielt? – The Crying Onions!«

Der Begeisterungssturm ihrer Freunde blieb aus. Marin runzelte die Stirn. »Muss man die kennen?«

»Die Onions sind die Newcomer-Rockband Europas, mit Gitarren, Lederjacken und Dreitagebärten. Kurz gesagt: genau Laras Typ«, erklärte Ellen grinsend.

Marin fuhr sich zerknirscht über die babyglatte Visage, während Chris seine Pausbacken blähte und fragte: »Und ihr wollt, dass wir euch begleiten? Versteht mich nicht falsch, aber mein Interesse verpuffte, als Ellen ›Gitarren‹ sagte. Es sei denn, es gibt Bier. Dann würde ich es mir gegen eine kleine Zusatzmassage durch den Kopf gehen lassen.« Er zwinkerte Lara zu, die ihn lachend in die Seite stiess. Die beiden zankten sich ein wenig, was bei Marin ein unangenehmes Druckgefühl auslöste. Er fragte sich, ob Ellen heute auch so unbeschwert wäre wie Lara und Chris, wenn er sie Darian damals nicht vorgestellt hätte.

Beunruhigt fuhr er sich durchs dunkelblonde Haar, ein herausgewachsener Undercut, der irgendwo zwischen Hipster, Punk und Penner lag. Die Spitzen kitzelten in seinen blassgrünen Augen, wann immer er den Kopf zu weit nach vorne senkte, und abrupt fühlte er sich noch mieser. Ellen und Lara zogen ihn ständig wegen seiner Frisur auf - »Du wärst so ein Hübscher!«, seufzte Lara häufig. Der Konjunktiv in ihrer Aussage störte ihn mehr, als er zugab.

»Marin.«

Er hob den Kopf. Ellens Hand lag auf seinem Unterarm, der so angespannt war, dass die Adern blau hervorblitzten. Peinlich berührt versuchte er, sich zu entspannen. Dass ihm das nicht gelang, entnahm er Ellens Gesichtsausdruck. Ihre Aufmerksamkeit lag schwer auf ihm. »Was ist los, Mar?«

»Mme Bolard sagt, dass ich meinen Abschluss nicht schaffe, wenn ich mich in Französisch nicht verbessere«, behauptete er reflexartig. Er wollte nicht über Darian reden.

Ellen blinzelte betrübt. »Ich würde dir gern helfen, aber du kennst meine Noten ... Vielleicht hilft dir Lara?«

Lara unterbrach ihren Kampf mit Chris und lachte. »Ich und Französisch? Vergiss es! Allerdings kenne ich da eine Reihe von Mädchen, die Marin nur zu gerne unter die Arme greifen würden.«

»Und woanders hin«, sagte Chris, was ihm einen heftigen Schlag von Marin auf den Kopf einbrachte. Marins Wangen brannten vor Verlegenheit. Kurzerhand nahm er die Eiswünsche seiner Freunde auf und stand auf, um weiteren Sprüchen aus dem Weg zu gehen.

Die Seepromenade war wie jeden Sonntag gut besucht. Marin schlenderte im Schatten der nackten Bäume, um dem Menschenstrom aus dem Weg zu gehen. Fünf Minuten später erreichte er den gepflasterten Marktplatz am südlichen Ende der Altstadt. Obwohl ein harscher Wind ging, hatten die umliegenden Restaurants ihre Aussentische nach draussen geräumt. Nicht wenige Leute sassen zudem auf den Pflastersteinen und verspeisten Burger und Pommes vom Take-away. Es war so viel los, dass er Marin gar nicht hätte auffallen sollen. Aber Darian Capriatis frostiger Blick hatte sein Ziel noch nie verfehlt. Marins Herz sackte in die Hose.

Darian starrte ihm entgegen, als hätte er auf ihn gewartet. Seine breite Brust verschwand hinter ebenbürtigen Armen, den Mund schmückte ein ungemütliches Lächeln. Er war fast einen Meter neunzig gross, und was sich Marin hart beim Sport antrainierte, schien Darian von Geburt an in und auf sich zu tragen. Seine Gesichtszüge waren markanter als Marins, die eisblauen Augen kalt wie der Tod. Sie bildeten einen unheimlichen Kontrast zu den schwarzen Haaren, die ihm wild in die Stirn fielen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Marin nicht verstanden, warum sich jemand vor Darian fürchtete. Jetzt stand er bei den zitternden Schafen.

Die Angst zog schmerzhafte Kreise durch seine Därme, als Darian ihn mit einem stummen Nicken zum Folgen aufforderte. Unwillig gehorchte er dem Befehl. Die Nebenstrasse, in der sie landeten, befand sich direkt hinter dem Markplatz, war jedoch menschenverlassen. Marin blieb in drei Metern Entfernung zu seinem alten Freund stehen. Er verschränkte die Arme und reckte das Kinn, obwohl ihm nicht im Geringsten nach einem Kampf zumute war. Körperlich war er Darian ebenbürtig, dafür fehlte ihm dessen wichtigste Eigenschaft: der Wahnsinn.

»Was willst du?« Er verhüllte seine Angst mit Trotz.

»Da ist ein Neuer.« Dunkle Absichten tränkten Darians tiefe Stimme. »Er heisst Benjamin und wohnt bei seiner Tante, Claudia Karbacher. Er ... interessiert sich für Ellen.«

»Na und? Das tust du doch auch.«

»Das ist etwas anderes. Der Typ ist mir nicht geheuer. Du musst auf Ellen aufpassen. Lass nicht zu, dass er ihr zu nahe kommt.«

Marin schnaubte. »Du kannst nicht kontrollieren, wen sie kennenlernt und wen nicht. Du hast mit ihr Schluss gemacht. Es ist nicht länger deine Sache.«

»Wäre es das, wärst du längst tot«, knurrte Darian zurück. »Es ist schon allen aufgefallen, wie du Elli anstarrst. Die Ex-Freundin deines besten Freundes, echt klassisch. Oder lenkst du dich mit ihr von Lara ab? Auf sie warst du doch schon immer scharf. Andererseits bist du auf alles scharf.«

Marins Kiefer mahlte. »Ich bin dein ehemals bester Freund. Und damit kennst du meine Antwort: Ich werde dir nicht helfen.« Er hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da schnellte Darian vor. Eine Sekunde später sah sich Marin mit dem Gesicht voran gegen die nächste Hauswand gedrückt. Seine Wange scheuerte über den rauen Stein, Darians Griff schnitt ihm die Luft zum Atmen ab. Er stöhnte.

Darian zischte ihm ins Ohr. »Das war keine Bitte. Du musst Ellen im Auge behalten. Wenn ihr etwas zustösst, mache ich dich dafür verantwortlich. Hast du mich verstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, verpasste er Marin einen Stoss. Marin schlug mit dem Kopf gegen die Wand und sackte in sich zusammen. Obwohl ihm schwindlig und schlecht war, schwang er sich sofort auf die Beine zurück. Aber da hatte Darian sich bereits von ihm abgewandt.

Marin zitterte vor Zorn. »Wann kapierst du es endlich? Du bist der Einzige, der Ellen etwas antut!«, schrie er so laut, dass seine Stimme in der Gasse widerhallte. Darian reagierte nicht.

 

***

 

Benjamin Peters. Der Name ging Marin nicht mehr aus dem Kopf. Der Wind trug zwölf Glockenschläge durch das offene Fenster in sein unordentliches Zimmer. Es war längst dunkel geworden, und seine Eltern sowie seine kleine Schwester Davina hatten sich schlafen gelegt. Er selber sass mit dem Laptop auf den Beinen auf dem Bett. Eine tiefe Falte hatte sich zwischen seinen Augen gebildet. Er spürte sie, wann immer er die vorfallenden Haare über den Kopf zurückstrich. Obwohl er sich selber dazu anhielt, die Sache lockerer zu nehmen, blieb die Anspannung gleichermassen in seinem Gesicht wie in seinem Herzen verankert.

Benjamin Peters.

Es war das erste Mal seit einer Ewigkeit, dass Darian mehr als zwei Sätze mit ihm gewechselt hatte. Benjamin Peters musste eine grosse Nummer sein. Marin konnte trotzdem nichts mit dem Namen anfangen.

Wenigstens kannte er Benjamins Tante. Claudia Karbacher war Ellens Ex-Nachbarin, deren Mann auf einer Burgruine in der Nähe ums Leben gekommen war. Seither sah Marin sie oft in seinem Lieblingsfitnessstudio, wo sie vor einem Jahr am selben Tag ein Abonnement gelöst hatten. Es war ein Aktionstag gewesen, die Schlange hatte bis nach draussen gereicht. Er erinnerte sich an Claudias gut gelaunte Art und die schrille Tonalität ihrer Stimme, als sie ihn in den Arm gezwickt und wie ein Teenie losgekichert hatte: »Marin Novak, unser Ruder-Champion! Haben es Jungs mit einem solchen Oberkörper überhaupt nötig, ins Fitnessstudio zu gehen?« Er hatte ihre Frage mit knallrotem Kopf bejaht und den wahren Grund – als Kind war er so dünn gewesen, dass Unbekannte ihm auf der Strasse Essen geschenkt hatten – peinlich berührt verschwiegen. Claudia wiederum hatte keinen Hehl aus ihrem Drang nach Ablenkung gemacht.

Was hatten sie, Benjamin und Darian miteinander zu tun? Marin bezweifelte, dass sich die Jungs von früher kannten, denn in diesem Fall hätte er Benjamin ebenfalls gekannt. Darian und er hatten sich im Windelalter beim Sport kennengelernt und waren seither durch dick und dünn gegangen.

Mit einem tiefen Räuspern drängte er die keimende Wehmut zurück und schaute auf den Bildschirm seines Laptops. Er hatte das ganze Internet nach Benjamin durchforstet, ohne fündig zu werden. Benjamin war ein Phantom. Wieso warnte Darian ihn vor diesem Fremden? Aus Eifersucht? Es hiess, Darian würde Ellen keinem anderen gönnen. Diverse Prügeleien und seine aufbrausende Reaktion gegenüber Marin sprachen dafür.

Früher – vor Ellen, Chris und Lara – war Darian einer dieser wilden »Huckleberry Finn«-Typen gewesen, die sich an der Grenze zum Illegalen am wohlsten fühlten. Das verdankte er vermutlich seinem Vater Enzo, einem furchteinflössenden, ruchlosen Menschen, der mittlerweile im Gefängnis sass. Enzo hatte seinen Sohn zu einem Kriminellen erziehen wollen. Darian hatte sich dagegen gewehrt. Zumindest hatte Marin das geglaubt.

Er tastete nach der Abschürfung auf seiner Wange. Ein dumpfes Gefühl sagte ihm, dass das erst der Anfang war.

 

VIER

Am Montag erwachte Ben mit dem Gefühl, einen ausgewachsenen Kater zu haben, dabei hatte er am Vorabend keinen Tropfen getrunken. Ein dreistündiger »Gossip Girl«-Marathon kam der Sache allerdings ziemlich nah. Claudia war süchtig nach der Serie, obwohl die letzte Klappe längst gefallen und sie selber jenseits des Zielgruppenalters war. Warum sich eine Vierzigjährige für eine Teeniesendung interessierte, ging Ben nicht in den Kopf. Wenigstens besass die Serie einen ansehnlichen Cast. Die blonde Serena hatte es ihm am meisten angetan, wohl weil sie ihn an Ellen erinnerte. Vielleicht gründete sein schwerer Kopf also auch auf einer Form von Liebestrunkenheit. Denn die schöne Ellen aus dem Café Tröimli ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Seine Wangen erhitzten sich beim blossen Gedanken an sie. Er fragte sich, ob sie jeden Tag im Café arbeitete oder ob sie noch zur Schule ging. Er wollte alles darüber erfahren, jetzt und sofort. Voller Tatendrang schwang er sich aus dem Bett.

In der Küche hatte Claudia ihm Brot, Honig und einen Apfel bereitgelegt. Er warf eine Kapsel in die Kaffeemaschine und wartete, während die Tasse sich mit unerträglicher Langsamkeit füllte. Sein Blick wanderte aus dem Fenster über der Spüle. Der Nebel lag schwer auf den Baumspitzen des angrenzenden Waldstücks. Laut Claudia war das für diese Jahreszeit normal: »Fahr hundertfünfzig Meter in die Höhe, und dir brennt die Sonne wieder ins Gesicht.« Ben interessierte sich nicht für Höhenmeter. Als Stadtkind aus München war er die Nähe zu Hügeln und Bergen zwar gewohnt, trotzdem bevorzugte er flaches Gelände wie den Englischen Garten. Mit Claudias neuem Wohnort konnte er daher wenig anfangen. Jenseits des Sees war alles hügelig, und kaum eine Strasse verlief geradeaus. Wer mit dem Fahrrad unterwegs war, musste Beine wie ein Bodybuilder haben. Theoretisch gesehen ein gutes Training ... Zermürbt schaute er an sich herunter. Willy Knödel, sein Fussballtrainer, konnte sich keine Namen merken, weshalb er frei erfundene Spitznamen verwendete. Ben war Storchenbein.

Der Kaffee war fertig.

Er warf zwei Würfelzucker hinein, rührte um und führte die Tasse zum Mund. Noch einmal dachte er über die Storchenbeine und die steilen Strassen nach. Einen Moment später hatte er einen Entschluss gefasst. Er trank den Kaffee aus und verschwand im Badezimmer, wo er sich für seine Pläne bereit machte: erquickende Dusche, reichlich Deo und die volle Ladung Haargel. Sollte Willy Knödel doch Stielaugen machen, wenn er Ben das nächste Mal sah: Heute würde Storchenbein seine Waden trainieren.

 

Dass er sich mit seinen Fahrradplänen übernommen hatte, stellte er schneller fest, als ihm lieb war. Er war kaum losgefahren, da löste sich seine kunstvolle Haartolle bereits in Schweiss auf, und seine Beine brannten, als absolvierte er gerade die Tour de Suisse. Vielleicht lag das auch an Claudias Fahrrad, ein Fixie ohne Gangschaltung. Aufgeben lag jedoch nicht drin. Die erste Stunde nach dem Aufstehen war zu langweilig gewesen, als dass Ben in diesen Zustand zurückkehren wollte. Um eine geringfügige Anpassung seines Tagesziels kam er aber nicht herum: Ursprünglich hatte er zu Claudias umschwärmtem Hüttnersee gewollt. Jetzt entschied er sich zu einem Downhill-Abenteuer zum See. Dort wollte er sich in das Café Tröimli setzen und Ellens Auftauchen erbeten. Vielleicht gab Besitzer Steven ihm sogar einen Kaffee aus. Claudia schien sich jedenfalls bestens mit ihm zu verstehen. Steven Schmid erschien ihm wie ein Mann, dessen Lachen mehr Fröhlichkeit verbreitete als der erste Sonnentag nach einer Regenperiode. Bestimmt war Ellen genauso unbeschwert und fröhlich wie ihr Vater. Bens Wangen glühten vor Vorfreude.

Das Wärmegefühl verpuffte etwas, als er hügelabwärts Geschwindigkeit aufnahm. Der Nebel schien die Welt unter sich erdrücken zu wollen, und die Kälte schlug ihm wie eine Wand entgegen, die er ständig neu durchbrechen musste. Dafür trocknete sein durchschwitztes Haar und fiel in die angedachte Tolle zurück. Da es keine Fahrradwege gab, fuhr Ben im Strassenverkehr mit. Dann und wann überholte ihn ein Auto. Der Fahrtwind pfiff ihm laut um die Ohren. Nach einer Weile vernahm er das Rattern eines kaputten Auspuffs hinter sich. Es war ein absolut nerventötendes Geräusch. Er wollte einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, geriet dabei aber um ein Haar auf die linke Fahrspur. Ein entgegenkommendes Auto hupte. Zähneknirschend gab er seine Neugierde zugunsten seines Lebens auf. Der kaputte Auspuff ratterte weiter.

Er erreichte zwei Kreisverkehre. Dort begrüsste ihn ein neuerliches Hupkonzert, weil er einem Autofahrer den Vortritt abschnitt. Vor dem zweiten Kreisverkehr fuhr er an den Rand und fasste sich an das rasende Herz.

Das waren mit Abstand die aufregendsten Minuten seines bisherigen Lebens gewesen.

Der kaputte Auspuff schoss an ihm vorbei. Er gehörte einem Mofa, das eine riesige Abgaswolke hinter sich herzog. Ben vermutete eine defekte Zylinderkopfdichtung und widerstand der Versuchung, dem Lenker den Vogel zu zeigen. Dieser nahm die zweite Ausfahrt des Kreisverkehrs und bremste da unvermittelt ab. Er trug eine Jeansjacke und eine schwarze Stoffhose, die er trotz der eisigen Temperaturen bis zu den Knöcheln hochgekrempelt hatte. Zweifelsfrei war er grösser und bedeutend breiter als Ben. Ben zuckte entsprechend zusammen, als der Fremde den Kopf in seine Richtung drehte. Das Visier des Helms war verspiegelt. Ben war sich fast sicher, von dem darunterliegenden Blick bis auf die Knochen durchleuchtet zu werden. Er hatte eigentlich dieselbe Ausfahrt wie der Fremde nehmen wollen, jetzt entschied er sich für die daneben. Auch sie führte den Hügel hinab zum See.

Er hatte den Weg zur dritten Ausfahrt kaum in Angriff genommen, da heulte der Motor des anderen wieder auf. In seinem Nacken kringelten sich die Härchen. Spätestens jetzt war er sich sicher, verfolgt zu werden.

Er trat in die Pedale, als hinge sein Leben davon ab. Der Strassenverlauf war steil, bald raste er mit an die sechzig Sachen den Hügel hinab. Trotzdem ging er kein einziges Mal auf die Bremse. Claudias Fixie schlidderte unkontrolliert über den Asphalt. Er klammerte sich panisch fest. Hinter ihm ratterte und knatterte der Auspuff. Der unbekannte Mofafahrer hatte vor dem Kreisverkehr wenden müssen, was Ben einen Vorsprung verschaffte, der nun aber stetig kleiner wurde. Ben ahnte, dass er seinen Verfolger nicht mehr lange auf Distanz halten konnte. Er biss sich so verzweifelt auf die Unterlippe, dass sie aufplatzte.

Einige Meter nach dem Kreisverkehr tauchte eine Baumgruppe auf, dahinter befand sich ein leerer Parkplatz. Ein schmaler Weg führte von dort zu einer bewaldeten Kuppe hoch. Bens Herz schlug Klänge der Hoffnung an: Das musste seine Rettung sein. Er riss das Fahrrad herum und steuerte in den Parkplatz hinein. Die Einfahrt verpasste er um einige Zentimeter. Das Fahrrad blieb am Randstein hängen und warf ihn ab. In hohem Bogen landete er auf dem Kies. Der feurige Schmerz in seinen Gelenken war betäubend. Stöhnend rappelte er sich auf und rannte weiter. Sein Atem ging schwer, doch das näher kommende Auspuffgeräusch trieb ihn den Hügel hinauf. Als er dessen Spitze erreichte, stellte er mit Schrecken fest, wo er gelandet war.

Er stand in einer Burgruine.

Der ratternde Auspuff verstummte: Der Mofafahrer hatte den Parkplatz erreicht. Ben blieb keine Zeit für Schock. In einer Turmmauer fand er einen Spalt, der genug gross war, um ihm Schutz zu bieten. Ohne lange zu fackeln, robbte er hinein. Spinnenweben verfingen sich in seinen Haaren, doch er traute sich nicht mehr, sich zu bewegen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.

Der Verfolger kündigte sich mit einem Rascheln an. Wenige Meter neben Ben stieg er in die Höhe. Ben schreckte zurück, ohne das Gesicht des Fremden zu sehen.

Nach wenigen Minuten kehrte der Mofafahrer zurück. Immer wieder blieb er stehen, schaute sich um, kratzte sich das wirre, feuchte Haar. Seine Schritte waren schwer, das heruntergefallene Geäst knirschte wie Feuerholz unter seinem Gewicht. Ben zitterte, als gäbe es kein Morgen.

Nach einer Weile, die ihm wie die Unendlichkeit vorkam, gab der Mofafahrer endlich auf. Fünf Minuten später heulte der Motor. Ben kroch aus dem Mauerspalt und kletterte den Turm empor, um einen Blick auf den Parkplatz zu erhaschen. Dieser erstreckte sich rund achtzig Meter unter ihm. Der Mofafahrer drehte eine letzte Runde um Claudias Fahrrad, bevor er hügelaufwärts davonfuhr. Ben hätte sich am liebsten wieder im Mauerspalt verkrochen und das Geschehene aus seinem Kopf verbannt. Aber das war nicht so einfach, denn er hatte sich den denkbar schlechtesten Ort für sein Versteckspiel ausgesucht.

Er stand in der Burgruine Alt-Wädenswil. Dort, wo sein Onkel vor einem Jahr tödlich verunfallt war.

 

***

 

Marin fuhr sich ertappt über die Wangen. Diese waren noch röter als üblich. Die Abschürfung hätte eigentlich kaum auffallen sollen, aber Ellen entging selten etwas. Sie durchlöcherte ihren besten Freund so eindringlich, dass er sich duckte. Vor wenigen Minuten hatte sie ihn gefragt, woher die roten Striemen auf seiner Wange kamen. Die Antwort war er ihr immer noch schuldig.

Es war die letzte Woche der Herbstferien, und Ellen sass mit Marin, Chris und Lara im Café Tröimli, um sich mit Kaffee und Croissants auf den Tag einzustimmen. Von allen schien Marin die Stärkung am nötigsten zu haben.

»Nun sag schon, woher die Abschürfung kommt«, bohrte Ellen unnachgiebig nach.

»Das sagte ich doch gestern am See bereits: Ich bin gestolpert und gegen eine Mauer geknallt«, knirschte er, nahm einen Schluck von seinem Latte macchiato und zog eine Grimasse. »Das Ding hat zu wenig Zucker. Ich hole mir Nachschub.« Sein Stuhl kippte nach hinten, als er aufstand. Chris fing ihn auf, Marin bemerkte es nicht. Beim Davongehen raufte er sich sein dunkelblondes Haarchaos.

Die anderen starrten ihm hinterher. Chris runzelte die Stirn. »Also, entweder hat er Läuse oder ihn beschäftigt etwas – und zwar sehr. Denkt ihr, es hat mit Darian zu tun?«

Ellen bekam Gänsehaut. »Hast du ihn gesehen?«

»Nein. Aber Marin ist kein Tollpatsch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er gestern über seine eigenen Füsse stolperte und gegen die Mauer klatschte. Dass er sich so eine dämliche Lüge ausdenkt, kann doch nur bedeuten, dass Darian dahintersteckt.«

Ellen und Lara tauschten einen flüchtigen Blick aus. Sie wussten, dass Chris‘ Theorie Sinn ergab. Marin glaubte immer noch, sie vor Darian beschützen zu müssen, weil er ihn als Erster gekannt und in die Clique gebracht hatte. Dabei war das bald fünf Jahre her, und alle hatten Darian damals in ihr Herz geschlossen.

Die Freunde widmeten sich ertappt ihren Getränken, als Marin zurückkehrte. Lara schlürfte den Schaum von ihrer Ovomaltine. Für kurze Zeit war es das einzige Geräusch am Tisch.

Marin verengte die Augen. »Okay, was ist los?«

Das Schlürfen verstummte. »Sag du es uns«, verlangte Lara.

Marin setzte sich auf seinen Stuhl, dessen LEDs sofort zu blinken begannen. Dasselbe geschah mit seinen Wangen: Sie glühten förmlich. Mit zittrigen Fingern riss er den Zuckerbeutel auf. »Mme Bolard sagt, dass ich mich in Französisch verbessern muss, wenn ich den Abschluss schaffen will.« Ein Teil des Zuckers landete auf dem Tisch statt im Glas. Ellen beobachtete verstohlen, wie er die verschütteten Kristalle unter den Tisch kehrte. Das schien er neuerdings mit allem zu machen.

Sie seufzte. »Ich könnte dir meine Geheimschrift für deine Spicker beibringen.«

»Deine Geheimschrift mit den Blümchen, Herzchen und Mäuschen?« Er hob eine Braue. »Danke, aber da verzichte ich lieber.«

»Zeichnungen erwecken keinen Verdacht«, verteidigte sie sich beleidigt genug, dass er lachte.

»Bei dir vielleicht! Aber stell dir Bolards Gesicht vor, wenn sie bei mir einen Zettel voller Glücksbärchis findet.« Seine plötzliche Entspannung wirkte wie ein Beruhigungstee auf die anderen. Vielleicht ist er doch nur gegen eine Mauer gestolpert, dachte Ellen hoffnungsvoll und fuhr herum, als die »Star Wars«-Fanfare erklang und einen neuen Gast ankündigte. Diesen erkannte sie sofort wieder.

»Ich frage mich jedes Mal, ob dein Dad eigentlich für diese schändlich laute Zweckentfremdung bezahlen muss«, maulte Chris, und Lara kicherte.

»Ich bezweifle, dass George Lucas vorbeikommt und sich beschwert. Oder ist er das?« Sie zeigte auf den Jungen beim Eingang, dessen Haare aussahen, als bestünden sie zu hundert Prozent aus schwarzer Gelatine.

»Das ist Ben. Er ist Claudia Karbachers Neffe«, sagte Ellen.

»Claudias Neffe?« Marin, der mit dem Rücken zum Eingang sass, reckte so abrupt den Kopf, dass ein Wirbel knackte. Lara entfuhr ein Zirpen, das sie nur dann anbrachte, wenn ihr ein Junge auf absolut unverständliche Weise gefiel. Spätestens jetzt landete Marins Laune wieder tief im Keller.

Ben stellte sich in die Schlange vor der Kasse. Er hatte sie nicht gesehen. Ellen stand auf und klopfte ihm auf die Schulter. »Hi, Ben!«

Wie von Ratten gebissen fuhr er herum. Einen Moment lang starrte er sie wie eine göttliche Erscheinung an. Im nächsten rang er um Würde und Luft. Er räusperte sich kehlig. »Äh, hallo, Ellen – Ellen ist doch richtig, oder? Du hast mich derbe erschreckt!«

Sie grinste. »Ich hab‘s bemerkt. Bist du allein? Möchtest du dich zu uns setzen?« Sie zeigte auf ihren Tisch. Marin, Chris und Lara starrten ihnen neugierig entgegen. Nicht wenige hätten sich von so viel Aufmerksamkeit einschüchtern lassen, erst recht, wenn sie von einem grossgewachsenen Sportlertypen und einem Mädchen mit Hungerhaken-Modelmassen kam. Bens eigene Augen hingen jedoch nur an Ellen – und auf einen Schlag bereute sie es, ihn eingeladen zu haben.

Sie kannte diesen Blick. Auch Darian hatte sie früher so angeschaut.

Für ein Umdenken war es allerdings zu spät. Widerwillig brachte sie Ben zu ihren Freunden. Sie tippte deren Köpfe der Reihe nach ab. »Das sind Marin, Chris und Lara. Leute, das ist Ben. Er ist bei seiner Tante in den Ferien.«

»Sup?« Ben liess das P wie eine Pringles-Packung poppen.

»Sprichst du auch Deutsch?«, fragte Chris und kassierte einen Schienbeintritt von Lara.

Ellens Freundin stand auf und reichte Ben die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen, Ben. Und bitte hör nicht auf Chris. Er ist in seiner Entwicklung irgendwo zwischen Fötus und Kleinkind stecken geblieben. Du wirst es merken, sobald er versucht, ein Croissant zu essen.«

Ellen organisierte einen fünften Stuhl und stellte ihn in die Lücke zwischen Marin und Lara. »Möchtest du etwas essen oder trinken?«, fragte sie Ben.

»Einen Milchkaffee«, antwortete er mit einem ergebenen Lächeln. Lara war verzückt, derweil Marin den Kopf so tief zur Seite neigte, dass sein Nacken von Neuem knackte.

Ellen lief knallrot an. Im Eilzugtempo flüchtete sie hinter den Tresen. Dort füllte sie eine Kanne mit Milch und hielt sie unter die Dampfdüse. Ihre Finger waren eiskalt geworden. Sie wusste, warum Lara so gestrahlt hatte ...

Darian war der erste und letzte Junge in Ellens Leben gewesen – gezwungenermassen. Obwohl sie längst getrennt waren, bewachte er sie immer noch wie ein zähnefletschender Hund. Mehrere Jungs hatten bereits mit seiner Faust Bekanntschaft gemacht, zuletzt Sportprolet Victor, der Ellens Nummer haben wollte, und der unscheinbare Greg aus Ellens Klasse. Damit war Ellen zur »No-go«-Zone für das andere Geschlecht geworden. Niemand traute sich noch an sie heran. Ellen hätte Darian dafür gern den Kopf püriert. Leider lag dieser einschüchternde zwanzig Zentimeter über ihrem eigenen und auf einem Körper, dem sie ebenso wenig gewachsen war wie die Jungs, die sich für sie interessierten. Nicht einmal Marin wollte sich mit Darian anlegen, obwohl er es für seine Freunde immer wieder darauf ankommen liess.

Und jetzt kam Ben um die Ecke. Dass er in sie vernarrt war, hätte sie selbst ohne Brille gesehen. Es schmeichelte ihr, versetzte sie aber auch in Sorge. Ben sah nicht aus, als wäre er Darian gewachsen. Sofern Darian überhaupt aus Eifersucht zuschlug ... Ellen wollte das nach wie vor nicht wahrhaben. In Anbetracht der Tatsachen war das verdammt naiv.

Ein tiefbrummiges Lachen riss sie aus den Gedanken. »Willst du Milchschaum oder Wolken machen?« Jerry, Stevens Bart- und Hornbrille tragende Teilzeitkraft, drückte sie sanft beiseite. »Einen Milchkaffee, ja?« Sie nickte

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Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 30.11.2017
ISBN: 978-3-7438-4400-1

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Rahel Hefti wurde 1988 geboren und wuchs in Wilen im Kanton Schwyz auf. Sie studierte Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie Filmwissenschaften an der Universität Zürich. 2013 schloss sie mit dem Master of Arts in Social Sciences UZH ab. Ihre Abschlussarbeit schrieb sie über die persuasive Wirkung von Product Placements in der modernen Belletristik. Hauptberuflich arbeitet Rahel Hefti im Marketing eines Schweizer Grossunternehmens. Daneben schreibt und bloggt sie für die Portale bluewin.ch und gesund-digital.com. Bisherige Veröffentlichungen 2012 - DAS VERLORENE DORF (inkl. Soundtrack), Young Adult, Verlag Literaturwerkstatt 2013 - VERMISST, Jugendkrimi, Sommerliteraturausgabe Love & Crime, Strassenmagazin Surprise 2015 - ALYSSA ILLUSION, Jugendroman, Verlag Literaturwerkstatt 2016 - ZÜRICH FLIEGT, Kriminalroman, Emons Verlag 2017 - RETTE MICH NICHT, Young Adult / Jugendroman, Verlag Literaturwerkstatt Internet / Social Media rahelhefti.ch instagram.com/cage

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